Fortsetzung:

          Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft

Diese beiden Strukturbegriffe scheinen auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben, tatsächlich aber bezieht sich jeder auf wichtige Aspekte der Strukturierung sozialer Beziehungen, Aspekte, die in der Theorie der Strukturierung vermittels einer Unterscheidung der Konzepte »Struktur« und »System« erfaßt werden. Wenn wir soziale Beziehungen analysieren, müssen wir eine syntagmatische Dimension der Strukturierung sozialer Beziehungen in Raum und Zeit, die die Reproduktion situierter Praktiken beinhaltet, von einer paradigmatischen Dimension unterscheiden, welche eine virtuelle Ordnung von »Strukturierungsmodi« involviert, die in diese Reproduktion rekursiv eingreift. In strukturalistischen Traditionen herrscht gewöhnlich keine Einigkeit darüber, ob Strukturen sich auf eine Matrix zulässiger Transformationen innerhalb einer Menge oder auf Transformationsregeln, die die Matrix selbst beherrschen, beziehen. Zumindest in seiner elementarsten Bedeutung beziehe ich den Strukturbegriff auf solche Regeln (und Ressourcen). Es ist jedoch irreführend, von »Transformationsregeln« zu sprechen, weil alle Regeln ihrer Natur nach transformatorischen Wesens sind. Somit stellt der sozialwissenschaftliche Strukturbegriff auf die Strukturmomente sozialer Systeme ab: diese ermöglichen die »Einbindung« von Raum und Zeit in soziale Systeme und sind dafür verantwortlich, daß soziale Praktiken über unterschiedliche Spannen von Raum und Zeit hinweg als identische reproduziert werden, also systemische Formen erhalten. ... Die am weitesten in Raum und Zeit ausgreifenden Strukturmomente, die in die Reproduktion gesellschaftlicher Totalitäten einbegriffen sind, nenne ich Strukturprinzipien. Jene Praktiken, die in diesen Totalitäten die größte Ausdehnung in Raum und Zeit besitzen, kann man als Institutionen bezeichnen.

Wenn man von Struktur als Regeln und Ressourcen und von Strukturen als isolierbaren Mengen von Regeln und Ressourcen spricht, setzt man sich einer gewissen Gefahr der Fehlinterpretation aufgrund bestimmter vorherrschender Verwendungsweisen des Regelbegriffes in der philosophischen Literatur aus.

1) Regeln werden häufig in Verbindung mit Spielen als formalisierte Vorschriften gedacht. Die in die Reproduktion sozialer Systeme einbegriffenen Regeln entsprechen dem im allgemeinen nicht. Sogar jene, die als Gesetze kodifiziert sind, sind in ihrer Interpretation charakteristischerweise weitaus kontroverser als Spielregeln. Obwohl die Anwendung von Spielregeln wie etwa im Schach, als prototypisch für die regelgeleiteten Eigenschaften sozialer Systeme, häufig mit Wittgenstein assoziiert wird, kommt dem, was Wittgenstein über das Spiel von Kindern als Beispiel für die Routine des gesellschaftlichen Lebens zu sagen hat, eine größere Bedeutung zu.

2) Regeln werden häufig im Singular thematisiert, so als ob sie auf spezifische einzelne Beispiele von Verhalten bezogen werden könnten. Aber diese Interpretation ist dann stark irreführend, wenn sie eine Analogie zum Funktionieren des gesellschaftlichen Lebens, in dem Praktiken in Verbindung mit mehr oder weniger lose organisierten Regelkomplexen aufrecht erhalten werden, herstellen soll.

3) Regeln können nicht ohne Bezug auf Ressourcen konzeptualisiert werden, die sich auf die Weisen beziehen, durch die Transformationsbezie hungen wirklich in die Produktion und Reproduktion sozialer Praktiken inkorporiert sind. Strukturmomente drücken deshalb Formen der Herrschaft und der Macht aus.

4) Regeln implizieren methodische Verfahrensweisen sozialer Interaktion, wie besonders Garfinkel klargemacht hat. Regeln sind typischerweise mit Praktiken in der Kontextualität situierter Begegnungen verzahnt: die gesamten von ihm identifizierten >ad hoc<-Überlegungen sind ständig mit der Realisierung von Regeln verbunden und sind fundamental für die Form dieser Regeln. Jeder kompetente soziale Akteur, dies sollte hinzugefügt werden, ist ipso facto ein Sozialtheoretiker auf der Ebene des diskursiven Bewußtseins und ein methodologischer Spezialist auf den Ebenen sowohl des diskursiven als auch des praktischen Bewußtseins.

5) Regeln haben zwei Aspekte, und es ist wesentlich, diese begrifflich zu unterscheiden, da eine Reihe von Philosophen (wie etwa Winch) dazu neigen, sie zu vermengen. Regeln beziehen sich einerseits auf die Konstitution von Sinn und zum anderen auf die Sanktionierung sozialer Verhaltensweisen.

Ich habe die oben erläuterte Verwendungs weise von »Struktur« eingeführt, um den fixierten oder mechanischen Charakter brechen zu helfen, die der Terminus im orthodox-soziologischen Sprachgebrauch oft hat. ...

Eine der Hauptaussagen der Theorie der Strukturierung ist, daß die Regeln und Ressourcen, die in die Produktion und Reproduktion sozialen Handelns einbezogen sind, gleichzeitig die Mittel der Systemreproduktion darstellen (der Strukturdualität). Aber wie soll man eine solche Behauptung interpretieren? In welchem Sinne gilt, daß, wenn ich meine täglichen Angelegenheiten in Angriff nehme, meine Aktivitäten die umfassenden Institutionen des modernen Kapitalismus einbegreifen und reproduzieren? Welche Regeln werden hier jedesmal beschworen? Man betrachte die folgenden möglichen Fälle dessen, was Regeln sind:

1) »Die Regel, die das Schachmatt im Schach definiert, lautet...«;

2) Eine Formel: an = ln2 + n—1;

3) »In der Regel steht R. jeden Tag um sechs Uhr auf«;

4) »Es ist eine Regel, daß alle Arbeiter um acht Uhr morgens die Stechuhr drücken müssen.«

Selbstverständlich könnten viele andere Beispiele genannt werden, aber diese genügen im gegenwärtigen Zusammenhang. In der Verwendung (3) ist »Regel« mehr oder weniger gleichbedeutend mit Brauch oder Routine. Der Sinn von »Regel« ist hier ziemlich schwach, da sie gewöhnlich nicht irgend­eine Art zugrundeliegendes Gebot, dem das Individuum folgt, oder irgend­eine Sanktion unterstellt, die angewendet wird, um jenes Gebot zu bekräfti­gen: sie ist einfach etwas, was die Person gewohnheitsmäßig tut. Die Ge­wohnheit ist Teil der Routine, und ich werde die Wichtigkeit der Routine im gesellschaftlichen Leben ganz besonders betonen. »Regeln«, wie ich sie ver­stehe, wirken gewiß auf zahlreiche Aspekte des Routinehandelns, aber eine Routinehandlung ist nicht als solche eine Regel.

Die Fälle (1) und (4) repräsentieren für viele zwei Typen von Regeln, die konstitutiven und die regulativen. Die Regel, die das Schachmatt im Schach bestimmt, zu erklären, heißt, etwas darüber zu sagen, was das Schach als Spiel seinem Wesen nach ausmacht. Die Regel, daß Arbeiter zu einer bestimmten Zeit die Stechuhr drücken müssen, hilft andererseits nicht bei der Definition dessen, was Arbeit ist; sie gibt an, wie Arbeit ausgeführt werden soll. Nach Searle können regulative Regeln gewöhnlich in der Form »tue X« oder »wenn Y, tue X« paraphrasiert werden. Einige konstitutive Regeln werden diesen Charakter besitzen, die meisten jedoch werden die Form »X zählt als Y« oder »X zählt als Y im Kontext C« haben (Searle 1969: 34 f.). Daß an dieser Unterscheidung, wenn sie sich auf zwei Typen von Regeln bezieht, etwas nicht stimmt, zeigt sich durch die etymologische Schwerfälligkeit des Terminus »regulative Regel«. Schließlich impliziert das Wort »regulativ« schon »Regel«: seine Wörterbuch-Definition heißt »Kontrolle durch Regeln«. Ich würde zu (1) und (4) sagen, daß sie eher zwei Aspekte von Regeln ausdrücken als zwei verschiedene Typen von Regeln. (1) ist gewiß ein Teil dessen, was Schach ist, aber für diejenigen, die Schach spielen, hat sie sank­tionierende oder »regulative« Eigenschaften; sie bezieht sich auf Aspekte des Spiels, die beachtet werden müssen. Aber auch (4) hat konsumtive Aspekte. Sie geht vielleicht nicht in die Definition dessen ein, was »Arbeit« ist, wohl aber in die Definition eines Konzepts wie »industrielle Bürokratie«. Worauf (1) und (4) unsere Aufmerksamkeit lenken, sind die beiden Aspekte von Regeln: ihre Rolle bei der Konstitution von Sinn und ihre enge Verbindung mit Sanktionen.

Die Verwendung (2) könnte für eine Konzeptualisierung von »Regel« in Beziehung zum Begriff der »Struktur« als am wenigsten aussichtsreich erscheinen. Tatsächlich ist sie jedoch, wie ich darlegen werde, die passendste von allen. Ich will nicht sagen, daß das gesellschaftliche Leben auf einen Satz mathematischer Prinzipien reduziert werden kann; das wäre weit von dem entfernt, was ich im Sinn habe. Ich gehe davon aus, daß wir uns am ehesten mit Blick auf Formeln darüber klar werden können, wie der Begriff der Regel analytisch am sinnvollsten für die Sozialwissenschaften in Anschlag gebracht werden kann. Die Formel an = n2 + n—l stammt aus Wittgensteins Beispielen einer Zahlenreihe (Wittgenstein 1960: 357). Eine Person schreibt eine Reihenfolge von Zahlen nieder; eine zweite arbeitet die Formel aus, die die Zahlen generiert, die danach folgen. Was ist eine Formel dieser Art, und was bedeutet es die Formel zu verstehen? Die Formel zu verstehen, heißt nicht, sie zu äußern. Jemand könnte sie äußern und doch die Zahlenreihe nicht verstehen; umgekehrt ist es möglich, die Reihenfolge zu verstehen, ohne fähig zu sein, der Formel einen sprachlichen Ausdruck zu geben. Verstehen ist kein mentaler Prozeß, der die Lösung des Rätsels begleitet, das die Zahlenreihe aufgibt - zumindest ist es kein mentaler Prozeß in dem Sinne, wie es das Hören einer Melodie oder eines gesprochenen Satzes ist. Es be­deutet einfach, fähig zu sein, die Formel im richtigen Kontext und auf die richtige Art anzuwenden, um die Reihe fortzusetzen.

Eine Formel ist ein verallgemeinerbares Verfahren - verallgemeinerbar, weil sie für eine Reihe von Kontexten und Anlässen Anwendung finden kann; ein Verfahren, weil sie die methodische Fortschreibung einer bestimmten Reihenfolge erlaubt. Sind linguistische Regeln dem ähnlich? Ich denke, sie sind es - vielmehr jedenfalls als der Art von Regeln, von denen Chomsky spricht. Und dies scheint zudem mit Wittgensteins Argumenten übereinzustimmen, oder jedenfalls einer möglichen Deutung von ihnen. Wittgenstein sagte, »eine Sprache zu verstehen, heißt, eine Technik zu beherrschen« (ebd.: 381). Dies kann man in dem Sinne verstehen, daß der Sprachgebrauch primär methodologisch ist und daß Sprachregeln methodisch angewandte Verfahren sind, die in die praktischen Aktivitäten des Alltagslebens einbezogen sind. Dieser Aspekt der Sprache ist sehr wichtig, obwohl ihm von den meisten Anhängern Wittgensteins oft nicht genügend Gewicht beigemessen wird. Regeln, die, wie (1) und (4) oben, »festgesetzt« werden, sind Interpretationen der Aktivitäten ebenso wie Bezüge zu spezifischen Aktivitätsarten: alle kodifizierten Regeln nehmen diese Form an, da sie dem, was getan werden soll, sprachlichen Ausdruck verleihen. Aber Regeln sind Verfahrensweisen des Handelns, Aspekte der Praxis. Mit diesem Hinweis löst Wittgenstein das, was er zu Beginn als ein »Paradox« der Regeln und Regelbefolgung aufstellt. Dies bedeutet, daß von keinem Handlungsverlauf gesagt werden kann, daß er durch eine Regel gelenkt wird, weil jeder Handlungsverlauf in Überein­stimmung mit jener Regel gebracht werden kann. Wenn dies jedoch der Fall ist, ist es auch wahr, daß jeder Handlungsverlauf dazu in Opposition gebracht werden kann. Hier herrscht ein Mißverständnis, eine Vermengung der Interpretation oder des sprachlichen Ausdrucks einer Regel mit der Regelbefolgung (ebd.: 382).

Wir wollen somit die Regeln des gesellschaftlichen Lebens als Techniken oder verallgemeinerbare Verfahren betrachten, die in der Ausführung/Reproduktion sozialer Praktiken angewendet werden. Formulierte Regeln - solche, denen ein sprachlicher Ausdruck als Gesetzeskanon, bürokratische Regeln, Spielregeln usw. verliehen wurde - sind deshalb eher kodifizierte Interpreta­tionsregeln denn Regeln als solche. Sie sollten nicht als Exemplifizierung von Regeln im allgemeinen genommen werden, sondern als spezifische Typen einer formulierten Regel, die dank ihrer offenen Formulierung spezifische Eigenschaften annehmen.

...

Jenen Regeln, die in die Reproduktion institutionalisierter Praktiken -das sind solche Praktiken, die am weitesten in Raum und Zeit ausgreifen - eingelassen sind, kommt für die Sozialwissenschaften die größte Relevanz zu (Giddens 1979: 80 ff.). Die Hauptmerkmale solcher Regeln können wie folgt beschrieben werden:

intensiv   stillschweigend   informell    schwach sanktioniert
  :   :   :  
oberflächlich   diskursiv    formalisiert   stark sanktioniert

Unter intensiven Regeln verstehe ich solche Formeln, die in den Prozeß des Alltagshandelns dauernd einbegriffen sind, die also für die Strukturie­rung eines großen Ausschnitts des Alltagslebens verantwortlich sind. Sprachregeln können hier beispielsweise angeführt werden, aber mit gleichem Recht auch jene Verfahrensregeln, auf die sich Akteure beziehen, um die Abfolge von Rede und Widerrede in Unterhaltungen oder Interaktionen zu organisieren.

Ihnen können Regeln gegenübergestellt werden, welche, wenn auch vielleicht ihrer Reichweite nach umfassend, keinen prägenden Einfluß auf große Ausschnitte des gesellschaftlichen Lebens haben. Der Gegensatz ist bedeutend, obgleich nur, weil es Sozialwissenschaftler gewöhnlich für erwiesen halten, daß den abstrakteren Regeln - etwa kodifizierten Gesetzen - der größte Einfluß auf die Strukturierung sozialer Aktivitäten zukommt. Ich möchte hingegen geltend machen, daß viele scheinbar triviale Verfahrensregeln, denen im täglichen Leben gefolgt wird, eine nachhaltige Wirkung auf den größten Teil des sozialen Verhaltens haben. Die verbleibenden Kategorien sollten sich mehr oder weniger selbst erklären. Die meisten Regeln, die in die Produktion und Reproduktion sozialer Praktiken einbegriffen sind, werden von den Akteuren nur stillschweigend verstanden: sie wissen, sich zurechtzufinden. Die diskursive Formulierung einer Regel ist bereits eine Interpretation eben dieser Rege', und, wie ich bereits angemerkt habe, kann dies auf eine Änderung der Form ihrer Anwendung hinauslaufen. Unter den Regeln, die nicht nur diskursiv formuliert, sondern sogar formal kodifiziert sind, ist der typische Fall der der Gesetze. Gesetze gehören selbstverständlich zu den am stärksten sanktionierten Typen sozialer Regeln und schließen in modernen Gesellschaften eine formell vorgeschriebene Abstufung der Bestrafung ein. Es wäre jedoch ein schwerer Fehler, die Wucht informell in Anschlag gebrachter Sanktionen für eine Reihe alltagsweltlicher Praktiken zu unterschätzen.

Die strukturierenden Eigenschaften von Regeln können zuallererst mit Bezug auf die Formierung, Aufrechterhaltung, Beendigung und Neuformierung von Begegnungen untersucht werden. Obwohl Handelnde bei der Konstitution und Rekonstitution von Begegnungen eine verwirrende Anzahl von Verfahren und Taktiken benutzen, sind wahrscheinlich jene besonders bedeutsam, die für die Aufrechterhaltung von Seinsgewißheit verantwortlich sind. ...

Ich unterscheide zwischen »Struktur« als einem Allgemeinbegriff und »Strukturen« im Plural und beide von den »strukturellen Momenten sozialer Systeme«. Der Begriff »Struktur« bezieht sich nicht nur auf Regeln, die in die Produktion und Reproduktion sozialer Systeme eingehen, sondern auch auf Ressourcen (über die ich bisher nicht viel gesagt habe; ich werde dies aber bald tun). Im üblichen Sprachgebrauch der Sozialwissenschaften tendiert man dazu, den Begriff »Struktur« unter Hinweis auf die dauerhafteren Aspekte sozialer Systeme zu verwenden, und ich will auf diese Konnotation nicht verzichten. Die wichtigsten Aspekte der Struktur sind Regeln und Ressourcen, die rekursiv in Institutionen eingelagert sind. Institutionen sind definitionsgemäß die dauerhafteren Merkmale des gesellschaftlichen Lebens.

Seiten 68-76.

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