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  Summary O Der Marxismus und der klassische Sozialismus | für Eilige
 
 
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  War der Marxismus nur ein Flickwerk aus den Irrtümern seiner Zeit?
  Ein Vergleich mit dem damals prominentesten Liberalen John St. Mill
 
 
In der Tiefe des abendländischen Wissens hat der Marxismus keinen wirklichen Einschnitt erbracht: Er hat sich ohne Schwierigkeiten als eine volle, ruhige, komfortable ... Figur in eine erkenntnistheoretische Disposition gestellt, die ihn günstig aufgenommen hat (da gerade sie es war, die ihm Platz einräumte), und er hatte umgekehrt weder das Ziel, sie zu verwirren, noch vor allem die Kraft, sie zu verändern. Der Marxismus ruht im Denken des 19. Jahrhunderts wie ein Fisch im Wasser. Das heißt: überall sonst hört er auf zu atmen
 
  Bekannter französischer Philosoph, Psychologe und Soziologe  Michel Foucault        

Das 19. Jahrhundert liegt schon längst hinter uns. Man hatte also genug Zeit darüber nachzudenken, was uns dieses Jahrhundert gebracht hat und was nicht. Knapp zusammengefasst kann man Folgendes sagen: Dieses Jahrhundert war das erste, in dem der Kapitalismus triumphierte - das Jahrhundert des Britischen Imperiums (The British Empire). Die Naturwissenschaften, vor allem die technischen, haben große Fortschritte gemacht und praktische Ergebnisse gebracht, die man sich in der ganzen Geschichte davor nicht im Traum hätte vorstellen können. Den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften ist dagegen nichts von Bedeutung eingefallen, wie sich das Leben der Menschen humaner und besser gestalten ließe. Auch die prominentesten Denker dieser Zeit haben entweder einen Haufen von Worthülsen und Seifenblasen produziert, oder sie haben sich als plumpe Ideologen bei den Herrschenden geistig prostituiert.

Im Begriffsschema des Erkenntnistheoretikers Thomas Kuhn lässt sich dieses Jahrhundert bei den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften als ein Jahrhundert der Normalwissenschaften bezeichnen. Was unter der Normalwissenschaft zu verstehen ist, haben w schon gesagt: wie fassen es nur kurz zusammen, um daran anzuknüpfen:

Aus den historischen Untersuchungen hat sich ergeben, dass der wissenschaftliche Fortschritt keine gleichmäßig voranschreitende Entwicklung ist. Die bahnbrechenden Neuerungen kommen unerwartet, nach einer längeren Phase, in der nichts Aufregendes passiert. In einer relativ kurzen „revolutionären“ Phase der wissenschaftlichen Entwicklung werden völlig neue Hypothesen, Prinzipien und Methoden entworfen, die zu neuen Grundlagen der betreffenden Wissenschaft werden. In der Zeit danach versuchen die Wissenschaftler, diese neuen Hypothesen, Prinzipien und Methoden anzuwenden. Diese Beschäftigung kann man als „das Lösen von Rätseln“ betrachten, in Analogie zur Lösung der Puzzle- oder Schachprobleme, bei denen die Grundregeln fest vorgegeben sind. Weil diese Phase der wissenschaftlichen Entwicklung deutlich länger dauert als die vorangegangene revolutionäre, nennt Kuhn sie die Phase der „Normalwissenschaft“. Zu den bekanntesten wissenschaftlichen Revolutionen gehören die in der Physik: Die erste hat im 17. Jahrhundert Newton durch seine Bewegungsgesetze, die nächste am Anfang des 20. Jahrhunderts Einstein mit seiner Relativitätstheorie angestoßen. Aber auch in anderen Naturwissenschaften lassen sich solche Revolutionen deutlich erkennen. Die Wissenschaften, bei denen sich solche Revolutionen nicht feststellen lassen, sind noch unterentwickelte oder einfach erfolglose Wissenschaften. Die einzige erfolgreiche Revolution in den Geisteswissenschaften seit (zumindest) zwei Tausend Jahren war die von Anfang der Moderne, welche vor allem den Lehren von Spinoza, Hobbes, Locke, Montesquieu, Rousseau, Hume und Smith zu verdanken ist. Uns geht es jetzt darum, zu zeigen, dass auch der Marxismus nur eine „Normalwissenschaft“ ist, also keine neue revolutionäre Theorie oder Lehre, als die er sich selbst lobt und feiert.

Marx hat nicht nur aus dem Material gebaut, das er vorgefunden hat, sondern er hat auch die vorhandenen „Rezepte“ benutzt. Er segelte mitten im Strom der Gedanken und Auffassungen des 19. Jahrhunderts. Ab und zu rückte er zwar mit dem Steuerruder hin und her, aber die Strömung, die er nie verlassen hat, trug ihn in ihre eigene Richtung weiter. Es ist ihm nicht einmal gelungen, sich davon zu befreien, was er bei seinen Zeitgenossen und Kollegen gnadenlos kritisierte, ja sogar verhöhne: von der Neigung, analytisch zu vereinfachen, zu einem einzigen Zweck, die vorherrschenden Ideen überzeugender und populärer zu machen, und dies bei Bedarf auf Kosten von Tatsachen. Nebenbei gesagt, gegen diese unsinnige Gewohnheit, die Tatsachen der Theorie zuliebe zu opfern, stellte sich in der ökonomischen Theorie erst viel später Keynes - aber das war schon das 20. Jahrhundert.

Der Verfall des sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Denkens des 19. Jahrhunderts lässt sich insbesondere an der Flucht in die Abstraktionen am deutlichsten erkennen, aus denen allmählich Dogmen geworden sind, die so viel Unheil in dem Jahrhundert danach angerichtet haben. Diese Entleerung und Dogmatisierung der Begriffe betrifft sogar die wichtigsten Begriffe der damaligen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften: Freiheit und Wirtschaft. Aus der Freiheit würde eine individuelle Freiheit und aus der Wirtschaft eine automatisch und perfekt funktionierte Maschine.

Wie das 19. Jahrhundert zur abstrakten bzw. individuellen Freiheit gelangt ist

Im Manifest spottete Marx höhnisch über die deutschen Denker und Philosophen:

„Die ausschließliche Arbeit der deutschen Literaten bestand darin, die neuen französischen Ideen mit ihrem alten philosophischen Gewissen in Einklang zu setzen oder vielmehr von ihrem philosophischen Standpunkte aus die französischen Ideen sich anzueignen. ... Sie schrieben ihren philosophischen Unsinn hinter das französische Original. Z.B. hinter die französische Kritik der Geldverhältnisse schrieben sie „Entäußerung des menschlichen Wesens“, hinter die französische Kritik des Bourgeoisstaates schrieben sie „Aufhebung der Herrschaft des abstrakten Allgemeinen“ usw.“

Und Marx hat dabei zweifellos Recht. So weit so gut. Er wirft aber den deutschen „Literaten“ nie vor, dass sie den Begriff Freiheit, der bis dahin der deutschen Philosophie fast unbekannt war, auf einmal auf ihre Fahne geschrieben haben, ohne dies zu begründen und zu rechtfertigen. Ihn hat ebenfalls nicht im Geringsten gestört, dass es den deutschen Philosophen und Denkern nie in den Sinn gekommen ist, über die Freiheit etwas Bestimmtes und Konkretes zu sagen. Wir können schon ahnen, warum. Marx selber hat auch die Flagge der Freiheit hochgehalten und sein ganzes Leben lang nichts Bestimmtes und Konkretes über sie gesagt. Er stellte es immer so dar, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, dass die Geschichte das Ziel hat, ein Reich der Freiheit einzurichten.

So lange Marx seine Dispute in Deutschland ausgetragen hat, konnte er sich sicher sein, dass ihn keiner bedrängen würde, über die Freiheit etwas Bestimmtes und Sinnvolles zu sagen. Er konnte sich völlig auf die deutsche philosophische Tradition verlassen, nach der es sich nicht gehört, die abstrakten inhaltslosen Begriffe zu hinterfragen. Man hält solche Begriffe, die jeder mit Ehrfurcht nachplappert, aber nie erklärt, für unantastbar, wie damals Platon seine „Ideen“. In England, das zu seiner zweiten Heimat wurde, galt dies aber nicht. Dort war der Prozess der Entleerung und der Dogmatisierung, genauer gesagt der Ideologisierung der Idee der Freiheit erst am Anfang. Dass man sich in England damit so schwer tat, hat vor allem mit der dort herrschenden Tradition zu tun. Bekanntlich begann dort die Moderne, ganz anders als in Deutschland, mit einem hohen Respekt vor Tatsachen, nach denen sich die Begriffe zu richten hatten. Dies galt gleichermaßen auch für die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Sie fühlten sich schon immer den Naturwissenschaften verbunden, in Deutschland dagegen der Kunst und der Religion. Der Ausdruck das Land der Dichter und Denker sagt eigentlich schon alles - sogar die Reihenfolge stimmt.

Wir stellen also fest, dass die abstrakte Freiheit Made in Germany, so wie sie Marx in seiner philosophischen Ausrüstung nach England gebracht hat, vorerst nicht zu dem dortigen intellektuellen Klima passte. Die Freiheit, so wie man sie dort ursprünglich kannte und diskutierte, war bekanntlich die natürliche Freiheit der Frühliberalen. Diese Freiheit war kein abstraktes Ziel und schon gar nicht der letzte Zweck der Geschichte, sondern ein Mittel für etwas Naheliegendes und Bestimmtes, im Rahmen einer allgemeinen Wertvorstellung. Darüber werden wir noch ausführlich sprechen. Jetzt, wo es uns nur darum geht, die verhängnisvolle Metamorphose der Idee der Freiheit im 19. Jahrhundert zu verdeutlichen, sollten eine paar Bemerkungen reichen:

Die Frühliberalen haben ihre revolutionäre Vorstellung von einer neuen Gesellschaft als natürliche Ordnung bezeichnet. Sie haben richtig gemerkt, dass es in der Natur keine Konzentration der Macht und keine strenge Hierarchien gibt, wie in den menschlichen Gesellschaften, und dass trotzdem alles einwandfrei funktioniert. So etwas müsste auch bei den Menschen möglich sein, meinten sie. Deshalb bezeichnet der Vater der Marktwirtschaft, Adam Smith, seine Vorstellungen als ein „einfaches System der natürlichen Freiheit“. In dem System der natürlichen Freiheit sollte jeder die Möglichkeit bekommen, sich als Mensch immer weiter zu entwickeln (human improvement) und die eigenen Bedürfnisse immer besser zu befriedigen. Die Bedürfnisse, an die Smith gedacht hat, waren keine abstrakten und metaphysischen Bedürfnisse, wie etwa bei Marx. Es waren konkrete Bedürfnisse, die der Mensch als Angehöriger einer biologischen Art befriedigen muss, aber auch geistige und kulturelle Bedürfnisse, die alleine dem Menschen eigen sind. Gerade weil die Frühliberalen immer konkret gedacht haben, war für es sie selbstverständlich, dass der Mensch dafür bestimmte materielle Mittel benötigt. Das ist der wahre Grund, warum es dem Moralphilosophen Adam Smith irgendwann eingefallen ist, sich ernsthaft mit der Ökonomie zu beschäftigen. Er sprach zwar nicht vom Wohlstand für alle, das wäre für die damalige Zeit noch verfrüht gewesen, aber so etwa hat er es gemeint. Das war die Freiheit die er im Sinn hatte.

Eine kurze, aber dennoch ziemlich vollständige Übersicht darüber, was Smith und die anderen Frühliberalen mit der Freiheit gemeint haben, bietet die berühmte Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen (die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte), welche die Ideen der großen Französischen Revolution (1789) zum Ausdruck brachte. Wir vergleichen jetzt die dort gestellten Ansprüche an die Freiheit mit der Auffassung der Freiheit des prominentesten Liberalen des 19. Jahrhunderts, John Stuart Mill (1806-1873), um herauszufinden, was von der ursprünglichen natürlichen Freiheit der Liberalen, ein Jahrhundert nach Adam Smith und der Französischen Revolution übrig geblieben ist. Seine Vorstellungen über die Freiheit hat Mill in einem damals sehr berühmten Essay „Über die Freiheit“ niedergelegt. Wir werden uns jetzt drei der wichtigsten Botschaften dieses Essays näher anschauen.

     a) Die Freiheit als freie Äußerung von Meinungen und Gedanken

Mills Essay „On Liberty“ ist zweifellos eine hervorragende Errungenschaft. Man kann ihn immer wieder mit einem größten Vergnügen lesen - er ist ein wahres Meisterwerk sowohl in argumentativer als auch literarischer Hinsicht. Die Freiheit, die Mill am Herzen lag, ist aber vor allem die Gewissens- und Redefreiheit. Es ist ziemlich dieselbe Freiheit, die in den Artikeln 10 und 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte für unabdingbar erklärt wird   

„Niemand soll wegen seiner Anschauungen, selbst religiöser Art, belangt werden, solange deren Äußerung nicht die durch das Gesetz begründete öffentliche Ordnung stört.“
„Die freie Äußerung von Meinungen und Gedanken ist eines der kostbarsten Menschenrechte; jeder Bürger kann also frei reden, schreiben und drucken, vorbehaltlich seiner Verantwortlichkeit für den Missbrauch dieser Freiheit in den durch das Gesetz bestimmten Fällen.“

Warum ist für Mill gerade diese Freiheit so ungeheuerlich wichtig? Er hat vor allem die Unterdrückung der Freiheit durch die christliche Religion im Sinne, auf die er ständig mahnend mit dem Finger zeigt. Möglicherweise hat er den Untergang der antiken Kultur und Philosophie, die im späten Mittelalter (Renaissance) wieder entdeckt und über alle Maßen bewundert wurde, dem Christentum angelastet. (Dann würde man sich fragen: Wenn die antike Kultur so toll und überlegen war, warum konnte sie untergehen?) Aber wie dem auch sei, es bleibt unbestritten, dass die Kirche eine ideologisch totalitäre Ordnung war, die jedes Denken außerhalb ihres dogmatischen Rahmens rücksichtslos und brutal verfolgte. Man denke an Giordano Bruno der für seine (kopernikanische) Behauptung, die Erde drehe sich um die Sonne und nicht umgekehrt, auf dem Scheiterhaufen endete, Galileo Galilei rettete sich nur, weil er seine Überzeugung leugnete. Sie sind aber nur die prominentesten Opfer dieses groß angelegten Verfolgungswahns im Namen der christlichen Nächstenliebe (!).Wozu das alles überhaupt gut war? Der Kirche hat es kaum genützt, der Gesellschaft hat es nur geschadet. Man kann nämlich nicht im Ernst behaupten, dass diese kirchliche Verfolgung der Andersdenkenden nichts mit der allgemeinen Rückständigkeit des Feudalismus zu tun hätte. Insoweit muss man Mill zustimmen, dass Recht auf freie Äußerung von Meinungen und Gedanken ein hohes Gut ist.

Das eigentliche Argument, mit dem Mill die Freiheit positiv verteidigt, ist dasselbe, mit dem seit Adam Smith die Marktwirtschaft verteidigt wird: die Konkurrenz. Die Freiheit ermögliche und fördere das Angebot von vielen verschiedenen originellen Ideen und die Konkurrenz zwischen ihnen sorge dafür, dass sich die richtigen Ideen durchsetzen.

„Wenn das Urtheil eines Menschen so geartet ist, daß es wahrhaft vertrauenswerth erscheint, wie ist es so geworden? Dadurch, daß er seinen Geist der Beurteilung seiner Meinungen und seines Verhaltens offen erhielt, daß er es sich zum Grundsatz gemacht hat, auf Alles zu hören, was sich gegen ihn sagen ließ, was daran richtig war, zu nutzen, und die irrthümliche Beschaffenheit dessen, was irrig war, sich und gelegentlich Anderen auseinander zu setzen; dadurch, daß er gefühlt hat, ein menschliches Wesen könne die Kenntniß eines Gegenstandes nur dann irgend annähernd zu erschöpfen hoffen, wenn er auf Alles achte, was jede Abstufung der Meinung darüber äußern, und wenn er alle Gesichtspunkte erkunde, von denen sie jede Geistesart betrachten kann. Kein Weiser hat seine Weisheit jemals auf einem anderen Wege gewonnen, und es liegt nicht in der Natur des menschlichen Geistes sie anders zu gewinnen.“

Die Wahrheitssuche ist nach Mill sozusagen ein Wettbewerb der Ideen, wobei die besten Ideen überleben. Ist es aber wirklich so, dass die westlichen Gesellschaften allein deshalb begonnen haben, ökonomisch erfolgreich zu sein, weil sie die Konkurrenz der Ideen zugelassen haben? Die Rückständigkeit des Abendlandes in der Zeit, als die Kirche ihre Ideologie mit allen Mitteln verteidigte, spricht dafür. Das ökonomische Versagen des Kommunismus gibt Mill, zumindest auf den ersten Blick, auch Recht. Aber Vorsicht! Die Naturwissenschaften waren im Kommunismus nicht unterdrückt, im Gegenteil. Sie waren materiell, moralisch und politisch gefordert und gefördert, sie waren die implizite Religion des Kommunismus, die technische Bildung und Ausbildung hatte absoluten Vorrang. Trotzdem haben die Naturwissenschaften keine nennenswerten Fortschritte gemacht. Die freie Äußerung von Meinungen und Gedanken allein bringt also noch keine praktischen Ergebnisse und keinen materiellen Fortschritt. Wenn man sich dieser Tatsache bewusst ist, ist man schon ein bisschen weniger von der (Meinungs-)Freiheit begeistert. Aber dazu kommt noch etwas, wenn man sich Mill noch genauer anschaut. Hatte er überhaupt ein praktischen bzw. ökonomischen Nutzen vor Augen, wenn er sich so bedingungslos für die Freiheit einsetzte? Bei den Frühliberalen war es gewissermaßen so, bei Mill ist man sich gar nicht so sicher. In einer seiner Aussagen, die zu einem der bekanntesten Sprüche von ihm wurde, heißt es nämlich:

„Es ist zu bezweifeln, ob alle bisherigen technischen Erfindungen die Tageslast auch nur eines menschlichen Wesens erleichtert haben.“

Mill habe da völlig Recht, spottete Marx über ihn, nur er hätte noch hinzufügen müssen, dass die Erfindungen die Tageslast derjenigen Menschen nicht erleichtert hätten, die von der eigenen Arbeit lebten, vielen anderen dagegen schon.

Es fällt in der Tat schwer, Mill zu folgen, wenn er meint, dass gerade die technischen Erfindungen der Menschheit kaum etwas gebracht haben sollten. Von welchem wirklichen Nutzen sollte dann die Freiheit bzw. das freie Reden sein? Wenn die Menschen nicht einmal von technischen Erfindungen etwas hätten, was sollte es ihnen bitte schön bringen, wenn sie alles rauslassen dürfen, was ihnen die Spucke auf die Zunge bringt? War Mill so realitätsfremd? Oder war er ein Zyniker? Vielleicht, aber er war vor allem etwas anderes, ein gut situierter Intellektueller. Und er hat seine eigene Lage so verinnerlicht, dass es ihm als selbstverständlich vorkam, die intellektuellen Freiheiten über alles andere zu stellen. Deshalb nahm er nicht richtig wahr, was er in den Schriften seiner liberalen Vorgänger noch über Freiheiten nachlesen konnte. Aber nicht alleine dort. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte spricht z.B. auch von dem „Recht auf Sicherheit und Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung“ (Artikel 2). Zu dem „Recht auf Sicherheit“ könnte etwa ein garantierter Arbeitsplatz und Schutz vor der Willkür des Arbeitgebers gehören. Mill will aber nichts davon wissen. Von dem „Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung“ erst recht nicht.

     b) Die Vernachlässigung der objektiven Voraussetzungen für die Ausübung der Freiheit

Es ist schon recht erstaunlich, mit welch erschreckender Einseitigkeit Mill mit dem Begriff Freiheit umgeht. Aber nicht nur das alleine ist bei ihm ideologisch anstößig und verdächtig. Er verliert nämlich keinen Gedanken darüber, wie die Freiheit, die er selbst am meisten schätzt, möglich ist - was praktisch und konkret notwendig ist, damit sich ein Mensch an der Konkurrenz der Ideen überhaupt beteiligen kann. Ist ein formal freier Bürger, der sich zur Verbreitung der eigenen Wahrheit einen Auftritt in Medien kauft oder sogar im Besitz des Mediums ist, genauso (meinungs-)frei wie ein anderer Bürger, der im öffentlichen Park oder am Stammtisch seinen Ärger und Frust rauslassen kann? Oder ist es unwichtig, wenn jemand Geld für die sogenannten „unabhängigen“ Institute und Denkfabriken zu verschenken hat, wo korrupte „Experten“ und „Wissenschaftler“ seine persönliche „Wahrheit“ unterstützen und formulieren, und der andere dieses „Kleingeld“ nicht hat? Auch hier kann man auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte hinweisen. Dort wurde sehr wohl an die objektiven Bedingungen bzw. Hindernisse der Ausübung des Rechts auf Freiheit gedacht. Schon im ersten Artikel steht nämlich:

„Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Soziale Unterschiede dürfen nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.“

Abschließend - auch wenn es nicht von allergrößter Bedeutung sein müsste - ist es vielleicht nicht uninteressant zu erwähnen, wie Mill persönlich mit den Prinzipien umgeht, auf die er die anderen einschwört. Mit viel Ruhm hat er sich da nicht bekleckert: Er war der berühmte Weintrinker und Wasserprediger. Wir verdeutlichen es an seinem Verhältnis zu Marx, der einen Katzensprung entfernt lebte. Dieser hat des Öfteren auf Mill Bezug genommen, sich mit seinen Auffassungen auseinandergesetzt, seine Argumente kritisiert, ja sie mit Witz und Hohn niedergemacht - nicht immer ohne Erfolg. Mill hat aber kein echtes Bedürfnis verspürt, den eigenen „Geist der Beurteilung offen zu halten“ und sich mit Marx „gelegentlich auseinander zu setzen“, also auch die „Gesichtspunkte zu erkunden, von denen die anderen jede Geistesart betrachten können“. Er hat es einfach vorgezogen, so zu tun, als ob es Marx nicht gäbe. Braucht man dazu noch etwas hinzuzufügen?

     c) Der schleichende übergang vom Egalitarismus zum „Elitismus“ bzw. Sozialdarwinismus

Es ist bekannt, dass Mill keine übliche Kindheit und Jugend hatte, weil sein Vater aus ihm einen universellen und absoluten Intellektuellen machen wollte- sozusagen eine lebendige Enzyklopädie oder gar eine richtige universelle Bibliothek. Heute würde man wohl sagen, Mill sollte so etwas wie ein lebendiges Google werden. Dank seinem Vater wurde Mill zu einem der seltenen Zeitgenossen, der sich in Bezug auf Bildung und Kenntnisse mit Marx messen konnten. Deshalb verwundert es nicht, dass Mill unter der Freiheit die Freiheit der Gelehrten und Intellektuellen meinte. Der Zweck des freien Austausches der Meinungen unter den ausbildungswilligen Menschen - zu denen er selber gehörte - sollte dann darin bestehen, es ihnen zu ermöglichen, sich geistig immer weiter zu entwickeln. Zugespitzt gesagt, die Freiheit sollte dem geistigen Konsum der (Bildungs-)Eliten dienen. Mill war sich vermutlich bewusst, dass man ihm vorwerfen konnte, er würde in die Kerbe der Herrschenden hauen. Deshalb ist er nie müde geworden zu wiederholen - wie es alle Elitentheoretiker tun, wenn sie in die Enge getrieben werden -, dass die Freiheit, die er meine, gleich und unbeschränkt für alle Menschen gelte. Ja, es ist gut bekannt, dass sich Mill immer, vor allem aber in seinen späteren Jahren für die Arbeiter ernsthaft eingesetzt hat. Hier knüpft er zwar an die egalitäre Auffassung der Frühliberalen an, aber mit der Seele war er nicht bei dem „einfachen“ Bürger. Er nimmt jene, die nicht zu den Gebildeten gehören, nicht ernst; er hält sie für eine „bunte Sammlung einiger Weiser und vieler Thoren, die das Publicum heißt“.

Noch deutlicher zeigt sich seine elitäre Gesinnung in seiner Auffassung von Demokratie. Er hat nie verheimlicht, dass nach seiner Überzeugung die Bevölkerung nicht in der Lage sei, qualifizierte politische Entscheidungen zu treffen. Kollektive Mittelmäßigkeit (collective mediocrity) müsse durch das intellektuelle Niveau des Parlaments vermieden werden. Er sieht also nicht nur in der direkten, sondern sogar auch in der repräsentativen Demokratie eine Tendenz zur kollektiven Mittelmäßigkeit, die durch jede Herabsetzung der Wahlrechtsvoraussetzungen und jede Erweiterung des Wahlrechts noch verstärkt wird, da diese Maßnahmen darauf hinauslaufen, die Staatsgewalt zunehmend in die Hände von Menschen zu legen, die weit unter dem optimalen Bildungsstand der Gesellschaft stehen. Deshalb hat er sich ein höchst exklusives, nach Würdigkeit gestaffeltes Wahlrecht, ausgedacht, um zu verhindern, dass diejenigen, „die weit unter dem optimalen Bildungsstand der Gesellschaft stehen“, also die Besitzlosen, als Klasse zu viel Einfluss im Parlament erlangen. Und dies vertritt er mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig lässt:

„Die Demokratie ist dem Geist der Ehrfrucht abträglich. ... Dies ist einer der Gründe, warum es mir so wichtig scheint, daß die Institutionen des Landes den Meinungen der Angehörigen der gebildeteren Schichten ein größeres Gewicht als denen der weniger Gebildeten einräumen sollten, und ich würde noch immer dafür eintreten, Personen von anerkannt überlegener Bildung ein mehrfaches Stimmrecht zuzugestehen.“

Aber nicht einmal das reicht Mill aus. Darüber hinaus befürwortet er öffentliche Stimmabgabe. Was denn noch, möchte man fragen. Sollte sich der Arbeiter auch noch in seinem Arbeitszeugnis amtlich eintragen lassen, für wen er votiert hat?

Solche Tricksereien, um aus der Demokratie eine Zaungästedemokratie zu machen, sind bei Mills Nachfolgern gang und gebe. Einer der oberflächlichsten und zynischsten - sprich der anerkanntesten und berühmtesten - Neoliberalen, Hayek, macht sich z.B. folgende Gedanken, wie man die Demokratie reformieren sollte:

„Ich stelle mir als Legislative eine Versammlung von reifen Menschen vor, die, nachdem sie sich im normalen Erwerbleben Erfahrung und Ruf erworben haben, auf eine einzige lange Periode von, sagen wir fünfzehn Jahren, gewählt würden. Um zu gewährleisten, daß sie genügend Erfahrung und Ansehen - und wohl auch die eingefleischte Gewohnheit harter Arbeit - erworben haben, würde ich da Wahlalter verhältnismäßig hoch ansetzen, etwa mit 45 Jahren und ihnen nach Ende ihres Mandats mit 60 Jahren noch für weitere 10 Jahre eine ehrenvolle bezahlte Stellung, etwa als Laienrichter oder dergleichen, zusichern.“

So reiht sich Mill fast nahtlos in die Tradition des Philosophierens ein, die sich immer schon bemüht hat, jene aufrührerischen Massen zu verdammen, die gewissermaßen seit Jahrhunderten darauf warten, von denen aufgeklärt zu werden, die sie in Wirklichkeit nur verteufelt und verraten haben. Dies hat mit dem, was Spinoza, Hobbes, Hume, Locke, Montesquieu, Rousseau, Smith ... gemeint haben, nichts zu tun. Durch diese Differenzierung der Bürger in jene, die weniger, und jene, die mehr fähig und reif sind darüber zu entscheiden, wie man die Gesellschaft organisiert und wie sie funktionieren soll, hat sich Mill ein ordentliches Stück von seinen Vorgänger entfernt. Am Anfang der liberalen Tradition schreibt nämlich Adam Smith:

„Der Unterschied in den Begabungen der einzelnen Menschen ist in Wirklichkeit weit geringer, als uns bewußt ist. Von Natur aus unterscheidet sich ein Philosoph in Begabung und Veranlagung nur halb so viel vom Lastträger wie eine Bulldogge von einem Windhund.“

Marx sagte einmal, die Geschichte wiederhole sich zweimal: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce. Das, was Mill den liberalen Auffassungen seiner Vorgänger angetan hat, war schon eine ordentliche Tragödie. Er hat den brausenden und rauschenden Fluss von humanitären und emanzipatorischen Ideen und Konzeptionen der ursprünglichen Liberalen zu einem Rinnsal verkümmern lassen. Aber eine lumpige Farce aus der liberalen Idee der Freiheit haben erst Mills Nachfolger gemacht. Den Soziologen Herbert Spencer (1820-1903) hat auch die Freiheit besonders interessiert und er war auch ein leidenschaftlicher Freiheitskämpfer. Er hat noch einen viel extremeren elitären Weg eingeschlagen und die Freiheit zum Recht der Stärkeren erklärt, die Schwächeren beliebig als Mittel zu behandeln und auszunutzen. Mit einer solch arroganten und brutalen „Freiheit“ ließe sich jedoch schlecht herrschen, so dass Spencers Sozialdarwinismus, auch wenn er die „Eliten“ so grenzenlos begeisterte - damals wie heute -, nicht lange zu halten war. Es blieb den Ideologen des Kapitalismus nichts anderes übrig, als aus der Freiheit einen leeren Begriff zu machen. Diese Aufgabe haben die Generationen nach Mill auf sich genommen, die der neoklassischen bzw. neoliberalen Ökonomen, Mill hat ihnen aber eine sichere Steilvorlage beschert. So landete die liberale Freiheit auch in England am Ende des 19. Jahrhunderts genau dort, wo Marx sie schon längst vor ihnen angesiedelt hatte: bei der individuellen Freiheit. Die ideologischen Gegner reichten sich die Hände.

Wie im 19. Jahrhundert die Marktwirtschaft zu einer vollautomatischen Maschine umgedeutet wurde

Es gibt zweifellos genügend  gute Gründe, Marx als Erzfeind und Totengräber des Kapitalismus zu bezeichnen. Ist aber damit zugleich gesagt, dass er der Meinung war, die Marktwirtschaft würde schlecht funktionieren? Selbstverständlich! - würde man meinen. Warum sonst sollte sie durch eine proletarische Revolution beseitigt und durch eine nicht-private Wirtschaft ersetzt werden? Aber so einfach ist es nicht.

Das Muster des zeitlichen Ablaufs der Geschichte, das Marx schon als Philosoph von Hegel übernommen hat, ist das bekannte dialektische Prinzip des Übergangs der Quantität in die Qualität. Bei Hegel gilt als die Quantität der „Geist“ bzw. die „Vernunft“, aber diese Lösung konnte Marx als ein materialistischer Philosoph nicht übernehmen. Er musste sich etwas anderes aussuchen. Als er dann erfuhr, dass die Ökonomen seiner Zeit der Meinung waren, die Anhäufung von Kapital führe zur Steigerung der Produktivität, wusste er sofort, dass er fündig geworden ist. Die Quantität, welche die Geschichte vorantreibt, sollte also das Kapital sein; die Produktivität wäre dann folglich die Qualität. Nach dieser „Entdeckung“ schien es Marx auf einmal, als hätte er den Schlüssel zur Erklärung der Geschichte schlechthin in der Hand. Wir fassen es noch einmal kurz zusammen:

In der vorhistorischen Zeit der Menschheitsgeschichte gab es noch keine Akkumulation des Kapitals, so dass diese Gesellschaften sehr primitiv und arm bleiben mussten. Die Sklavengesellschaft und die feudale Gesellschaft haben gewisse Fortschritte gemacht, aber auch sie haben die Kunst der Akkumulation (Kapitalanhäufung) mehr schlecht als recht beherrscht. Der Durchbruch gelang erst dem Kapitalismus, dessen Marktwirtschaft einer hochleistungsfähigen, vollautomatischen Maschine zur Umwandlung der Quantität in Qualität ähnelte. Sie saugt geradezu Ersparnisse in sich hinein, Produktivitätswachstum kommt heraus. Mit den Reproduktionsschemata, die den ganzen zweiten Band des Kapitals ausmachen, beschreibt Marx diesen Automatismus ausführlich und mit zahlreichen Zahlenbeispielen. Weil aus diesen seinen Schemata nicht zu entnehmen ist, warum die Wirtschaft nicht problemlos funktionieren und wachsen sollte, wurde das zweite Band des Kapitals nicht selten auch von ideologischen Gegnern hoch geschätzt. Es war eine richtige Genugtuung für sie, festzustellen, dass auch Marx der kapitalistischen Wirtschaft keinen Konstruktionsfehler bescheinigen konnte. Im Nachhinein, in der Terminologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, lässt sich sagen, die Marxschen Reproduktionsschemata sind eine reine Angebotstheorie. Das sogenannte Marktversagen im echten Sinne des Wortes gab es also nicht. Und die ökonomischen Krisen?

Auch sie sind kein ernsthaftes theoretisches Problem. Wenn eine Maschine nicht richtig bedient wird (auch Saboteure sind ab und zu am Werk), kann sie natürlich auch kaputt gehen. Wer sind aber diejenigen, die etwas falsch machen und die Marktmaschine schädigen? Es gibt eigentlich viele, die in Verdacht kommen könnten. Man kann zu ihnen jeden zählen, der z.B. falsch investiert, überteuert verkauft, Preisabsprachen praktiziert und vor allem derjenige, der unlauter spekuliert. Bei einer solch breiten Auswahl an Störern ist es für Ökonomen immer ein leichtes Spiel, Konjunktureinbrüche und Krisen zu „erklären“, ohne dass man an dem Markt etwas auszusetzen braucht. Seltsamerweise sind diese, durch nichts aus der Ruhe zu bringenden „Analytiker“ und „Wirtschaftsexperten“ nie im Voraus klug, sondern nur hinterher. Wir kennen sie allzu gut. Sie sind so unheimlich stolz darauf, mit absoluter wissenschaftlicher Sicherheit beweisen zu können, warum etwas ganz anders gelaufen ist, als sie es noch gestern behauptet haben. Eine in der Tat „fröhliche Wissenschaft“, wie es Nietzsche bezeichnen würde. Marx bevorzugte für die Erklärung von Krisen die wilden Spekulationen und die unlauteren Machenschaften, die aus dem Egoismus des Kapitalisten hervorgehen. Würde es keine Kapitalisten mehr geben, würde die Wirtschaft natürlich perfekt funktionieren können.

Wir stellen jetzt diesem Marxschen Modell der Marktwirtschaft ein anderes gegenüber, das von John Stuart Mill. Auch in der Vorstellung dieses prominentesten Liberalen des 19. Jahrhunderts funktioniert die Marktwirtschaft im Grunde einwandfrei. Ein Marktversagen im wahren Sinne des Wortes gibt es für ihn nicht. So wie bei Marx sparen die Kapitalisten was das Zeug hält und der Markt erledigt alles andere von alleine. Er verwandelt ihre Ersparnisse völlig automatisch in Investitionen. Und weil auf die Kapitalisten immer Verlass ist, wird die kapitalistische Wirtschaft immer weiter problemlos wachsen. Das Streben nach Akkumulation und Wachstum, auf das man sich immer verlassen kann, bezeichnet Mill sogar als Sucht. Er lässt zu, dass den Investoren ab und zu gewisse Fehler unterlaufen können, aber sie sind genau genommen nicht das Problem des Marktes, sondern der menschlichen Unvollkommenheit. Nur in einem Punkt unterscheidet sich Mill von Marx. Die neuen Investitionen sind seiner Meinung nach nicht ganz so produktiv, also nicht dermaßen arbeitssparend, wie es Marx geglaubt hat. Damit ist nicht gesagt, Mill wäre nicht ganz davon überzeugt gewesen, dass es so etwas wie die wachsende „organische Zusammensetzung des Kapitals“ gibt; er glaubt aber nicht, dass sich diese dermaßen rasch beschleunigen würde, wie es Marx immer behauptet hat. Dieser kleine Unterschied hat große Wirkung!

Wenn immer weiter investiert wird und die Investitionen nicht so produktivitätssteigernd sind, wie Marx es angenommen hat, werden sie die Zahl der Beschäftigten tendenziell nicht verringern, sondern erhöhen. Folglich würde dies zu einem stationären Zustand (Principles of Political Economy) und zu Vollbeschäftigung führen. In diesem stationären Zustand würde sich die Menschheit dem intellektuellen, kulturellen und wissenschaftlichen Fortschritt widmen, nachdem man vorher bereits alle Freiheiten auf die freie Äußerung von Meinungen und Gedanken erkämpft hat. Auch die Arbeiterklasse würde einen bescheidenen Wohlstand genießen können. Der stationäre Zustand sollte also „die größtmögliche persönliche Freiheit mit der gerechten Verteilung der Früchte der Arbeit“ bedeuten. Mill will aber die Kapitalisten beibehalten, Marx würde sie dagegen enteignen und abschaffen, aber sonst unterscheiden sich der stationäre Zustand (Mill) und das Reich der Freiheit (Marx) kaum.

Weil sich Mill nicht gegen die Kapitalisten entschieden hat - nur sie seien genug gebildet, um die Produktion zu organisieren -, geht er davon aus, dass es ein Problem geben wird, welches die kapitalistische Wirtschaft nicht automatisch lösen kann. Dieses Problem heißt Verteilungsproblem. Mill leugnet nicht, dass in seiner Zeit dieses Problem auch nicht im Entferntesten gelöst worden war. Diese Ehrlichkeit den Tatsachen gegenüber macht Mill mit seinen Vorgängern, den Frühliberalen, verwandt. So sagt er offen, dass die Verteilung in der kapitalistischen Wirtschaftsform nicht gerecht ist: das Arbeitsprodukt werde „fast in umgekehrtem Verhältnis zur geleisteten Arbeit“ angeeignet. Aber dies sei trotzdem kein Grund zur Sorge für Mill:

„Die Gesetze und Bedingungen der Produktion von Vermögen zeigen den Charakter physikalischer Wahrheiten. ... Anders verhält es sich mit der Verteilung des Vermögens. Diese ist eine rein menschliche Einrichtung. Sind die Dinge einmal gegeben, so können die Menschen ... mit ihnen nach Belieben verfahren. Sie können sie zu der Verfügung eines jeden Beliebigen zu beliebigen Bedingungen stellen.“

Aus dieser Aussage lässt sich eindeutig entnehmen, dass der Markt bei jeder Form der Einkommensverteilung gleich effizient produzieren sollte. Somit vertritt Mill eine These, die für seine Nachfolger, also für die Neoliberalen, inakzeptabel wie kaum eine andere sein wird. Auch deshalb haben sie sich von ihm so schnell und gründlich getrennt. Dies widerspricht dem sogenannten Paretoschen Optimum, das die Grundlage der neoliberalen Theorie ausmacht, aber darüber später. Die neoliberale Theorie gehört nicht mehr in das 19. Jahrhundert, die von Mill schon. Die von Marx genauso. Aus dem zweiten Band lässt sich nämlich nichts anderes schließen, als dass der Markt problemlos funktioniert, so dass man sich nur um die Verteilung kümmern muss.

Um eine Umverteilung zu Gunsten der Arbeiterklasse zu erzwingen, sah Marx keinen anderen Weg als die Revolution. Und Mill? Wir haben schon erwähnt, dass er sich für die Demokratie eingesetzt hat, jedoch für eine recht merkwürdige Demokratie, in der die Arbeiterklasse nur beschränkt ihren Einfluss ausüben sollte. Er warnte Arbeiter sogar davor, sich allzu viel von staatlichen Institutionen zu erhoffen. Die Verbesserung ihrer Lage hänge angeblich in erster Linie von ihnen selbst ab: Vor allem sollten sie sich mehr um eine allgemeine Erziehung und Ausbildung bemühen. Konsequenterweise ist Mill auch gegen eine organisierte Feindschaft zwischen Unternehmern und Arbeitern gewesen. An ihre Stelle sollte eine Partnerschaft treten. So wie sich die Arbeiter geistig fortentwickelt hätten, sollten sie aber selber Eigentümer an den Produktionsmitteln werden. Es ging Mill also sowohl um Freiheit, als auch um Sozialismus. Ja, er ließ sich später sogar „Sozialist“ nennen.

Dass Mill vom Sozialismus angezogen wurde, hatte nicht wenig auch mit seiner Biographie zu tun gehabt. Jahrzehnte lang hatte Mill die Welt nur durch seine Lektüre gekannt. Später haben ihn die männlichen Hormone dann aber doch überwältigt. Er wurde von Amors Pfeil getroffen und verliebte sich in eine verheiratete Frau (Harriet Taylor), die erst seine „Seelenfreundin“ und platonische Geliebte war, und erst viel später, nach dem Tod ihres Mannes, konnte er sie auch heiraten. Diese einzige Frau im Leben von Mill war eine sozusagen radikale Linksintellektuelle, so dass Mill unter ihrem Einfluss sein Herz für die Arbeiterklasse öffnete und sich für sie einsetzte (und natürlich auch für die Rechte der Frauen). Wenn man über diesen Fall ein bisschen weiter nachdenkt, fragt man sich, ob die Wirtschaftswissenschaft deshalb so hartherzig und brutal ist, weil in ihr die Frauen kaum jemals etwas zu sagen hatten?

An dieser Stelle ist es angebracht, zu erwähnen, dass auch ein anderer Freiheitskämpfer, der wichtigste liberale Soziologe des 19. Jahrhunderts, Herbert Spencer, ein nicht ganz übliches Verhältnis zum weiblichen Geschlecht hatte. Dieser Maschinenbauingenieur und begnadete Autodidakt in den Geisteswissenschaften, war ebenfalls in vielen geistigen Bereichen bestens bewandert. Das einzige, was ihm sein Leben lang nicht gelungen ist sich anzueignen, war das weibliche Geschlecht. Und gerade dieser Mensch sollte das beste Rezept anbieten, wie sich eine biologische Art der Gattung Homo weiter evolutionär entwickeln sollte, um zu überleben? Oder war Spencers Sozialdarwinismus eine perfide Rache an der Menschheit? Wenn er selber nach seinem letzten Atemzug aus dem Plan des Universums endgültig gestrichen werde, warum sollte es der Menschheit anders ergehen? In die Logik eines kühlen Denkens, und dies war er allemal, würde diese Schlussfolgerung ausgezeichnet passen. Warum sollte nämlich für einen extremen und rücksichtslosen Egoisten, für den die Verlierer der Gesellschaft so viel bedeuten wie Juden, Zigeuner oder Slawen für Hitler, das Weiterbestehen der Menschheit ohne seinen Genotyp etwas bedeuten? Stellen wir denn nicht tagein tagaus fest, dass auch die narzistischen „Leistungsträger“, die sich zum Zweck der Evolution aufzureiben glauben, allzu oft kinderlos sind? Die Idee der uneingeschränkten individuellen Freiheit ist also nicht nur falsch, sie ist selbstmörderisch. Deshalb ist es für den Westen das Gebot der Stunde, den Begriff der Freiheit endgültig über Bord zu werfen, anstatt sich im Namen der Freiheit umzubringen.

Wie bereits gesagt, Mill bleibt der Vertreter der Politischen Ökonomie auch deshalb, weil er nicht bereit war, die Tatsachen um der Theorie willen zu opfern. Folglich gab es in seiner geistigen Welt immer noch soziale Klassen und damit auch Kapitalisten. Hätte er seine Logik konsequent bis zu Ende verfolgt, hätten sie aber verschwinden müssen. Wenn nämlich die Kapitalakkumulation keine dramatische Produktivitätssteigerung bewirkt (und die Arbeiterklasse nicht zu viele Kinder in die Welt setzen würde), dann müssten die Löhne wegen der stetig steigenden Beschäftigung wachsen und allmählich die Profite auszehren. Und ohne Profite gäbe es freilich auch keine Kapitalisten. Aber Mill war doch nicht bereit, so bedingungslos und blind an die eigene Wachstums- und Akkumulationstheorie zu glauben. Er wollte diesen Automatismus nicht in sein Marktmechanismus einbauen, weil ihm dies realitätsfremd erschien. Das Theoretisieren nach dem Motto der deutschen Philosophen: „desto schlimmer für die Tatsachen“, ist das Werk seiner Nachfolger, also der Neoliberalen, die ihm schon an die Tür klopften, um ihm den Stuhl vor die Tür zu setzen. Das komplette Umkrempeln der ursprünglich liberalen Tradition hat ein Maschinenbauingenieur, Léon Walras, im ersten Jahr nach Mills Tod (1874) mit seinem Werk Eléments d'économie pure ou théorie de la richesse sociale eingeleitet. Für die endgültige Formulierung dieser „lumpigsten Farce“ der liberalen Tradition hat dann ein anderer Maschinenbauingenieur, Vilfredo Pareto, im Jahre 1906 seine Schuldigkeit getan (Man merkt schon an den Namen, dass die neuen Liberalen vom Kontinent stammen.) In dem Modell dieser radikalen Revisionisten der liberalen Lehre gibt es Profit sowie einiges mehr überhaupt nicht, aber darüber später. Jetzt erwähnen wir nur kurz, was diese neuen Liberalen mit den Ökonomen des 19. Jahrhunderts verbindet.

Wir können uns denken, wie sich die Dampflokingenieure Walras und Pareto die Welt vorgestellt haben, wie sie gedacht haben und wie sie theoretisch vorgegangen sind. Sie haben einfach das, was damals in der klassischen Mechanik gelehrt wurde, auf die sozialen Verhältnisse angewandt. Die neoliberale Theorie bzw. ihr sogenanntes „Modell des allgemeinen Gleichgewichts“ ist also mit den gleichen mathematischen Mitteln und Methoden aufgebaut, wie Ingenieure und Techniker ihre Maschinen bauen. Und wie tun sie das? Sie bekommen einen Auftrag, in dem steht, dass die Maschine dies und das leisten sollte, dann zeichnen, sägen und schrauben sie so lange, bis ihnen dieses Werk gelungen ist. So, von „hintenher“ oder teleologisch (wie die deutschen Philosophen), haben auch die neoliberalen Tüftler Walras und Pareto das Modell der Marktwirtschaft gebaut. Sie haben sich im ersten Schritt bestimmte Ziele gesetzt, welche die „Maschine Wirtschaft“ realisieren soll und dann haben sie mit ihrem Ingenieurswerkzeug getüftelt. Als es ihnen irgendwann geglückt war, zu erreichen, dass ihre Hokuspokus-Maschine genau das leistet, was sie sich vorgestellt hatten, sind sie stolz vor das Publikum getreten und haben feierlich erklärt, ihr Modell sei der Beweis, dass die reale Wirtschaft so und so funktioniere. Was soll man zu einem solchen Verhalten sagen? Vielleicht nur, dass so viel Unsinn nicht einmal in den wildesten philosophischen Spekulationen allzu oft vorkommt.

Das neoliberale (mathematische) Modell der Marktwirtschaft als Maschine zu bezeichnen, hat also gute Gründe: Es ist von richtigen Maschinenbauern und mit dem Werkzeug von Maschinenbauern gefertigt worden. Wir haben aber schon vorhin auch die ökonomischen Theorien bzw. die Wirtschaftsmodelle des 19. Jahrhunderts, konkret war es das Modell von Marx und von seinem liberalen Gegenpart Mill, als Maschinen bezeichnet. War dies dann nur rein metaphorisch gemeint? Nein. Auch diese Modelle verkörpern Grundprinzipien der klassischen Mechanik, vor allem das Prinzip des Determinismus bzw. der Zwangsläufigkeit des wirtschaftlichen Geschehens. Ihre Modelle sind also Einrichtungen, die völlig vollautomatisch funktionieren, wie Maschinen, und zwar unabhängig davon, was die Menschen denken und wollen. Die Menschen in diesen Modellen sind sozusagen nur Rädchen einer gigantischen Maschine, die Gott oder die Natur hervorgebracht hat. Deshalb stellen die ökonomischen Theorien des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, bis zu dem Augenblick, als Keynes seine Theorie vorgestellt hat, einen drastischen Verfall des wissenschaftlichen Denkens dar, der fatale Folgen haben musste: Kommunismus und Faschismus. Mit Recht bezeichnete der bekannte französische Soziologe Pierre Bourdieu das Werk der Neoliberalen als „ machine infernale“ - eine höllische und teuflische Maschine.

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