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  Thomas Hobbes: Die wichtigste Zwischenstation auf dem Weg in die Moderne
  Und wenn der Mensch doch nicht extrem böse und extrem individualistisch wäre?
       
 
In diesem paradoxen System ist jeder Mensch im Prinzip als soziales Wesen ein „vereinzelter Einzelner“ ... Oder, um es mit Margret Thatcher zu sagen: „Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen.“ Ungeachtet der Tatsache, dass zu seiner Zeit die soziale Kooperation noch weitaus vielfältiger und noch keineswegs von der Logik des Geldes vollständig zersetzt war, sah Hobbes „der Zukunft zugewandt“ den Menschen bereits als abstrakten Einzelnen, der um seine individuelle Selbsterhaltung kämpft.
 
    Robert Kurzdeutscher gesellschaftskritischer Publizist und Journalist    

Der Mensch ist nach Hobbes ein Egoist und zwar ein rücksichtsloser. Wenn er als solcher auf keine Schranken stößt, kann er böse sein - sogar extrem böse. Dass Hobbes wirklich dieser Auffassung und Überzeugung war, kann man mit vielen Stellen in seinem Werk belegen. Es könnte sein, dass es für Hobbes selbstverständlich war, dass ein solcher Mensch zugleich ein extremer Individualist sein müsste. Darüber äußert er sich zwar nicht ganz deutlich, es lässt sich aber nicht im Geringsten daran zweifeln, dass er immer von dem Menschen ausgeht, der alleine lebt, alleine genießt und alleine kämpft - gegen jeden und alle. Auch in dieser Hinsicht war Hobbes ein Vorreiter der Moderne, der Bote eines neuen individualistischen Zeitgeistes, eines Gedanken- und Wertesystems, in dem das Individuum im Mittelpunkt der Betrachtung steht und nicht die Gesellschaft. Zwei Jahrtausende davor, von Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) bis Grotius (1583-1645) war der Mensch etwas anderes, ein zoon politikon und der Staat unmittelbare Folge des Geselligkeitstriebs der Menschen. Nach Hobbes ist es also genau umgekehrt. Gerade der fehlende Geselligkeitstrieb, also der Drang der Menschen sich abzusondern und sich für etwas Besseres zu halten, macht den Staat notwendig, und zwar nicht irgendeinen Staat, sondern einen absolutistischen. Sonst würden die Menschen als homo homini lupus sich gegenseitig vernichten, oder zumindest würde ständig „Krieg, Furcht, Armut, Hässlichkeit, Einsamkeit, Barbarei, Unwissenheit und Rohheit“ herrschen. Man kann auch sagen, dass nach Hobbes nur die Todesfurcht die Menschen staatsfähig und damit auch gesellschaftsfähig macht.

Muss aber ein böser Mensch zugleich auch ein Individualist sein? Noch präziser ausgedrückt: Muss ein (rücksichtsloser) Egoist auch unsozial und kooperationsunfähig sein? Das muss er nicht. Seit geraumer Zeit kennt man das Wort rationaler Egoist. Damit ist ein - mehr oder weniger - böser Mensch gemeint, der aber zugleich intelligent und als solcher immer bereit ist Bündnisse zu schmieden, wenn es sich für ihn lohnt. Die rationalen Egoisten können also sehr wohl kooperationsfähig sein. Hobbes wollte aber davon nichts wissen und es ist nicht schwer zu erraten warum. Würde er zulassen, dass die Menschen doch nicht immer exzessive Individualisten sind, dass sie, wenn auch böse, doch imstande sind zu kooperieren, verliert seine Konzeption des absolutistischen Staates ihre Stringenz und Konsistenz und fällt in sich zusammen. Das wollen wir uns jetzt im Folgenden näher anschauen.

Abschließend werden wir empirische Tatsachen vorlegen, die gegen die anthropologische Auffassung von Hobbes sprechen, dass der Mensch angeblich extrem böse und extrem individualistisch ist.
 

Tyrannei als die Folge der Verständigung zwischen den absolutistischen Herrschern

Im absolutistischen Staat von Hobbes hätten die Bürger, was die Politik und überhaupt das öffentliche Leben betrifft, nichts zu sagen. Das wäre für sie auch nicht nötig, weil der Souverän für sie gut sorgen würde. Die Möglichkeit, der Souverän würde seine Pflichten vernachlässigen und die Existenz der Gesellschaft auf Spiel setzen, hat Hobbes aber doch nicht gänzlich ausgeschlossen. Für diesen Fall räumt er den Untertanen sogar das Recht auf Widerstand ein. Bemerken wir gleich dazu, dass dieses Recht wie kaum was anderes eine Errungenschaft der Moderne ist. Dieses Recht wird von dem bedeutendsten politischen Denker der Moderne, John Locke, weiterentwickelt und präzisiert - dazu kommen wir noch - und es ist auch in unserer Verfassung („Grundgesetz“) fest verankert: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand.“ Das Recht auf Widerstand sollte laut Hobbes aber nur für wirklich aussichtslose Situationen gelten, wenn die schlechten Herrscher die elementare Existenz ihrer Untertanen bedrohen.

„Wird jemand aus Furcht vor augenblicklichem Tod zu einer gesetzwidrigen Tat veranlaßt, ist er vollkommen entschuldigt, weil keiner verpflichtet werden kann, die Erhaltung seines Lebens zu vernachlässigen. ... Wer aller Nahrungsmittel und jedes Unterhaltes beraubt ist und ohne Übertretung der Gesetze sein Leben nicht erhalten kann - was bei einer Hungersnot bisweilen der Fall ist, wo man Lebensmittel weder durch Kauf noch sonst auf eine Art bekommen kann - und zur Erhaltung des eigenen Lebens einem ändern das Seine heimlich oder mit Gewalt nimmt, der ist gänzlich entschuldigt.“ ... >

Beim Widerstand gegen die Obrigkeit handelt sich also um ein Notwehrrecht, das seine Begründung im natürlichen Recht auf Selbsterhaltung hat. Eine weitere starke Stütze für dieses Recht ist die Gleichheit der Menschen. Sind alle Menschen gleich viel wert, ist es folgerichtig, dass einer, dem es für sein Leben nicht ausreicht, sich von dem nimmt, der mehr als genug hat. Da stellt sich aber die Frage, ob in einem absolutistischen Staat Widerstand der Bürger überhaupt erfolgreich sein könnte? Hobbes macht sich darüber keine weiteren Gedanken, aber zumindest Andeutungen, warum der Widerstand eine reele Chance haben könnte, kann man bei ihm finden:

„Bezüglich der körperlichen Kraft wird man gewiß selten einen so schwachen Menschen finden, der nicht durch List oder in Verbindung mit ändern, die mit ihm in gleicher Gefahr sind, auch den stärksten töten könnte.“ ... >

Wenn die Menschen ziemlich gleich sind, sowohl körperlich als auch verstandesmäßig, dann dürfte es nicht allzu schwierig sein, sich gegen einen schlechten Herrscher zu wehren. Aber diese Möglichkeit versperrt sich Hobbes an einer anderen Stelle selbst:

„Allgemein genommen besteht die Macht eines jeden in dem Inbegriff aller der Mittel, die von ihm abhängen, sich ein anscheinend zukünftiges Gut zu eigen zu; machen. Es gibt aber eine natürliche und eine künstliche Macht. ... Die natürliche Macht gründet sich auf außerordentliche Vorzüge des Körpers oder des Geistes, z. B. auf Stärke, Gestalt, Klugheit, Geschicklichkeit, Beredsamkeit, Freigebigkeit und Adel. Die künstliche Macht aber umfaßt, die Mittel und Werkzeuge, seine Macht zu erhöhen, in sich; sie mögen übrigens durch jene ersteren oder durch Zufall erlangt sein, wie Reichtum, Achtung, Freunde.“ ... >

Wenn eine Partei ihre Waffen streckt, dann ist sie dem Sieger völlig ausgeliefert. Der Sieger nimmt sich dann sogar das Recht über das Leben des Unterlegenen zu entscheiden, das nach Hobbes ein natürliches und nichtveräußerliches Recht eines jeden Menschen sein sollte. Aus der geschichtlichen Erfahrung wissen wir aber, dass der Sieger normalerweise den Unterlegenen nicht einfach tötet. Man hat nämlich schon seit mehreren Jahrtausenden herausgefunden, dass der Mensch das beste Arbeitstier ist, so dass seitdem die Sieger die Besiegten anstatt sie zu töten für sich arbeiten lassen. Dies hatte auch einen anderen Vorteil: Durch Arbeit macht man den Menschen zum Widerstand unfähig, weil man ihn körperlich und geistig erschöpft oder gar ruiniert. Damit erklärt sich, warum es einer schon ziemlich kleinen Minderheit möglich ist, eine sehr große Mehrheit zu beherrschen: sie zu entrechten und auszunutzen. In dieser Hinsicht hat Hobbes, obwohl er ein Empiriker war, etwas sträflich übersehen und eine ziemlich schiefe Logik geliefert. Wozu soll nämlich der Urvertrag zwischen den Menschen im Naturzustand, mit dem sich jemand freiwillig zum Besiegten erklärt, dann überhaupt gut sein? Die Sinnlosigkeit eines solchen Gesellschaftsvertrags wurde am schärfsten von Rousseau kritisiert - darüber später mehr -, jetzt versuchen wir noch Hobbes’ Auffassungen zu retten, wenn sich etwas retten lässt.

Unter bestimmten Umständen ist es doch vorstellbar, dass der absolutistische Herrscher, auch wenn er kein guter Mensch, aber ein rationaler Egoist ist, doch gut für seine Untertanen sorgen würde. Hobbes hat diese Möglichkeit zwar nicht explizit untersucht, sie lässt sich aber im Rahmen seiner Annahmen bzw. seiner Denkweise zusammenstellen. Man braucht nur anzunehmen, dass sich die Staaten ständig bekriegen. Das wäre bei Hobbes keine zusätzliche Annahme, sondern ein besonderer Fall der Annahme, dass die Menschen ständig Krieg führen (bellum omnium contra omnes). Wir haben schon über die Auswirkungen der kriegführenden Staaten auf das Verhältnis zwischen dem Herrscher und den Untertanen innerhalb der Staaten einiges gesagt, jetzt fassen wir es nur kurz zusammen.

Bei ständigen Kriegen zwischen den verfeindenden Staaten, sogar wenn diese nur „kalte“ Kriege sind, bräuchte der böse Leviathan gute Waffen. Die kann er sich selber herstellen oder kaufen, beides setzt eine effiziente und leistungsfähige Wirtschaft voraus. Diese funktioniert nur mit Menschen, die in einer guten körperlichen und geistigen Verfassung sind. Ein kriegführender Herrscher müsste also seinen Untertanen - zumindest einem nicht sehr kleinen Teil der Gesellschaft - ein gewissermaßen sorgenfreies und erträgliches Leben ermöglichen, andernfalls wird er sich vor dem äußeren Feind nicht verteidigen können. Dieser Zusammenhang ist einleuchtend und historische Beispiele lassen sich leicht finden. Eines der aktuellsten, das wir bereits erwähnt haben, ist der Zusammenbruch des Kommunismus. Als zuletzt die ökonomische Leistung der Planwirtschaft nur noch für das Waffengleichgewicht ausreichte, aber nicht auch für das gute Leben der Bürger, brach die ganze Ordnung in sich zusammen. Wir können als gutes Beispiel auch noch den amerikanischen „Bürgerkrieg“ zwischen den nördlichen Staaten mit der Marktwirtschaft und den südlichen mit der Sklavenwirtschaft erwähnen. Die leistungsunterlegene Sklavenwirtschaft hatte auch hier keine Chance. Man kann noch erwähnen, dass die Historiker herausgefunden haben, dass im alten Ägypten - einem der erfolgreichsten Imperien der Geschichte - die Pyramiden von den freien Handwerkern gebaut wurden, die Sklaven wurden nur für grobe Arbeiten genutzt.

Man käme hier sogar auf die Idee, dass der Krieg etwas Gutes ist. Der altgriechische Philosoph Heraklit hat den Krieg wirklich für den Vater aller Dinge gehalten. Nun ist es aber so, dass der Krieg doch kein pausenlos andauernder Zustand ist. Staaten können nebeneinander im Frieden leben, sogar eine längere Zeit. Hobbes, der Empiriker, hat offensichtlich etwas außer Acht gelassen, was immer allgemein bekannt und offensichtlich war, dass es nämlich zwischen den oberen Schichten der Staaten zahlreiche freundschaftliche und verwandtschaftliche Verbindungen gibt. Oberhäupter und Staatslenker, heute würde man sagen Machteliten, waren schon immer global eng verkuppelt. Sie kamen bei verschiedenen Gelegenheiten zusammen, sie schlugen ihre Zeit auf verschiedenen Festlichkeiten und Feierlichkeiten gemeinsam tot und schleppten auch ihre Kinder mit, damit sie ihre Freundschaften zu Blutsverwandtschaften machten. Letzteres war schon seit Ewigkeiten eine Maßnahme der Staatsoberhäupter und Oberschichten, um sich selbst zu disziplinieren und damit leichtsinnige Feindschaften und Kriege zu vermeiden. Früher wurden zu diesem Zweck Festbankette und Festbälle veranstaltet, heute dienen dazu private Universitäten. Es stimmt also nicht, dass die Mächtigen lernunfähige Alleingänger oder Individualisten sind, die unfähig wären friedlich zusammenzuarbeiten. Und wenn dies zutrifft, dann erscheint auch der absolutistische Staat in einem sehr schlechten Licht.

Wenn sich die Staaten nicht gegenseitig bekriegen, steht ihren Machteliten nichts mehr im Wege ihren Untertanen den Krieg zu erklären, also diese nach Lust und Laune auszupressen und zu entwürdigen. Oder würde sie doch etwas davon abhalten? Hobbes hat die Frage nicht so gestellt, aber einen Anhaltspunkt um sie positiv zu beantworten, hat er doch hinterlassen. Die Herrscher wollten, so Hobbes, reich sein, was den Gedanken nahe legt, dass für die Machteliten eine effiziente und leistungsstarke Wirtschaft auch dann wünschenswert wäre, wenn sie sie nicht wegen der Waffen bräuchten. Jedoch ist der Reichtum laut Hobbes nicht der stärkste Affekt oder Trieb der Menschen, sondern Ehre und Macht. In dieser Hinsicht hat sich Hobbes als hervorragender Menschenkenner erwiesen und manches zur praktischen Psychologie beigetragen, was von Anfang an von vielen anerkannt wurde und auch heute noch von kaum jemandem bestritten wird. Wir fassen es kurz zusammen.

Eigentlich braucht der Mensch nicht viele materielle Güter, weil die Evolution seit Millionen von Jahren ständig und mit Nachdruck auf die Minimierung des körperlichen Energieverbrauchs hingearbeitet hat. Deshalb kann die Anhäufung von Gütern sehr schnell ein Niveau erreichen, auf dem diese Güter ihrem Besitzer nicht mehr einer direkten Befriedigung der Bedürfnisse dienen können. Wie niedrig dieses Niveau ist, wird man sich bewusst, wenn man darüber nachdenkt, unter welchen fast unglaublichen Entbehrungen Homo sapiens immer wieder überleben konnte. Dazu sagen wir später noch Einiges. Die uneingeschränkte Habgier kann also keinen richtigen biologischen Sinn haben und einen evolutionären erst recht nicht. Das Problem entsteht, dass der Mensch Bedürfnisse entwickelt hat, die bei vergleichbaren biologischen Arten in dieser Ausprägung völlig unbekannt sind. Deshalb bezeichnet man sie oftals „künstlich“ oder auch als „unecht“ und „nicht generisch“. Das hat einerseits mit den recht „künstlichen“, also nicht artgerechten Lebensumständen des modernen Menschen zu tun und andererseits damit, dass der Mensch vernunftbegabt ist. Gerade weil er vernunftbegabt ist, verliert er nur zu leicht den Blick für die Realität und strebt danach, allein aus der Vernunft gestrickte Bedürfnisse zu befriedigen. Einfacher ausgedrückt: der Mensch kann phantasieren. Er kann sich in seine Wünsche hinein- und seine Bedürfnisse übersteigern. Wie zufrieden stellend seine Lage auch ist, er kann sich mühelos eine angeblich noch bessere vorstellen. Zu solchen mit „Herumvernünftelei“ monströs aufgeblasenen Bedürfnissen gehören diejenigen, die man im Allgemeinen als Ehrgeiz und Machtgier bezeichnen kann. Und sie sind zugleich auch die gefährlichsten, wie Hobbes meinte. Sie sind es deshalb, weil sie nicht vermehrt werden können. Sie bedeuten schließlich nicht den Kampf ums Dasein, sondern um den Vorrang, so dass man sie auch als Positionsgüter bezeichnet. Einer kann nur dann mehr von ihnen bekommen, wenn der andere weniger bekommt. Die Ökonomen sagen dazu auch Nullsummenspiel. Deshalb kann es den Herrschenden gar nicht so wichtig sein, dass die Gesellschaft reich ist. Wenn der Reichtum bei allen absolut zunehmen würde, würde das keinem besondere Vorteile bringen. Der Vorteil entsteht erst dann, wenn man den anderen ärmer macht. Je weniger der Ärmere hat, vor allem wenn es schon um die Güter der elementaren Existenz geht, desto mehr ist er vom Reichen abhängig und erpressbar. Der wahre Reichtum ist nicht eine absolute, sondern eine relative Größe. Wenn also die Machteliten reich werden wollen, brauchen sie nicht eine leistungsfähigere Wirtschaft, sondern eine die von unten nach oben umverteilt. Dessen sind sie sich sehr wohl bewusst. Die letzten Jahrzehnte liefern dafür ein Beispiel, das für das Bilderbuch bestens geeignet wäre. Die Wirtschaft ist in den westlichen Gesellschaften deutlich geringer als in den Jahrzehnten nach dem Krieg gewachsen, trotzdem sind die Machteliten trunken vor Begeisterung wie wunderbar alles läuft. Von ihrem Standpunkt aus gesehen ist dem in der Tat so.

Wir stellen also fest, dass Hobbes in seiner staatspolitischen Auffassung gegen seine eigenen anthropologischen Erkenntnisse verstößt. Wenn Ehrgeiz und Machtgier die stärksten Triebe sind, auch bei den Herrschenden, dann kann es für die letzteren, wenn sie rationale Egoisten sind, nicht im Interesse sein, den allgemeinen Wohlstand zu mehren. Man kann davon ausgehen, dass dies den Untertanen nicht gefallen wird. Das können wir heute gut beobachten. Die Menschen werden immer unzufriedener und versuchen sich zu wehren. Wie aussichtslos solche Widerstände sein können, haben wir schon erörtert. Sollte die Lage für die Herrscher gefährlich werden, dann haben sie auch noch eine Option sich zu retten, vorausgesetzt, sie wären als rationale Egoisten fähig zu kooperieren. Die unfähigen Herrscher können nämlich ihre unzufriedenen Untertanen in den Krieg schicken, dass sie sich gegenseitig abschlachten und nicht mehr die bestehende Ordnung gefährden. Diese „Maßnahme“ ist auch dann gut anwendbar, wenn die Bevölkerung einfach nur sehr rasch wächst. Hier hat Hobbes, der Empiriker, etwas sträflich übersehen.

Die absolutistischen Herrschaften waren eigentlich nie die friedlichsten, eher ist es umgekehrt. Man kann davon ausgehen, dass es den Herrschenden schon immer geläufig war, die Kriege zu diesem Zweck zu missbrauchen. Es lässt sich daraus schließen, dass sie immer dann die Kriege gestoppt haben, als es deutlich wurde, dass die andere Seite vor der totalen Niederlage steht. Bis da hat man schon genug junge Menschen auf beiden Seiten abgeschlachtet, die dann keine Unruhen mehr hätten stiften können, so dass der Krieg seine Aufgabe erfüllt hat. Diese Strategie der absolutistischen Herrschaft hat George Orwell in seinem bekannten Roman „1984“ auf eine zugespitzt provokative und zynische Weise als „Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus“ beschrieben. Die interessantesten Auszüge stehen im Anhang dieses Beitrags. Vor diesem Hintergrund muss man sich fragen, was der heutige sogenannte „Krieg gegen den Terror“ eigentlich ist.

Die absolutistische Klassenherrschaft als Alternative zur absolutistischen Alleinherrschaft

Der absolutistische Alleinherrscher ist in der Tat die einzige logische staatspolitische Konsequenz, wenn man von den anthropologischen Annahmen ausgeht, dass die Menschen - und damit auch die Herrscher - sowohl extrem böse als auch extrem individualistisch sind. Entzieht man dieser Konzeption die zweite Annahme, dass sie also doch nicht extrem individualistisch wären, ist die absolutistische Alleinherrschaft nicht mehr die einzige Möglichkeit um zu verhindern, dass die Gesellschaft durch Anarchie und Kriege untergeht. Die ebenso wirksame Alternative heißt Klassenherrschaft. Dass Hobbes diese Alternative übersehen hat, wurde ihm auch vorgeworfen.

„Hobbes übersah die Möglichkeit einer Klassenbindung, die den auseinanderstrebenden Kräften der Marktgesellschaft entgegenwirkt. Geht man mit Hobbes davon aus, dass es keinen Klassenzusammenhalt gibt, so bleibt für die Errichtung der notwendigen politischen Macht kein anderer Weg, als dass alle Individuen ihre Rechte einem sich selbst verewigenden souveränen Körper überantworten.“ ... >

Der Grund, warum Hobbes die Klasse bzw. die Klassenherrschaft als eine Alternative dem politischen Autokraten fern jeder Vorstellung lag, lässt sich unschwer finden. Man muss nur bedenken, wann Hobbes seine Theorie verfasst hat. Als er lebte (1588-1679) gab es schon große Fortschritte in der Kampftechnik, Schießpulver und Muskete hatten bereits Schwerter und Bogen ersetzt, in der Produktion sah jedoch alles ziemlich so aus wie noch viele Jahrhunderte zuvor. Um sich bewusst zu sein, in welcher Zeit Hobbes lebte, soll man bedenken, dass genau das hundertste Jahr nach seinem Tod geschrieben wurde, als James Watt endlich so weit war, sein epochales Patent Nr. 913 für die erste funktionsfähige Dampfmaschine anzumelden. Und auch danach mussten noch mehrere Jahrzehnte vergehen, bis die Wirtschaft die Errungenschaften der Ersten industriellen Revolution produktionstechnisch realisieren konnte und die neue Klasse der Industriellen entstanden ist. Nichts davon konnte Hobbes ahnen. Die Untertanen in seiner Zeit waren eine ziemlich homogene Masse, die hauptsächlich zu einer ökonomischen Klasse gehörte, den Bauern, die noch Knechte waren, der kleine Rest waren nicht viel besser stehende Handwerker. Es stimmt, es gab auch noch reiche Kaufleute, die Hobbes „von Natur geschworene Feinde“ des Staates und seiner Steuern nennt. Und er verachtete zutiefst ihren Ehrgeiz, der nur darin bestünde, „durch die Weisheit des Kaufens und Verkaufens grenzenlos reich zu werden“. Weil aber das Geld und die Geldschöpfung dem Souverän oblag und auch die Kirche gegen das Geld was hatte - wenn es sich nicht um ihr eigenes Geld handelte -, konnte damals die Klasse der reichen Händler nicht so mächtig und einflussreich sein. Insoweit ist es verständlich, dass Hobbes diese Klasse auch nicht für besonders gefährlich hielt und überhaupt, dass er in Kategorien wie Klasse und Klassengesellschaft gar nicht dachte.

Bei der neuen Klasse der reichen Bürgerlichen war dies aber ganz anders. Ihre ökonomische Stärke ist zu einer immer größeren Macht in der Gesellschaft geworden. Durch den Besitz von Produktionsmitteln konnten sie immer mehr Menschen, als Lohnarbeiter, von sich existenziell abhängig machen. Die neue Klasse, die später Kapitalistenklasse genannt wurde, hat die Peitsche und das Zuckerbrot an sich gerissen. In der Sprache der modernen Soziologie würde man sagen, dass in der neuen kapitalistischen Ordnung die zentralistische durch strukturelle Gewalt ersetzt wurde. Wo immer es geht, wird der Bürger nicht mit der Strafe und dem Schmerz zu etwas gezwungen, sondern man lässt ihn unter der Brücke verhungern. Die „harte“ Gewalt wurde durch die „sanfte“ Erpressung ersetzt. Wie sich herausgestellt hat kann, wer die Produktionsmittel monopolisiert, die von der eigenen Arbeit lebende Bevölkerung auf eine friedliche Weise de facto zumindest so gut kontrollieren und disziplinieren wie mit rohen Mitteln. Der Bedarf nach dem Staat als Überwacher und Züchtiger hat sich damit deutlich verringert. Außerdem wurde es der neuen Klasse möglich, mit dem Geld die Staatsdiener und Politiker zu korrumpieren, und zwar noch besser als es die von Hobbes verachtete Klasse der reichen Händler in der Lage war, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Die neue Klasse der Industriellen wurde bald viel reicher als die der Händler. Das ist der weitere Grund, warum die neue Klasse von Anfang an einen schwachen Staat bevorzugte. Je weniger Staatsdiener und Politiker es gibt, und je weniger sie was zu sagen haben, desto weniger braucht man sie zu schmieren. Kein Wunder also, dass im Kapitalismus nichts öfter und leidenschaftlicher diskutiert wird, als was der Staat nicht tun soll oder darf. Das Ideal der neuen Machteliten ist der minimale Staat.

Auf den ersten Blick scheint es, dass diese historische Entwicklung die staatstheoretische Auffassung von Hobbes obsolet gemacht hat. Die freie Marktwirtschaft wurde später in der Tat nicht mit einem absolutistischen, sondern mit einem minimalen Staat realisiert. Wenn man aber bedenkt, dass die freie Marktwirtschaft ohne einen starken Staat immer wieder zusammenbrach, dass sie periodisch ökonomische Krisen (Depressionen) verursachte, die manchmal so verheerend wie die natürlichen Katastrophen waren, lässt sich nicht einfach sagen, dass Hobbes theoretisch ganz daneben lag. Ironischerweise ist es immer so, dass beim Ausbruch der Krise auf einmal das, was noch gestern als Irrtum oder gar Unsinn galt, zur höchsten Weisheit erklärt wird. Die Klasse der Kapitalisten ruft dann ungeniert nach einem rettenden Staat und dieser zögert nicht. Auf einmal ist er so stark, wie es die herrschende Klasse will, wie wir es heute bei der Bankenrettung sehen konnten. Als ob Hobbes, dieser erste überzeugte ökonomische Liberale, geahnt hätte, dass die freie Marktwirtschaft sich selbst überlassen nicht funktionsfähig ist.

Empirische Tatsachen gegen die extrem böse und extrem unsoziale menschliche Natur

Für den Beweis, dass der Mensch böse wäre, mussten für Hobbes vor allem und hauptsächlich die Kriege herhalten. Kein Wunder also, dass Hobbes sich viel Mühe gab zu überzeugen, dass dem Menschen der Krieg sozusagen im Blut liegt. So schreibt er: 

„Gab es auch gleich niemals eine Zeit, in der ein jeder eines jeden Feind war, so leben doch die Könige und die, welche die höchste Gewalt haben, miteinander in ständiger Feindschaft. Sie haben sich wechselseitig in stetem Verdacht; wie Fechter stehen sie gegeneinander, beobachten sich genau und halten ihre Waffen in Bereitschaft, ihre Festungen und Kriegsheere an den Grenzen und ihre geheimen Kundschafter im Feindeslande. Ist das nicht wirklicher Krieg?“ ... >

Es gibt unzählige Geschichtsberichte, die uns wissen lassen, dass die Könige und die Adeligen rücksichtslos gemordet haben und selbst gemordet wurden. Das war auch nicht anders als Hobbes gelebt hat, so dass er daraus schloss, dass der Mensch homo homini lupus ist. Der Stammvater des Sozialdarwinismus, Herbert Spencer (1820-1903), war ebenfalls ein überzeugter Liberal und auch er hielt den Menschen nicht für besser als Hobbes, und er hat sich auch Gedanken darüber gemacht, warum die Staatsoberhäute und Adeligen damals dermaßen gefährlich lebten. Dies hätte angeblich nichts mit der bösen menschlichen Natur zu tun, so Spencer, sondern es seien die Irrtümer der Herrschenden des vormodernen Zeitalters gewesen: die Klassenvorurteile. Bei dieser Erklärung muss man fast schmunzeln. Die Herrscher konnten damals nicht begreifen, so Spencer, dass durch eine andere Organisation der Gesellschaft vieles einfach verschwunden wäre, was ihnen das Leben schwer und gefährlich machte, wie etwa:

„beständige Fehden mit seinen Nachbarn, offene Angriffe, Ueberfälle, Hinterlist, Rachethaten von seinesgleichen, Verräthereien von Niedrigem, das beständige Tragen von Waffen und Rüstung, das fortwährende Gezänk der Diener und Streitigkeiten unter den Vasallen ..., welche dem Leben ein vergleichsweise frühes Ende bereitete, wenn es nicht im Kampfe oder durch Mord gewaltsam abgekürzt wurde. Der Pair unserer Tage weiss, dass er sich weit besser ohne Vertheidigungsmittel, Waffen, Gefolge und Leibeigene, als sein Vorfahr mit denselben, befindet. Sein Landhaus ist sicherer, als ein zinnenbewehrter Thurm, er ist sicherer unter seiner unbewaffneten Dienerschaft, als ein Feudalherr, umgeben von bewaffneten Leibwachen, war; er ist weniger in Gefahr, indem er ohne Waffen einhergeht, als es der gepanzerte Ritter mit Lanze und Schwert war.“ ... >

Man muss schon stauen, dass gerade der Stammvater des Sozialdarwinismus uns belehren sollte, dass die Vervollkommnung der Rasse und der „sociale Fortschritt“ nicht durch einen uneingeschränkten individuellen und Klassenegoismus stattfinden. „Ein vernünftiger Egoismus ... ist nur mit einer weniger egoistischen Natur vereinbar“,... > so Spencer wörtlich, und er prophezeit sogar, dass „sich die leitenden Klassen der Zukunft vielleicht bei verminderter Macht vermehrten Glückes erfreuen werden“.... > Es wäre also für sie von Vorteil, wenn Reichtum und Macht in der Gesellschaft gleichmäßiger verteilt wären.

Die anderen Hobbes’schen Versuche um nachzuweisen, dass ein Mensch nie ein großes Problem hat einen anderen zu töten, sind noch hilfloser und unglücklicher. Wie etwa der Bibelbeweis:

„Aber, möchte jemand sagen, es hat niemals einen Krieg aller gegen alle gegeben! Wie, hat nicht Kain seinen Bruder aus Neid ermordet?“ ... >

Sogar wenn das Märchen von Kain, der seinen Bruder aus purem Neid ermorden sollte, wahr wäre, was wäre damit bewiesen? Es lässt sich natürlich nicht daran zweifeln, dass es unter den Menschen schon immer Streitereien gab, die mit Mord endeten, aber kann man so etwas als Krieg bezeichnen? Man kann es nicht. Zwischen den einzelnen Morden und dem Krieg liegt ein riesiger quantitativer Unterscheid. Es geschieht nämlich recht selten, dass aus Neid, Eifersucht oder auch kriminellen Motiven getötet wird. Die Menschen, die keine Probleme haben zu töten und zu quälen, die dies sogar genießen, sind eine große Ausnahme und die Menschen, welche dies nicht tun, die Normalität. Man kann sogar erstaunt sein, dass die Menschen so wenig morden, auch wenn sie so oft in fast unerträgliche Zustände geraten. Beispiele dafür sind nicht schwierig zu finden, erwähnen wir einige:

Wir brauchen gar nicht sehr in die Geschichte zurückzugehen, der Alltag in den westlichen Gesellschaften reicht uns aus. Zum prägenden Merkmal dieser Gesellschaften, seitdem sie sich industriell entwickelt haben, sind die Städte mit Millionen von Einwohnern. Die versinken nicht in völliger Anarchie und absolutem Chaos - in einem Krieg aller gegen alle. Nimmt man den Menschen als extrem böse und unsozial an, ist es schwer die Existenz solcher Städte zu erklären. Es gibt vieles, was für eine erstaunliche Friedfertigkeit der Menschen spricht, obwohl sie sich tagtäglich in Stresssituationen befinden. Man denkt an die Warteschlangen an der Supermarktkasse, an das Gedränge auf den öffentlichen Plätzen und in den Verkehrsmitteln, an die Staus auf den Autobahnen und an das Getümmel auf den Konzerten oder Sportereignissen. Wären die Menschen nicht so friedlich und geduldig, müssten dort Massenpaniken oder gar Krawalle die Regel sein, die mit Ordnungshütern kaum lösbar sein dürften. Außerdem haben die großen Städte auch ihre Armuts- oder sogar Elendsviertel, wohin sich die Ordnungshüter nur selten wagen. Wären die Menschen rücksichtslose Egoisten und gewissenslose Mörder, in einer solchen Notlage sollten sie sich innerhalb kurzer Zeit gegenseitig niedermetzeln. Es ist zwar unbestreitbar, dass Elendsviertel von Kriminalität und Bandenkriegen geplagt sind, aber sie bestehen und wachsen sogar.

Wie wir gesehen haben, haben Hobbes und manche Anthropologen und Denker am Anfang der Moderne die Tierwelt beobachtet, um etwas über die „wahre“ menschliche Natur herauszufinden. Daran ist nichts auszusetzen, da der Mensch ein biologisches Wesen ist. Wenn wir also die biologischen Anlagen des Menschen zum Morden und zur Gewalt untersuchen, ist es durchaus angebracht - oder gar zwingend - nicht nur Philosophen, Soziologen und Psychologen zu befragen, sondern auch Zoologen. Einer von ihnen, der sich näher mit der Frage beschäftigt hat, wie es um die instinktiven Tötungshemmungen beim Menschen bestellt ist, ist der Engländer Desmond Morris. Bevor er sich mit dem Menschen als zoologisches Studienobjekt befasste, hatte er jahrelang in Zoos gearbeitet. Dort stellte er fest, dass die Bedingungen künstlich hergestellter Lebensräume das Verhalten der Tiere ändern.

„Unter normalen Umständen, in ihren natürlichen Lebensräumen, verstümmeln sich wilde Tiere nicht selbst, masturbieren nicht, greifen ihren Nachwuchs nicht an, entwickeln keine Magengeschwüre, werden keine Fetischisten, leiden nicht an Fettleibigkeit, gehen keine homosexuellen Paarbindungen ein, und begehen keine Morde. Es ist müßig, extra darauf aufmerksam zu machen, dass sich unter menschlichen Stadtbewohnern alle diese Dinge ereignen. Zeigt sich hier ein grundlegender Unterschied zwischen der menschlichen Spezies und anderen Tieren? Auf den ersten Blick scheint dem so zu sein. Aber das täuscht. Andere Tiere verhalten sich unter bestimmten Umständen auch so, vor allem dann wenn sie an die unnatürlichen Bedingungen der Gefangenschaft gebunden sind. Das Zootier im Käfig zeigt all die Abnormalitäten, die wir von unseren Mitmenschen so gut kennen. Die Stadt ist also eindeutig kein Asphaltdschungel, sondern ein Menschenzoo.“ ... >

Wenn das Leben in den Städten überhaupt funktioniert, so lässt sich aus Morris Studien folgern, ist das ein schlagender Beweis dafür, dass der Mensch keine biologische Fehlkonstruktion ist. Mit dem Buch „The naked Ape“ (Der nackte Affe), in dem Morris das  Wesen des typischen modernen Menschen mit zoologischen Methoden untersuchte sorgte er in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts für einige Aufregung. Den Kritikern, die dem Menschen eine unumgängliche Selbstvernichtung prophezeien, wirft er vor, dass sie versehentlich oder absichtlich nicht alle Tatsachen berücksichtigt haben, um ihre „Wahrheit“ zu untermauern. Vor allem würden sie einen wichtigen Umstand übersehen:

„Die Nachrichten, die uns präsentiert werden, sind fast immer schlechte Nachrichten, aber auf jeden Akt der Gewalt oder Zerstörung kommen eine Million Akte des Friedens und der Freundlichkeit. Wir sind gemessen an unserer Bevölkerungsdichte wirklich eine erstaunlich friedfertige Spezies, aber unsere weit verbreitete Friedfertigkeit schafft es nicht in die Schlagzeilen.“ ... >

Man kann in der Tat vom Erfolg der menschlichen Rasse sprechen, wenn man bedenkt, dass trotz der Konkurrenz um Ressourcen und Lebensraum immer noch für immer mehr Menschen auf unserem Planeten gesorgt wird. Das wurde und wird einerseits durch immer bessere bzw. sparsamere Technologien, andererseits durch die „Erfindung“ der städtischen Siedlung erreicht. So konnte die menschliche Spezies ihre Erfolgsgeschichte bisher immer weiter fortsetzen, jedoch nicht ohne manche schlechte Nebenwirkungen. Der Mensch musste seine Lebenswelt vom Beginn der Zivilisation an so sehr verändern, dass sie seinen biologischen Eigenschaften immer weniger entsprach. Das ist bedauerlich, aber eine Rückkehr zum „Naturzustand“, also alle Zivilisationen abzureißen, wäre eine viel schlimmere Alternative. Dies wäre ohne einen extremen Rückgang der Bevölkerungsdichte völlig unmöglich. Dass die Menschen dies trotzdem nicht tun und lieber ertragen in einem „Menschenzoo“ zu leben, ist ein indirekter Beweis, dass der Mensch doch lieber teilt als tötet, dass also Homo sapiens doch ein zoon politikon ist- wie ihn schon Aristoteles bezeichnet hat. Es gibt also berechtigten Grund zur Hoffnung, dass der Mensch gut und klug genug ist, aus seiner Situation das Beste zu machen.

Könnte es sein, dass der Genozid an den Juden während des Zweiten Weltkriegs als endgültiger Beweis taugt, dass die Menschen doch nicht erfolgreich sind und dass sie doch keinerlei Probleme mit dem Morden und der Gewalt haben? Der polnisch-britische Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman wurde mit Studien über den Zusammenhang zwischen der Kultur der Moderne und dem Totalitarismus, vor allem dem deutschen Nationalsozialismus und dem Holocaust weltweit, auch über die Grenzen des Fachs, bekannt. Er selber hat tief greifende Erfahrungen mit Krieg, Nationalsozialismus, Stalinismus und Demokratie durchlebt. In seiner Untersuchung des Holocaust stellt er fest:

„Am 9. November 1938 fand in Deutschland ein Ereignis statt, das als Kristallnacht Einzug in die Geschichtsbücher hielt. Jüdische Geschäfte, jüdische religiöse Stätten und Häuser wurden mit offizieller Ermunterung und in einer gesteuerten Aktion von einem tobenden Mob überfallen, zerstört, in Flammen gesetzt und verwüstet. Rund einhundert Menschen wurden in dieser Nacht umgebracht. Die Kristallnacht war das einzige größere Pogrom in Deutschlands Städten während des Holocaust und der einzige Vorfall, der dem Muster der jahrhundertealten Tradition antijüdischer Übergriffe folgte. In der Tat ähnelte die Kristallnacht den Pogromen früherer Zeit und ist vergleichbar mit den kollektiven Gewalttaten, die im Altertum, im Mittelalter und noch in vorindustrieller Zeit in Rußland, Polen oder Rumänien an Juden verübt wurden. Hätte die nationalsozialistische Behandlung der Juden sich lediglich auf Kristallnächte und Pogrome gestützt, man könnte sich damit begnügen, jener vielbändigen Chronik, die amoklaufenden Emotionen, lynchenden Mobs oder plündernder und vergewaltigender Soldateska gewidmet ist, eine weitere Fußnote, bestenfalls ein neues Kapitel anzufügen. Aber es sollte anders kommen.“ ... >

Daraus schlussfolgert er, dass Massenmord von der Größenordnung des Holocaust als Aneinanderreihung von Kristallnächten nicht vorstellbar ist, geschweige denn durchführbar wäre:

„Man vergegenwärtige sich die nackten Zahlen. Deutschland vernichtete rund 6 Millionen Juden. Bei 100 Toten pro Tag hätte dies 200 Jahre in Anspruch genommen. Übergriffe des Mobs beruhen auf gewalttätigen Emotionen, der falschen psychologischen Basis. Man kann die Wut der Menschen manipulieren, aber Wut läßt sich nicht 200 Jahre lang konservieren. Emotionen haben biologische Ursachen und daher einen natürlichen zeitlichen Verlauf; Zerstörungslust und selbst Blutgier sind irgendwann befriedigt. Emotionen sind außerdem unbeständig und können sich wenden. Ein lynchender Mob ist unberechenbar und kann plötzlich Mitleid empfinden - etwa für ein verletztes Kind. Die Vernichtung einer ganzen „Rasse“ setzt aber voraus, daß auch die Kinder umgebracht werden.
Wut und Zorn sind erstaunlich primitive und ineffiziente Werkzeuge der Massenvernichtung. Sie werden gewöhnlich stumpf, bevor das Ziel verwirklicht ist, und sind daher für monumentale Projekte ungeeignet, zumindest wenn es um mehr geht als die vorübergehende Unterstützung von Gewalt und Terror, den Sturz einer alten Ordnung oder das Wegbereiten für neue Herrscher.“ ... >

 Bauman schließt auch aus, dass sich die Gräueltaten durch irgendwelche genetische Defekte der Einzelnen erklären lassen.

„Der Holocaust kann mittlerweile nicht mehr, wie anfänglich, als Greueltat von geborenen Verbrechern, Sadisten, Psychopathen, Soziopathen oder moralisch defekten Individuen interpretiert werden. Die Fakten widerlegen diese Theorie, obwohl die historische Forschung zu diesem Komplex keineswegs als abgeschlossen gelten kann.
Legt man herkömmliche klinische Kriterien zugrunde, könnte man höchstens 10 Prozent der SS-Leute als ‚anomal’ bezeichnen. Diese Beobachtung läßt sich mit Aussagen von KZ-überlebenden belegen, denen zufolge in den meisten Lagern nur einige wenige SS-Aufseher wegen besonders sadistischer Grausamkeiten berüchtigt waren. Galten die übrigen auch nicht unbedingt als anständig, so doch zumindest als berechenbar..
Wir sind der Überzeugung, daß die überwiegende Mehrheit der SS-Männer, Führer sowohl als Mannschaften, ohne Probleme die Anforderungen der psychologischen Standardtests für amerikanische Rekruten oder Polizisten erfüllt hätten.“ ... >

Solche Befunde, dass die Vollstrecker in übergroßer Mehrzahl des Genozids ganz normale Menschen waren, verletzen unser moralisches Empfinden, so dass wir am liebsten davon nichts wissen wollen. Es weckt bei uns eine Angst, dass die Wahrnehmung dieser Tatsachen zwangsläufig zu einem Geständnis führen würde, dass in dem Menschen doch ein Mörder schlummern würde. Diese Angst ist jedoch unbegründet. Einzelne Verbrechen und Morde lassen sich auf spontane individuelle Affekte und Triebe zurückführen, auf genetische Fehler bei seltenen Individuen, Massenverbrechen und Massenmorde jedoch nicht. Beim genauerem Hinschauen werden wir immer feststellen, dass sie zum Einen organisiert und zum Anderen die Folge einer unerträglichen Lage der Gesellschaft sind, in der große Teile der jeweiligen Bevölkerung an den Rand des Wahnsinns getrieben worden waren:

1: Die großen Verbrechen sind immer „von oben“ initiiert, koordiniert oder gar organisiert. Das ist möglich, weil Gehorsam gegenüber autoritär auftretenden Personen offensichtlich tief in jedem Menschen angelegt ist. Das bekannteste Experiment, dessen Ergebnisse in diese Richtung weisen, ist das des amerikanischen Psychologen Stanley Milgram aus dem Jahr 1961.... >Woher dieser Gehorsam kommt, ist nicht ohne weiteres zu sagen. Möglicherweise hat er seinen Ursprung in der menschlichen Stammesgeschichte, aber wie dem auch sei, seine Existenz ist eine unbestrittene Tatsache. Genauso lässt sich feststellen, dass der Gehorsam noch viel stärker wird, wenn die Autorität erfolgreich ist: wenn man sie allgemein bewundert oder gar vergöttert. Das war der Fall mit Hitler. Er ist ein gutes Beispiel, weil man über ihn viel weiß. Bekanntlich lassen sich ganze Bibliotheken mit Recherchen und Forschungen füllen, mit denen versucht wurde, dem geheimnisvollen Dämon in der Seele dieses Menschen auf die Spur zu kommen. Bei so vielen Mühen würde man sich fast sicher sein müssen, etwas zu finden. Man hat aber nichts gefunden. Das Erschreckende an diesem Menschen war gerade seine Normalität. Man kann seinen Wahn, ein ganzes Volk zu vernichten, erst mit seinen großen Erfolgen und seinem späteren Scheitern erklären. Wie bekannt ist, wurde in nur wenigen Jahren der Hitlerherrschaft aus einer kollabierten Wirtschaft ein davor nie gesehenes Wirtschaftswunder, gekrönt mit etlichen sozialen Errungenschaften; nach wenigen weiteren Jahren wurde eine bestens ausgerüstete Armee geschaffen. Deswegen wurde Hitler von Millionen, nicht nur in Deutschland, vergöttert. Seine Tragödie war, dass er selbst begonnen hat, einen allmächtigen Gott in sich zu erblicken, der die ganze Welt nach seiner Vorstellung neu erschaffen könnte. So entstand die fatalste aller Kombinationen: Erfolg plus Macht. Der Erfolg ist der effektivste Umweg das Gute im Menschen durch die Vernunft zu unterdrücken. Als sich dann herausstellte, dass das Projekt Drittes Reich doch nicht so erfolgreich war und zu scheitern drohte, war der Holocaust Hitlers Rache. Müsste der Nationalsozialismus abtreten, werde er die Tür hinter sich zuschlagen, dass der Welt Hören und Sehen vergehen werde - hat doch schon Goebbels unmissverständlich angekündigt.

2: Die Erfolge der Nazizeit haben deshalb als ein richtiges Wunder gewirkt, und die ganze Welt hat auf Deutschland wie das Kaninchen auf die Schlange gestarrt, weil der Kapitalismus gerade wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrach. In Deutschland war die Lage besonders schlimm, und sie verschlechterte sich immer weiter durch die Umsetzung der Maßnahmen, welche die Jünger von Mises, Hayek, Röpke und den anderen neoliberalen Schreibtischtätern vorgelegt haben. Im Anhang 2 sind diese Maßnahmen kurz dargestellt. Man kann unschwer erkennen, dass diese Maßnahmen genau dasselbe sind, was man in den letzten Jahrzehnten als „Reformen“ bezeichnet. Die Lage am Ende der Weimarer Zeit war einem sozialen Genozid ganz nahe. Die damaligen Machteliten haben es offensichtlich in Kauf genommen, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung für eine unbestimmte Zeit richtig ausgehungert werden sollte, damit der freie Markt angeblich in Fahrt kommt und das ihm nachgesagte Wunder vollbringt. Man hat die Menschen zum Wahnsinn getrieben und das hatte seine Folgen:

„Der Holocaust hat uns gezeigt, wie schnell Menschen, die man in eine Situation zwingt, in der es keine gute Entscheidung mehr gibt, oder in der der Preis für gute Entscheidungen unendlich hoch ist, die Frage moralischer Verpflichtung verdrängen oder gar nicht erst stellen und sich statt dessen ganz dem Gebot des rationalen Interesses und der Selbsterhaltung unterwerfen. In jedem System, in dem Rationalität und Ethik in entgegengesetzte Richtungen weisen, bleibt die Humanität auf der Strecke. Das Böse kann nun ungehindert seinen Lauf nehmen und darauf bauen, daß die Menschen im Normalfall von spontanem, leichtsinnigem Handeln Abstand nehmen - und der Widerstand gegen das Böse ist nun einmal leichtsinnig und spontan. Das Böse braucht keine fanatisierten Anhänger und auch kein begeistertes Publikum. Allein der Selbsterhaltungstrieb genügt, wenn er von dem tröstlichen Gedanken genährt wird, selbst noch nicht an der Reihe zu sein und sich durch Passivität womöglich retten zu können.“ ... >

Auch der Holocaust, so folgern wir daraus, war kein handfester Beweis, dass die Massenverbrechen ihre Ursache in der menschlichen Natur haben, weil er die Folge einer vorherigen Traumatisierung war. Schon gar nicht war der Holocaust ein Krieg aller gegen alle, weil er organisiert war. Im buchstäblichen Sinne des Wortes ist nicht einmal der richtige Krieg so etwas wie Krieg aller gegen alle, also aller Individuen untereinander. Zum Schluss können wir auch dazu noch ein paar Worte sagen. 

Nach simpler Definition ist Krieg der Kampf zweier Gruppen von Menschen gegeneinander. Die Gruppen bestehen zwar aus Individuen, aber sie handeln nicht nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen der zur Gruppe gehörigen Individuen. Diese sind von außen gesteuert und zwar dermaßen, dass der individuelle Wille, außerhalb sehr enger Grenzen, sogar bestraft wird. Die Kriege sind also nur möglich, weil das Individuelle unterdrückt wird. Hier hat Hobbes, der Empirist, auch etwas sträflich übersehen. Es reicht nämlich nicht nur, das individuell Böse - eigennütziges Handeln - zu unterdrücken, sondern es muss das individuell Gute - gemeinnütziges Handeln - gestärkt werden. Wie sonst sollten überhaupt kompakte Gruppen entstehen, die gegeneinander kämpfen könnten? Wären alle Menschen rücksichtslose Individualisten, müssten sie sich bei jeder Gelegenheit um die Ausführung von Befehlen drücken und das Feuer des Feindes auf ihre Kameraden lenken, um selbst mit dem Leben davonzukommen. Tatsächlich ist das nicht der Fall. Und die Soldaten lassen sich auf dem Schlachtfeld nicht einfach gegenseitig im Stich. Es kommt oft vor, dass ein Soldat seinem Kameraden unter Einsatz des eigenen Lebens zu Hilfe eilt, ohne dass es ihm extra befohlen werden muss. Es gibt auch viele Berichte, denen zufolge sogar Soldaten der Gegenseite Mitgefühl und Hilfe vom eigentlichen Feind erfuhren. Der österreichische Psychotherapeut und Philosoph Paul Watzlawick berichtet davon, wie sich in den Grabenkämpfen des 1. Weltkriegs in Flandern zwischen deutschen und britischen Streitkräften spontane Nichtangriffsrituale herausbildeten, wie etwa das gegenseitige Ignorieren von Spähtrupps. Die Offiziere kamen natürlich bald dahinter und es ist Watzlawick zufolge ein Tagesbefehl eines britischen Kommandeurs überliefert, der dieses Verhalten durch Androhung harter Strafen unterdrücken sollte. Was dann passierte, mag man kaum glauben:

„Durch das Verbot des „Leben-und-Lebenlassens“ wurden die Leute in den Schützengräben in ein manichäisches Dilemma versetzt. Entweder sie befolgten die Befehle von oben und schossen auf den Gegner, wann immer er sich zeigte; setzten sich aber damit der sofortigen Vergeltung für diesen Bruch des stillschweigenden Nichtangriffspaktes aus. Oder sie respektierten weiterhin den inoffiziellen Waffenstillstand und riskierten damit, vor ein Kriegsgericht zu kommen.
Das sich aus diesem Dilemma spontan ergebende tertium war die Wiederentdeckung eines bewährten Rezeptes aus den Zeiten des spanischen Weltreichs … (man gehorcht, aber man führt [die Befehle] nicht aus.) … In Flandern … war es nicht anders: Man gehorchte den Schießbefehlen, schoß aber daneben - und der dankbare Gegner tat dasselbe.“ ... >

Wenn man dies alles berücksichtigt, kann man mit Erleichterung sagen, dass Machiavelli und Hobbes sich irren. Der Mensch ist nicht so böse, wie sie es geglaubt haben. Er ist es nur, wenn er in hoffnungslose Lagen gerät. Der berühmte österreichische Zoologe Konrad Lorenz, einer der Hauptvertreter der klassischen vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie), das Forschungsgebiet, das er selbst auch als „Tierpsychologie“ benannt hat, brachte es auf den Punkt:

„Mit anderen Worten, die natürlichen Neigungen des Menschen sind gar nicht so schlecht. Der Mensch ist gar nicht so böse von Jugend auf, er ist nur nicht ganz gut genug für die Anforderungen des modernen Gesellschaftslebens.“ ... >

Und wenn es doch nicht stimmt, dass der Mensch so böse ist, kann man sich auch Hoffnung machen, dass er doch etwas Besseres verdient hat als Tyrannen - den Leviathan. Man muss aber die Gesellschaft so umgestalten, dass die hoffnungslosen Situationen nicht möglich sind. Die Nachfolger von Hobbes haben sich dieser Aufgabe angenommen.


     Anhang 1:
          Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus, George Orwell, 1984


Das Hauptziel der modernen Kriegführung ... besteht in dem Verbrauch der maschinellen Erzeugnisse, ohne den allgemeinen Lebensstandard zu heben. Seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts war in der industriellen Gesellschaftsordnung das Problem immer latent, was man mit der Überproduktion von Verbrauchsgütern anfangen sollte. Gegenwärtig, da wenige Menschen auch nur genug zu essen haben, ist dieses Problem offensichtlich nicht dringlich. Die Welt von heute ist ein armseliger, hungerleidender, jämmerlicher Aufenthaltsort, verglichen mit der Welt von vor 1914, und das gilt noch in verstärktem Maße, wenn man sie mit der imaginären Zukunft vergleicht, die die Menschen jener Zeit erwarteten. Anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts gehörte die Vision einer zukünftigen unglaublich reichen, über Muße verfügenden, geordneten und tüchtigen Gesellschaftsordnung - einer schimmernden antiseptischen Welt aus Glas, Stahl und schneeweißem Beton - zum Vorstellungsbild nahezu jedes gebildeten Menschen. Wissenschaft und Technik entwickelten sich mit wunderbarer Geschwindigkeit, und die Annahme schien natürlich, daß sie sich immer weiterentwickeln würden. Das war jedoch nicht der Fall ... Von dem Augenblick an, als die Maschine zum erstenmal in Erscheinung trat, war es für alle denkenden Menschen klar, daß die Notwendigkeit der Mühsal, und damit zum großen Teil auch die Ungleichheit der Menschen, erledigt waren. Wenn die Maschine wohlüberlegt mit diesem Ziel vor Augen in Dienst gestellt wurde, dann konnten Hunger, überstunden, Schmutz, Elend, Unbildung und Krankheit in ein paar Generatio¬nen überwunden werden. Und tatsächlich hob die Maschine, ohne für einen solchen Zweck eingesetzt zu werden, sondern durch eine Art automatischen Prozeß - indem sie nämlich einen überflüß produzierte, den zu verteilen sich manchmal nicht umgehen ließ -während eines Zeitraums von ungefähr fünfzig Jahren am Ende des neunzehnten und am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts den Lebensstandard des Durchschnittsmenschen sehr beträchtlich.
      Aber es war auch klar, daß ein allgemein wachsender Wohlstand das Bestehen einer hierarchisch geordneten Gesellschaft bedrohte, ja tatsächlich in gewisser Weise ihre Auflösung bedeutete. In einer Welt, in der jedermann nur wenige Stunden arbeiten mußte, in der jeder genug zu essen hatte, in einem Haus mit Badezimmer und Kühlschrank wohnte, ein Auto oder sogar ein Flugzeug besaß, in einer solchen Welt wäre die augenfälligste und vielleicht wichtigste Form der Ungleichheit bereits verschwunden. Wurde dieser Wohlstand erst einmal Allgemeingut, so bedeutete er keine Vorzugsstellung mehr. Es war zweifellos möglich, sich eine Gesellschaftsordnung vorzustellen, in der Wohlstand im Sinne von persönlichem Besitz und Luxusartikeln gleichmäßig verteilt war, während die Macht in den Händen einer kleinen privilegierten Schicht lag. Aber in der Praxis würde eine solche Gesellschaftsordnung nicht lange Bestand haben. Denn sobald alle gleicherweise Muße und Sicherheit genossen, würde die große Masse der Menschen, die normalerweise durch die Armut abgestumpft war, sich heranbilden und selbständig denken lernen. Und war es erst einmal soweit, so würden sie früher oder später dahinterkommen, daß die privilegierte Minderheit keine Funktion hatte, und würden sie beseitigen. Auf lange Sicht war daher eine hierarchisch geordnete Gesellschaft nur auf einer Grundlage von Armut und Unbildung möglich.
      Zu einer ackerbautreibenden Vergangenheit zurückzukehren, wie es einige Denker zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts er¬träumten, war keine ausführbare Lösung. Sie stand im Widerspruch mit der fast auf der ganzen Welt gleichsam instinktiv gewordenen Mechanisierungstendenz, und außerdem war jedes industriell zurückgebliebene Land in militärischer Hinsicht hilflos und dazu verurteilt, direkt oder indirekt von seinen fortschrittlichen Rivalen beherrscht zu werden. ... Das Problem bestand darin, die Räder der Industrie sich weiter drehen zu lassen, ohne den wirklichen Wohlstand der Welt zu erhöhen. Verbrauchsgüter mußten zwar produziert, durften aber nicht unter die Leute gebracht werden. Und in der Praxis war der einzige Weg, dieses Ziel zu erreichen, eine immerwährende Kriegführung.
      Die Hauptwirkung des Krieges ist die Zerstörung, nicht notwendigerweise von Menschenleben, sondern von Erzeugnissen menschlicher Arbeit. Der Krieg ist ein Mittel, um Materialien, die sonst dazu benützt werden könnten, die Massen zu bequem und damit auf lange Sicht zu intelligent zu machen, in Stücke zu sprengen, in die Stratosphäre zu verpulvern oder in die Tiefe des Meeres zu versenken. Sogar wenn nicht wirklich Kriegswaffen zerstört werden, so ist ihre Fabrikation doch ein bequemer Weg, Arbeitskraft zu verbrauchen, ohne etwas zu erzeugen, was konsumiert werden kann. In einer Schwimmenden Festung zum Beispiel steckte eine Arbeitsleistung, mit der man mehrere hundert Frachtschiffe bauen könnte. Am Schluß wird sie als überholt abgewrackt, ohne jemals jemandem wirklichen Nutzen gebracht zu haben, und mit einem weiteren riesigen Arbeitsaufwand wird eine neue Schwimmende Festung gebaut. Im Prinzip dienen die Kriegsanstrengungen dazu, jeden Überschuß, der vielleicht nach Befriedigung der unerläßlichen Bedürfnisse der Bevölkerung verbleiben könnte, aufzuzehren. In der Praxis werden die Bedürfnisse der Bevölkerung immer unterschätzt, mit dem Ergebnis, daß eine chronische Verknappung der Hälfte aller lebenswichtigen Güter herrscht; aber das wird als Vorteil angesehen. Es ist gewollte Politik, sogar die privilegierten Gruppen am Rande der Not zu halten, denn ein allgemeiner Verknappungszustand hebt die Bedeutung von kleinen Privilegien hervor und vergrößert so den Unterschied zwischen einer Gruppe und einer anderen. ... Die soziale Atmosphäre gleicht der einer belagerten Stadt, in der der Besitz eines Stückes Pferdefleisch den Unterschied zwischen Reichtum und Armut bedeutet. Gleichzeitig läßt das Bewußtsein, im Kriegszustand und deshalb in Gefahr zu sein, es als die natürliche, unvermeidliche Bedingung für ein Weiterleben erscheinen, die gesamte Macht in die Hände einer kleinen Kaste zu legen.
      Der Krieg erfüllt nicht nur, wie man sehen wird, das notwendige Zerstörungswerk, sondern erfüllt es auch in einer psychologisch annehmbaren Weise. Im Prinzip wäre es ganz einfach, die überschüssige Arbeit der Welt dadurch verpuffen zu lassen, daß man Tempel und Pyramiden baut, Löcher gräbt und sie wieder zuschüttet, oder sogar große Mengen von Gütern erzeugt und sie dann verbrennt. Aber damit wäre nur die wirtschaftliche, nicht aber die gefühlsmäßige Basis für eine hierarchische Gesellschaftsordnung geschaffen. Es geht hier nicht um die Moral der Massen, deren Einstellung unwichtig ist, solange sie fest bei der Arbeit gehalten werden, sondern um die Moral der Partei selbst. ... Gerade in der Inneren Partei sind Kriegshysterie und Feindhaß am stärksten vertreten. ... Mittlerweile schwankt kein Inneres Parteimitglied einen Augenblick in seinem mystischen Glauben, daß der Krieg echt ist und mit einem Sieg enden muß, bei dem Ozeanien als der unbestrittene Beherrscher der ganzen Welt hervorgeht.

     Anhang 2:
          Das Weimarer neoliberales Verbrechen gegen die Menschlichkeit


Später hat Brüning Deutschland verlassen und wurde in den Lehrkörper der Universität Harvard aufgenommen. Dort schilderte er jedem, der es hören wollte - so erzählt uns Galbraith -, "die schlimmen Folgen, die das (darauffolgende) Abgehen von seiner rigorosen Sparpolitik haben mußte, einer Politik, von der er steif und fest behauptete, daß sie mit der Verzweiflung, aus der heraus erst der Faschismus seinen Zulauf hatte, nicht das mindeste zu tun gehabt hätte".
1: S. 267
Die Steuerreform vom Sommer 1925 trug dem Grundsatz der "Wirtschaftlichkeit der Steuerlast". ... In deutlicher Abkehr von dem Umverteilungseffekt der Steuerreform Erzbergers wurde die Spitzenbesteuerung der Einkommen von 60 Prozent um ein gutes Drittel herabgesetzt, während der Minimalsteuertarif von 10 Prozent bestehen blieb. ... Der Anstieg der Einnahmen aus der Lohnsteuer und den Massenverbrauchssteuern stand in deutlichem Gegensatz zum Aufkommen aus allen anderen Steuerarten.
2: S. 272
Ende 1925 überstieg die Arbeitslosigkeit erneut die Zweimillionengrenze.
2: S. 273
Obwohl Brüning seine politische Karriere als Mitarbeiter Adam Stegerwalds und Generalsekretär des Deutschen Gewerkschaftsbundes begonnen hatte, besaß er als Finanzexperte niemals ein engeres Verhältnis zur Arbeiterschaft.
2: S. 357
Es gelang Brüning im Juli 1930 nicht, für ein derartiges Regierungsprogramm eine parlamentarische Mehrheit zu finden. Damit wurde endgültig die Politik der Notverordnungen und die Ausschaltung des Parlaments eingeleitet. Brüning, längst davon überzeugt, daß der Parlamentarismus eine Lösung der Staats- und wirtschaftspolitischen Probleme der sich verschärfenden Finanz- und Wirtschaftskrise nur behindere, reagierte auf seine Abstimmungsniederlage mit der Auflösung des Reichstags.
      Das wirtschaftspolitische Programm setzte Brüning mit Hilfe des Artikels 48 der Weimarer Verfassung auf dem Verordnungsweg in Kraft. Seine wichtigsten Elemente waren die Kürzung der Staatsausgaben und eine konsequente Politik der Deflation. Angesichts der Erfahrungen während der großen Koalition wurde der Haushaltssanierung der Rang eines höchsten wirtschaftspolitischen Zieles zugemessen. Selbst noch ein Jahr später, im Mai 1931, als die Arbeitslosenziffer bereits die 4-Mill.-Grenze überschritten hatte, forderte der Staatssekretär im Reichsfinanzministerium, Schaffer, in einer Denkschrift zur Krisenfrage, dass der Deckung des Haushaltes "das Primat vor allen anderen Aufgaben" zuzuweisen sei.
3: S. 102
Das deutsche Preis-. und Lohnniveau sollte um 20 Prozent sinken ... Die dritte Notverordnung zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 6. Oktober und die vierte vom 8. Dezember 1931 dienten diesem Ziel. Löhne und Gehälter wurden per Dekret abgesetzt.
      Die staatlichen Investitionen, Subventionen an die private Wirtschaft und die Sozialausgaben wurden weiter stark gekürzt. Im Jahr 1932 brachte Brüning den Reichshaushalt dadurch annähernd zum Ausgleich, aber die Investitionstätigkeit wurde so stark gedämpft, daß die Nettoinvestitionen in Deutschland negative Werte erreichten. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosenzahl 1932 auf über sechs Millionen Personen.
      Die Nationalsozialisten witterten Morgenluft. In ihrer Presse etikettierten sie Brünings Notverordnungen als "Konjunkturabkurbelungspolitik" und erarbeiteten gleichzeitig Pläne für eine expansive Geldpolitik. Die Tragik der Weimarer Republik liegt darin, daß ausgerechnet die extreme Rechte die Ursachen der Verschärfung der Wirtschaftskrise in Deutschland, nämlich die gleichzeitig restriktive Geld- und Haushaltspolitik, richtig erkannte.
4: S. 165
Nach und nach wurde der Kreis Empfangsberechtigten beschnitten, die Wartezeit verlängert (7-21 Tage je nach Familienstand), die Bezugsdauer verkürzt (von 26 auf 20 Wochen im Falle des Arbeitslosengeldes und von 39 auf 32 Wochen im Falle der daran anschließenden Krisenfürsorge) und die Bemessungsgrundlage reduziert (auf das der Arbeitslosigkeit vorhergehende Arbeitsentgelt von maximal 40 Wochenstunden). Im Juni 1931 wurden schließlich die Leistungsansprüche um 6,3% bis 14,3% herabgesetzt. All das zusammen reduzierte die durchschnittlichen Ausgaben pro Versicherten von 81 auf 57 Mark im Monat. ... Vom Dezember 1931 an brauchte die Unfallversicherung Wegeunfälle gar nicht mehr und Arbeitsunfälle nur noch dann zu entschädigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um mehr als 20% verminderten. Die Rentenversicherung strich zur gleichen Zeit die Kinderzuschüsse und die Waisenrenten, verlängerte die Wartezeiten ... Die Krankenkassen schließlich wurden dazu verpflichtet, nur noch die gesetzlich festgelegten Leistungen zu erbringen. ... Die durchschnittlichen Ausgaben pro Versicherten sanken von 1929 bis 1932 um mehr als 1/3.
        Die Einkommen im öffentlichen Dienst (einschließlich der Pensionen) wurden in drei Raten herabgesetzt. Die Notverordnung vom Dezember 1930 senkte die Beamten-und Angestelltengehälter um 6%, ... Im Juni 1931 wurden die Gehälter um weitere 4-8 % und nun auch die Löhne um 2-3,5% reduziert. Abschließende Kürzungen der Gehälter um 9% und der Löhne um 10% im Dezember 1931 erhöhten die Einbuße an Nominal-Einkommen für die Beamten und Angestellten auf insgesamt 18-21% und für die Arbeiter auf 12-13%.
13: S. 326
Brüning begriff nicht, daß er sich zum Vollstrecker derjenigen Interessen gemacht hatte, die den Konjunktureinbruch zum Abbau der Sozialleistungen und zu umfassenden Lohnsenkungen zu nutzen gedachten.
2: S. 361
Obwohl diese Wirtschaftspolitik Brünings weitgehend die Krise verstärkt hat, ging sie den Industrieführern doch nicht weit genug; sie forderten eine zweite Lohnsenkungsrunde und Verzicht auf Preissenkungsaktion und ließen Brüning, als er dies nicht energisch genug betrieb, im Herbst 1931 fallen.
        Jedoch nicht nur ökonomische Interessen, sondern auch "überkommene soziale Mentalitäten und Verhaltensweisen" des autoritären Kapitalismus kamen jetzt in einem kontinuierlich vorgetragenen Angriff auf die sozialstaatliche Komponente der Weimarer Verfassung selbst zur Geltung. Die Forderung nach Auflockerung bzw. Aufhebung des kollektiven Tarifvertragssystems, besonders nach Aufgabe der staatlichen Zwangsschlichtung bei Arbeitskämpfen (als letzter Möglichkeit, wenn die Tarifpartner sich nicht einigen konnten) und nach Abbau der staatlichen Sozialleistungen (Sozialversicherung, Arbeitslosenfürsorge), bildeten die Komponenten dieser Offensive. Ihr Ziel ließ sich nur erreichen, wenn es noch unter dem Druck der Krise durchgesetzt wurde, bevor ein etwaiger Wiederaufschwung auch den Gewerkschaften stärkeren Einfluß geben konnte.
8: S. 69
Das erste Land, das die im Innern unpopulären Opfer auf sich nehme, werde "an die Spitze kommen", so erläuterte der Kanzler Anfang Oktober 1930.
2: S. 439
Die Sozialdemokratie folgerte aus dem Kampf um die Demokratie jedenfalls die Notwendigkeit, die Brüningsche Präsidialpolitik der Notverordnungen zu tolerieren, d.h. praktisch zu unterstützen. Die Masse aber verlor wachsend den Kontakt zu ihren Führern. Sie sah nur die steigende Belastung der Arbeitnehmerschaft, die anwachsende Arbeitslosigkeit und verstand die Beweggründe einer Politik nicht, die ... in den Augen der breiten Masse nur ständige Siege der privatkapitalistischen Wirtschaft mit sich brachte. Die Gewerkschaften aber verloren auf diese Weise mehr und mehr das Vertrauen ihrer Anhänger, die für diese Politik auch die Gewerkschaften verantwortlich machten. Als Papen dann, gestützt auf den von eben diesen Arbeitnehmern gewählten Reichspräsidenten von Hindenburg, die Sozialdemokratie und mit ihr die Weimarer Koalition in der Preußenregierung gewaltsam ausschaltete, besaßen die Gewerkschaften bereits nicht mehr die Macht, den Abbau der Sozialpolitik, geschweige denn die Unterhöhlung der Weimarer Demokratie aufzuhalten. Die Unternehmerschaft konnte nun im wesentlichen ihre Auffassungen durchsetzen.
5: S. 526
In Kreisen der Wirtschaft überwog anfänglich die Neigung, den Konjunktureinbruch, der sich erst in der zweiten Jahreshälfte 1930 in vollem Umfang bemerkbar machte, auf endogene Ursachen, vor allem überhöhte steuerliche Belastungen und Sozialausgaben zurückzuführen.
2: S. 440
Fast gleichzeitig [30. 10. 1931] nahm auch Carl Friedrich v. Siemens in einer Rede vor amerikanischen Industriellen gegen den angeblich sozialistisch-gewerkschaftsfreundlichen Kurs der Regierung, gegen Tarifrecht und Sozialpolitik Stellung. Er betonte die Bedeutung der nationalsozialistischen Gegenbewegung gegen die „logische Konseauenz des Sozialismus“, den Kommunismus. Indem er „die Bekämpfung des Sozialismus“ als das „Hauptziel“ der NSDAP bezeichnete, sie als ein „ideelles“ Bollwerk gegen die „materialistischen Bestrebungen“ pries und ihre Legalitätsnolitik kommunistischer Revolutionsdrohung entgegensetzte, gab auch dieser durchaus gemäßigte Exponent der Schwerindustrie der wachsenden Rechtsentwicklung der „Wirtschaft“ und ihren verhängnisvollen Illusionen über Charakter und Bedeutung des Nationalsozialismus Ausdruck.
12: S. 389
Dennoch schaffte es die deutsche Wirtschaft in den Jahren von 1930 bis 1933 Exportüberschüsse zu erwirtschaften.
4: S. 120
Die   N o t v e r o r d n u n g   vom 4. September 1932 enthielt den Kern der Popen'schen Maßnahmen. Sie sah Steuererleichterungen für die Produktion ... weiter aber wurde hier die schon lange von der Industrie geforderte Auflockerung der Tarifverträge durch die Möglichkeit durchzuführen gesucht, bei Arbeitszeitunterstreichung und bei betrieblicher Notlage den Tariflohn zu unterschreiten. Für Mehrbeschäftigung von Arbeitsnehmern gewährte die Regierung außerdem Lohnsubventionen.
5: S. 398
"Sozial im besten Sinne des Wortes wird der Staatsmann sein, der durch eiserne Sparsamkeit die Finanzen von Reich, Ländern und Gemeinden in Ordnung bringt und somit der staatlichen Fürsorge überhaupt erst die Möglichkeit verschafft, den notleidenden Arbeitern zu helfen." - Von Papen über sich selbst.
6: S. 332
Trotz in Einschränkung der Leistungen der Arbeitslosenversicherung im Hinblick auf die Unterstützungsdauer, den Kreis der Anspruchsberechtigten und die Höhe der Alimentation, trotz der ständigen Kürzungen in den nachfolgenden Unterstützungsformen, der Reduzierung der Leistungen in Sozial- und Krankenversicherung, der Schrumpfung der Wohlfahrtsfürsorge und der Rentenzahlungen und desgleichen der Abtrennung der Arbeitslosenversicherung vom Reichshaushalt stiegen die Sozialausgaben.
2: S. 445
Die Großindustrie führte den Konjunkturrückgang vornehmlich auf die verfehlte Sozialpolitik zurück und war entschlossen, eine Verringerung der Selbstkosten zu erreichen. Erst langsam setzte sich die Einsicht durch, daß die Krise, die nicht einheitlich verlief, kontraktive Effekte auslöste, die mit einer Senkung der Lohnkosten und Steuern nicht abzufangen waren, und daß sie die Existenz zahlreicher Betriebe unmittelbar bedrohte. Die Industrieproduktion fiel, gemessen an dem Höchststand von 1927/28, bis 1932/33 um mehr als 43 Prozent, die Stahlerzeugung um 65 Prozent.
2: S. 441
Boschs Forderung, eine gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit vorzusehnen, stieß, wie nicht anders zu erwarten war, auf den massiven Widerstand der Schwerindustrie, obwohl Carl Bosch einen Lohnausgleich - in Übereinstimmung mit den Gewerkschaften - ausschließen wollte. Nach außen argumentierte die Schwerindustrie, dies laufe auf eine unzumutbare Erhöhung der Gestehungskosten hinaus.
2: S. 449
Die Regierung Brüning, seit Frühjahr 1930 im Amt, hatte trotz ausgiebigen Gebrauchs des Notverordnungsrechts nicht vermocht, die Krise zu bewältigen. ... Regierung Papen ... zahlte den Unternehmern für jeden zusätzlich eingestellten Arbeiter eine Lohnprämie von 400 RM im Jahr. Dafür stellte sie insgesamt 700 Millionen RM bereit. Außerdem gab sie bei der Zahlung von rückständigen Steuern Steuergutscheine in Höhe von durchschnittlich 40 °/o des bezahlten Betrages aus ..  Der Index der Aktienkurse, der im August 1932 bezogen auf den Durchschnitt der Jahre 1924 bis 1926 bei 52,2 lag, stieg bis zum Dezember auf 61,8..
11: S. 57
Die Regierungserklärung, die Papen als erster Kanzler der Republik über den Kopf des aufgelösten Reichstags hinweg der Öffentlichkeit vorlegte, stand freilich noch ganz im Zeichen der Papenschen Kalkulationen. Sie gipfelte in Anklagen gegen die „Mißwirtschaft der Parlamentsdemokratie“ und berief sich auf die negative Bilanz der vorangegangenen Regierungen, die „keine der notwendigen grundlegenden Reformen“ verwirklicht, durch „steigenden Sozialismus“ die Krise verschärft und „die moralischen Kräfte der Nation verbraucht“ habe..
12: S. 481
Das Schwergewicht [der Regierung Papen] lag auf der Senkung der Ausgaben und dabei so gut wie ausschließlich auf der Kürzung von Sozialleistungen. ... Am schwersten war freilich ein weiteres Mal die Arbeitslosenversicherung betroffen. Die Regierung ließ sich durch die Verordnung dazu ermächtigen, die Sätze der Arbeitslosenunterstützung zu senken und deren Bezug nach Ablauf einer näher zu bestimmenden Bezugsdauer von einer Bedürftigkeitsprüfung abhängig zu machen. Aufgrund der Ermächtigung setzte sie die Arbeitslosenunterstützung wenig später tatsächlich um annähernd 1/4 hinunter und kürzte ihre Bezugsdauer von 20 auf 6 Wochen. ... Damit hatte Papen zwar noch nicht vollends der seit geraumer Zeit vielfach erhobenen Forderung nachgegeben, die Arbeitslosenversicherung in eine Arbeitslosenfürsorge rückzuverwandeln und damit Rechtsansprüche in amtliches Wohlwollen aufzulösen, aber er war auf dem besten Weg dazu.
13: S. 336
Von Papens Rücktritt beendete eine Phase konservativer Illusionen, die nicht zufällig von einem führenden Mitarbeiter der Herrenklub-Zeitschrift "Der Ring" artikuliert wurden. Die unaufgearbeiteten sozialen und politischen Ressentiments einer vergleichsweise kleinen Oberschicht, die ihre angestammten gesellschaftlichen und ökonomischen Privilegien durch das Vordringen des Wohlfahrtsstaates bedroht sah und ihr privates mit dem öffentlichen Interesse gleichsetzte, stellten das soziale Widerlager eines Übergangsregimes dar, das sich nur mittels der kontinuierlichen Staatsstreichdrohung an der Macht zu halten vermochte. Es war charakteristisch, daß es sich gegen die politische Linke mit dem "Preußen-Schlag" widerstandslos durchsetzen konnte, aber bei dem Versuch, die populistische Mobilisierung von rechts in Form der NS-Bewegung einzudämmen, hoffnungslos versagte.
2: S. 590
Die Politik der Weimarer Republik stand allmählich, aber immer eindeutiger, nicht mehr über den Klassen, wie es ihren Vätern vorgeschwebt hatte, sondern sie wurde mehr und mehr ein Spielball dieser Klassen. Eine niedergehende Konjunktur, vor allem aber eine Wirtschaftskrise wie die nun einsetzende, musste diese Demokratie zu einem Instrument einseitiger privatwirtschaftlicher, kapitalistischer Interessen machen.
5: S. 514
Solange ein sozialer Ausgleich noch zustande kam, lebte die Republik. Als die antagonistischen Gruppen hierzu nicht mehr bereit waren, ging sie zugrunde. Grundläge des politischen Kompromisses war der gesellschaftlich-wirtschaftliche Ausgleich. Dieser Ausgleich ist in seinen verschiedenen Erscheinungsformen von Anfang an gefährdet gewesen. Die Arbeitsgemeinschaft zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden bestand nur wenige Jahre. Spätere Erneuerungsversuche scheiterten. Das in der Verfassung vorgezeichnete wirtschaftliche Rätesystem blieb ein Torso. Die im Betriebsrätegesetz vorgesehene begrenzte unternehmerische Mitbestimmung wurde, nicht praktiziert. Arbeitszeit und Lohntarife waren Gegenstand einer Kette von Arbeitskämpfen trotz staatlichem Schlichtungswesen. Die demokratische Schulreform blieb in den Anfängen stecken..
9: S. 329
Als die Konjunktur nach unten ging, benutzten die Unternehmer, nicht mehr auf die Zusammenarbeit mit den Vertretern der Arbeitnehmer angewiesen, ihren auf die Reichspolitik gewonnenen Einfluss im Sinne ihrer Zielsetzungen. ... Sicher hat die Entwicklung der Weltwirtschaftskrise ... das ihre zu dieser politischen Entwicklung beigetragen. Der Kern lag jedoch im Versagen des deutschen Parlamentarismus, der sich die Führung der Politik, hier der Wirtschafts- und Sozialpolitik, aus der Hand winden ließ.
      Die weitere Entwicklung kann auf diesem polischen Hintergrunde nur als folgerichtig bezeichnet werden. ... Die Unternehmer setzten über die Präsidialregierungen ihren Willen durch, die Krise wie die Kriegsfolgen nicht zu Lasten des Ertrags, sondern zu Lasten des Arbeitnehmereinkommens zu überwinden. Die Tatsache, daß die Gewerkschaften zunächst noch politischen Rückhalt besaßen, förderte nur den Kampf der Wirtschaftsmächte gegen die Demokratie selbst. Der Kampf um die Weimarer Sozialpolitik trug so zum Verhängnis der Weimarer Demokratie bei. Mit Papen schien die soziale Demokratie niedergeworfen. Der Versuch Schleichers, auf der Grundlage einer leise ansteigenden Konjunktur erneut mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten, beschleunigte seinen Sturz. Papen und die Schwerindustrie öffneten Hitler das Tor zur Macht.
6: S. 527
Am 24. Januar 1933 meldete sich Zerher mit dem Artikel "Autoritär oder parlamentarisch?" zu Wort. Nachdem Zehrer festgestellt hatte, daß nur das Verlassen der bisherigen wirtschaftlichen und sozialen Linie den autoritären Staat noch retten könne, kam er auf die verworrene Gegenwart zu sprechen. Er fuhr fort:
      Denn es ist bisher leider so gewesen, daß die autoritären Kabinette sich langsam vom Parlamentarismus lösten ... Das Kabinett Brüning setzte sich für die Banken, das Kabinett Papen für die gesamte Privatwirtschaft und das Kabinett Schleicher, trotz der Aufgeschlossenheit des Generals und seines Willens zur Siedlung, für den Grundbesitz ein. ...
      Das Volk glaubt auch nicht mehr daran, daß Wahlen und Parteien die Behebung der Krise bringen werden. Es wehrt sich aber erbittert dagegen, daß der autoritäre Staat dort, wo er handelt, für die Interessen des Großgrundbesitzes, der Großfinanz und der Schwerindustrie handelt ...

      Wäre irgendeines der autoritären Kabinette wirklich sozial gewesen und hätte es im Sinne
      der über 90% des deutschen Volkes gehandelt ...


      Hätten wir auch nur  e i n e  entschlossen Maßnahme eines autoritären Kabinetts erlebt,
      die dem sozialen Willen und den sozialen Notwendigkeiten des Volkes entsprochen hätte, oder ...

       hätten wir die Löhne gehalten und die Arbeitszeit verkürzt, oder ...

       hätten wir eine wirkliche Arbeitsbeschaffung durchgeführt, oder ...

       hätten wir die Millionen und Milliarden, die den Banken, der Industrie oder dem Großgrundbesitz
       zugeflossen sind,
in die breite Masse des Volkes gesteckt ...

6: S. 372
Unter Hitler wurde Deutschland zu einer Karikatur seiner kulturellen Werte. Aber die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik ... tat zunächst genau das richtige: expansive Haushaltspolitik zur Finanzierung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Kombination mit expansiver Geldpolitik. Erst als die Vollbeschäftigung 1936 annähernd erreicht war und sich inflationäre Symptome zeigten, wurde dieser Kurs zu einer Inflationsgefahr. Aber zu diesem Zeitpunkt gab es für Hitler keine höhere Priorität als die Vorbereitung des Krieges. Er steigerte die Rüstungsausgaben gewaltig und benötigte die Notenpresse zu deren Finanzierungen.
4: S. 185
Hier ist der internationale Vergleich besonders aufschlußreich. Von allen westlichen Sozialstaaten schrumpfte nur in der Weimarer Republik der Kreis der Sozialversicherten und der Umfang der Leistungen in einem derart eklatanten Maße. Auch in Großbritannien zum Beispiel fiel die Arbeitslosigkeit extrem hoch aus, doch das Parlament verstand sich keineswegs zu einem Abbau der Sozialpolitik; in Dänemark wurde sie sogar konsequent antizyklisch ausgebaut. Der Unterschied im Vergleich mit stabilen europäischen Demokratien lag darin, daß das Vordringen des autoritären Staates in Deutschland zu einer sozialpolitischen Abbruchstrategie ... führte, die immer tiefer in die Legitimationskrise hineinführte.
7: S. 434
Historisch gesehen trugen der politische und wirtschaftliche Zusammenbruch der deutschen Demokratie und der Aufstieg Hitlers Anfang der dreißiger Jahre maßgeblich dazu bei, dass der damalige Globalisierungsprozess ein Ende fand.
10: S. 7
1: John K. Galbraith, Die Entmythologisierung der Wirtschaft, Paul Zsolnay Verlag, Wien, 1998.
2: Hans Mommsen, Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar, Ullstein, Berlin, 1998.
3: Dietmar Petzina, Die Deutsche Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit, Steiener Verlag, Wiesbaden 1977.
4: Carl-Ludwig Holtfrerich, Requiem auf eine Währung, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 2001.
5: Ludwig Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Franz Mittelbach Verlag, Stuttgart, 1949.
6: Franz v. Papen, Vom Scheitern einer Demokratie, Hase&Koehler-Verlag, Mainz, 1985.
7: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte (Band IV), Verlag C. H. Beck, München, 2003.
8: Fritz Fischer, Bündnis der Eliten, Droste Verlag, Düsseldorf, 1979.
9: Karl Dietrich Erdmann, Die Zeit der Weltkriege, Union Verlag, Stuttgart, 1973.
10: Harold James, Der Rückfall, Pieper Verlag, München-Zürich, 2001.
11: Wolfram Fischer, Deutsche Wirtschaftspolitik, C.W. Leske Verlag, Opladen, 1968.
12: Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, Ring-Verlag, Villingen, 1971.
13: Christoph Müller (Hrsg.), Der soziale Rechtsstaat, Nomos Verlag, Baden-Baden, 1984.
 
 
 
 
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