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In eigener Sache: Die Frage nach der richtigen Interpretation |
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Zur Problematik des Verstehens und der Auslegung von Texten |
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Um an die Quelle zu kommen, muss man gegen den Strom schwimmen. |
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Konfuzius |
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Wenn ich weiter sehen konnte, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand. |
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Isaac Newton |
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Die Befürworter der uneingeschränkten ökonomischen Freiheit, heute bezeichnet man sie als Neoliberale, wollen in der ursprünglichen liberalen Theorie eine auf der Freiheit begründete ökonomische und politische Konzeption der Ordnung sehen. Die Bezeichnung Liberalismus stammt in der Tat von dem Wort liber, auf Lateinisch frei. Diese Bezeichnung hat auch ihre Berechtigung, man sollte aber trotzdem keine weitreichenden Schlüsse aus ihr ziehen. Wir werden in den folgenden Beiträgen sehen, dass diese freiheitliche (laissez-faire) Interpretation dem Geiste des Frühliberalismus gar nicht entspricht und eine andere vorlegen. Das kann überraschen, weil gerade diese neoliberale Interpretation des Frühliberalismus so verbreitet ist, als ob sie die einzige wäre, die es überhaupt gibt. Diese Verbreitung erweckt auch noch den Eindruck, als hätte sie so viele Anhänger gewonnen, weil sie diese besonders gut zu überzeugen vermochte. Man sollte sich aber auf diesen ersten Eindruck nicht verlassen. Eigentlich sollte gerade die Dominanz dieser Interpretation Zweifel wecken, ob sie nämlich nicht eine ist, welche aus bestimmten Gründen gefordert und gefördert wird. Man kann schnell darauf kommen von wem.
Cuius regio, eius religio - hat man schon seit langer Zeit feststellen können, oder dem Sinn nach: Die Herrschenden bestimmen welche Religion richtig ist. So wird auch heute von den herrschenden Machteliten bestimmt, was der ursprüngliche Liberalismus sein sollte, und gerade sie haben sehr großes Interesse daran, dass er als eine Lehre über die uneingeschränkte Freiheit verstanden wird. „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken“, hat es Marx auf den Punkt gebracht. Die uneingeschränkte Freiheit ist das wahre Geheimnis der Klassenherrschaft im Kapitalismus.
Nun sind gerade die liberalen Gesellschaften diejenigen, die die Redefreiheit - die natürlich auch die Interpretationsfreiheit erfasst - noch am wenigsten beschränken. Wenn sich also eine falsche Interpretation des Frühliberalismus durchgesetzt hat, und nicht etwa diejenige, die in den folgenden Beiträgen als eine bessere vorgestellt wird, kann man schwer glauben, dass dies ausschließlich an der erfolgreichen Propaganda seitens der Machteliten liegen sollte. Das ist in der Tat nicht der Fall. Die Suche nach der richtigen Interpretation ist nämlich eine sehr mühselige Angelegenheit aus mehreren Gründen.
Warum die Interpretation historischer Texte immer sehr schwierig ist
Es gibt mehrere Gründe, warum historische Texte schwer zu verstehen sind und warum man nie sicher sein kann, ob man sie richtig verstanden hat. Einer der Gründe, der einem sofort einfällt, ist, dass sich die Sprache ständig weiterentwickelt. Die innere Bestimmung der Wörter ist bekanntlich einem ständigem Wandel unterworfen. Dieser Wandel kann manchmal sehr schnell vor sich gehen und fast unglaubliche Blüten treiben. Nehmen wir als Beispiel das Wort Reform, das man heute ständig im Munde führt. Noch vor nicht allzu langer Zeit bedeutete dieses Wort eine neue politische Maßnahme, die im Endergebnis eine Verbesserung der Lebensumstände der „einfachen“ Bürger bringen sollte. Nach der neoliberalen Konterrevolution vor drei Jahrzehnten bedeutet das Wort Reform das genaue Gegenteil, nämlich die Zurücknahme der früheren Maßnahmen, also das Aufheben von früheren Reformen. Man muss aber gleich hinzufügen, dass es sich in diesem Fall nicht um einen spontanen Prozess handelt, sondern die Sprache wurde absichtlich manipuliert, um böse Absichten der Machteliten in westlichen Ländern unter wohlklingenden Wörtern zu verschleiern. Ein solcher Missbrauch der Sprache durch herrschende Klassen ist natürlich nichts Neues.
Ein weiterer, womöglich noch wichtigerer Grund, warum wir frühere Texte schwer verstehen können, ist darin zu sehen, dass jede Schrift im Kontext ihrer Zeit steht. Sie ist für die Zeitgenossen geschrieben. Das bedeutet, dass vieles, was zum Kontext der Schrift gehört, nicht explizit angeführt und hervorgehoben werden muss, weil die Schriftverfasser sich darauf verlassen können, dass der Kontext für die interessierten Leser gut bekannt ist. Das verursacht Schwierigkeiten, wenn sich später der Zeitgeist ändert. Bei den Lesern der nächsten kulturellen und geistigen Tradition wird etwas anderes stillschweigend als selbstverständlich angenommen, und diese sehen dann den Text in einem falschen Kontext.
Unser Vorhaben, den Frühliberalismus von Neuem zu interpretieren, stößt zwangsläufig auf ein nächstes, ein noch größeres Hindernis. Wir können uns nämlich nicht nur auf einige wenige Schriften beschränken, weil es um die Denkweise und die Auffassung einer ganzen Epoche geht. Deshalb muss man sich im Voraus entscheiden, welche Werke und welche Autoren für das „richtige“ Verständnis des Frühliberalismus als repräsentativ gelten sollen, und das ist alles andere als einfach. Der Stammbaum der Ideen ist niemals unverzweigt und dementsprechend ist die Zahl der Auswahlmöglichkeiten nahezu unendlich. Aber auch damit nicht genug.
Die Denker und Philosophen, die mit ihren Ideen den Zeitgeist der Moderne beeinflusst und geformt haben, widersprechen sich. Man kann schnell ahnen, woran das liegt. Wenn etwas entsteht, was völlig neu ist, gibt es viele Ansätze und jeder der sich herausgefordert sieht, sucht für sich zuerst einen eigenen Weg, so dass die Wege der vielen auseinanderlaufen. Nicht selten versperrt ein Weg den anderen. Außerdem ist es auch nicht ungewöhnlich, dass die Denker und Philosophen sich sogar selbst widersprechen. So betrachtet wäre eine strenge Interpretation des neuen Zeitgeistes unmöglich. Dann bleibt uns nichts andres übrig, als unsere Kriterien deutlich zu entschärfen. Meiner Auffassung nach sollte eine Interpretation schon dann als tauglich und brauchbar gelten, wenn folgende zwei Kriterien erfüllt sind:
- Die Merkmale, die als relevant gelten sollen, müssen mit vielen Aussagen bzw. Zitaten belegt werden.
- Diese Merkmale müssen bei einer Interpretation einem logischen Ganzen zugeordnet werden können.
Das zweite Kriterium ist für die Interpretation des Zeitgeistes der Moderne nicht nur zulässig, sondern sogar unbedingt nötig. Die Moderne war bekanntlich vor allem eine Zeit des Rationalismus. Die wichtigsten Vertreter dieser Zeit fühlten sich der Ratio verpflichtet und als solche haben sie höchsten Wert auf die logische Schlüssigkeit (Konsistenz) ihrer Auffassungen und Visionen gelegt.
Die Interpretation des Frühliberalismus als eine Theorie der geregelten Ordnung
In den folgenden Beiträgen wird gezeigt, dass die Interpretation des frühliberalen Gedankenguts als eine Konzeption der geregelten Ordnung den beiden angeführten Kriterien durchaus genügt. Dies kann sogar die Kenner der Ideen dieser Zeit überraschen, da die Frühliberalen selbst ihre Vorstellung über die Funktionsweise (modus operandi) der Wirtschaft und Gesellschaft nicht als eine geregelte Ordnung bezeichnet haben. Je länger man aber darüber nachdenkt, desto weniger ungewöhnlich kommt einem dies vor. Diese Denker und Philosophen standen am Anfang eines neuen Zeitgeistes, der sich noch nicht über sich selbst im Klaren war. Auch für diese Zeit passt genau der berühmte Satz von Hegel, dass die Eule der Minerva ihren Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung beginne. Es war schon immer so, dass eine Epoche erst viel später ihre Sprache und auch die eigene Bezeichnung gefunden hat. Von den ältesten Beispielen erwähnen wir etwa Christentum und Feudalismus. Wen soll wundern, dass auch die vormodernen Denker keinen Sammelbegriff für ihre Vision der Ordnung hatten.
Außerdem brauchen die neuen Ideen Zeit, um zu reifen. Mit ein wenig Übertreibung kann man die frühliberale Auffassung über die Idee der Regelung mit der antiken Auffassung über die atomistische Struktur der Materie vergleichen. Die antiken Atomisten - Leukipp, Demokrit, Epikur - haben ihre Idee der Körnigkeit der Materie als eine Alternative zur Idee der Kontinuität entworfen, die man auch als Spruch kennt: „Die Natur macht keine Sprünge.“ Alles was die ersten Atomisten theoretisch und empirisch über Atome gesagt haben, war jedoch völlig unbrauchbar. Die erste Anwendung fand ihre Idee in der klassischen Mechanik, als die Auffassung über die frei beweglichen Partikel im freien Raum. Aber die Idee der Kontinuität wurde dort noch nicht ganz verworfen. Für die Materie an sich gilt in der klassischen Physik, wenn auch implizit - in den mathematischen Modellen -, dass sie unendlich (infinitesimal) teilbar ist. Die ersten empirisch evidenten und überzeugenden Zeugnisse über den diskontinuierlichen Aufbau der Materie hat uns erst die Chemie im 19. Jahrhundert geliefert. Dort wurde schon über Atome gesprochen, aber der Durchbruch war dies noch nicht. Er wurde erst in der neuen Physik erzielt, dank der modernen Optik bzw. Spektroskopie, die dann zur Entwicklung der Quantenphysik führte. So mühselig und lang kann also der Weg einer Idee, welche irgendwelche Philosophen mehr ahnten als verstanden haben, zur wissenschaftlichen Reife sein.
Auch die Frühliberalen haben die Prinzipien der Regelung eher geahnt als verstanden, so dass sie noch sehr weit davon entfernt waren, ihre Gedanken über eine geregelte Ordnung zu einer gewissermaßen vollständigen und widerspruchsfreien Konzeption zu machen. Erst die Kybernetik, die vor nicht viel mehr als einem halben Jahrhundert entstand (1947), schuf eine präzise und in sich schlüssige Sprache über das Phänomen der Ordnung in komplexen Systemen. Nach ihrem Begründer Norbert Wiener sollte sie eine universelle Wissenschaft über die Lenkung, also über die Steuerung und Regelung von komplexen Systemen sein, nicht nur eine für Maschinen (technische Systeme), sondern auch für lebende Organismen und soziale Organisationen. Was die Technik betrifft, da hat die neue Wissenschaft schon längst ihre Berechtigung unter Beweis gestellt, in den anderen Bereichen sind kaum Fortschritte zu melden. Auch was in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bisher versucht wurde, hat bitter enttäuscht. Das lässt sich erklären wie folgt:
Die Technik hat sich eine ihrem Forschungsbereich angepasste Bergriffe, Definitionen und Methoden geschaffen, die dermaßen erfolgreich waren, dass die Verlockung zu groß war, sie einfach auf andere Systeme, auf lebende Organismen und soziale Organisationen, zu übertragen. Das war aber ein prinzipieller Fehler. Noch absurder waren die Versuche, nur die Terminologie der Kybernetik (und Informationstechnik) zu übernehmen, und mit ihnen die alte Metaphysik - oder gar Mystik - weiter zu betreiben, wie es etwa bei dem deutschen Philosophen Niklas Luhmann der Fall ist. Dieser berühmte „Systemtheoretiker“ konnte nicht einmal zwischen Steuerung und Regelung unterscheiden. Daraus lässt sich lernen, dass die Sozialwissenschaften ihre eigene Sprache entwickeln müssen, mit eigenen Begriffen, Definitionen und Methoden, die den Gegebenheiten in ihrem Forschungsbereich angepasst sind. Ich habe diesen Versuch in meinem Buch Wirtschaft und Gesellschaft als geregelte Ordnungen - das noch nicht ganz fertig ist - unternommen.
Kurz zusammengefasst, geht es in diesem Buch:
- um die Grundlagen und Institutionen der Wohlstands- und Mittelstandsgesellschaft, und damit auch
- um einen Gegenentwurf bzw. eine Alternative zur neoliberalen Erpressungswirtschaft und Klassengesellschaft.
In dem Buch geht es aber vornehmlich um die ökonomischen Themen, um die Erklärung der Funktionsweise der Marktwirtschaft, und zwar mit Hilfe des kreislauftheoretischen Modells bzw. der kreislauftheoretischen Analyse. Sie geht über das bisher Bekannte hinaus, indem sie um einen neuen Typus von Koeffizienten, ich nenne sie distributive Koeffizienten, erweitert wird. Im Rahmen dieser Analyse wird unter anderem auch der wichtigste Konstruktionsfehler der Marktwirtschaft erklärt, nämlich ihre schon längst gut bekannte Eigenschaft, nur mit zyklischen Schwankungen bzw. periodischen Abstürzen funktionieren zu können. Gerade um das zu verhindern, braucht man Regelungen. Regelungen lassen sich aber auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen erfolgreich anwenden. Darin besteht die Universalität der Konzeption der geregelten Ordnung.
Man kann schon ahnen, wie schnell eine ausführliche Behandlung dieser Themen den Rahmen eines normalen Buches sprengen würde. Deshalb musste einiges zu kurz kommen, unter anderem die geschichtliche Entwicklung der Idee der Regelung. Genau das wird in unserem Themenbereich Der Frühliberalismus | für Eilige im Vordergrund stehen, so dass die folgenden Ausführungen sozusagen als Prolegomena für das Buch verstanden werden können.
Es gibt noch einen Grund, warum die kurze Geschichte der Idee der geregelten Ordnung unsere Aufmerksamkeit verdient. Die Kybernetik war ein Produkt der Naturwissenschaftler, vor allem der Techniker und Biologen. Die Idee der Regelung selbst ist jedoch ein authentisches Produkt der Ethiker, Ökonomen und Sozialwissenschaftler. Es ist höchst erstaunlich - und spannend -, dass die Sozialwissenschaften den Naturwissenschaften hier voraus waren. So etwas ist in den nächsten zwei Jahrhunderten kaum noch vorgekommen. Was für eine glorreiche Zeit für die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften war der Anfang der Moderne!
Die Erforschung der neuen originellen Ideen ist wichtiger als die Vollständigkeit
Abschließend soll noch unterstrichen werden, dass es uns in den folgenden Beiträgen nicht vorrangig darum gehen wird, die ausgewählten Autoren möglichst vollständig zu interpretieren. Viel wichtiger wird es sein, die Entstehung und Entwicklung der originellen Ideen am Ende des Mittelalters und am Anfang der Moderne darzustellen, vor allem der Ideen, die für die Konzeption der geregelten Ordnungen relevant sind. Vereinfacht gesagt, unsere Untersuchung des Frühliberalismus wird weniger autorenbezogen, sondern vor allem sachorientiert sein.
So betrachtet, bin ich also nicht so sehr daran interessiert, endgültig zu klären, ob die frühliberalen Theoretiker schon eine richtige Konzeption der geregelten Ordnung entwickelt haben. Die Grundlagen dieser Konzeption haben sie jedoch auf jeden Fall gelegt. Das soll in den folgenden Beiträgen überzeugend argumentiert und unumstößlich nachgewiesen werden.
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