Die Voraussetzungen für das Entstehen der marktwirtschaftlichen Ordnung
  Der Fortschritt und die Vervollkommnung des Menschen als neue Wertorientierung
       
 
Das Christentum war von Anfang an, wesentlich und gründlich, Ekel und überdruss des Lebens am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein „anderes“ oder „besseres“ Leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte. Der Hass auf die „Welt“, der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits besser zu verleumden, im Grunde ein Verlangen ins Nichts ... die gefährlichste und unheimlichste Form aller möglichen Formen eines „Willens zum Untergang“, ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Missmutigkeit, Erschöpfung, Verarmung an Leben ... weil Leben etwas essentiell Unmoralisches ist.
 
    Friedrich Nietzschebekannter deutscher skeptizistischer Philosoph und Schriftsteller    
       
 
Was wir uns für den künftigen Zustand des Menschengeschlechts erhoffen, lässt sich auf folgende drei wichtige Punkte zurückzuführen: die Beseitigung der Ungleichheit zwischen den Nationen; die Fortschritte in der Gleichheit bei einem und demselben Volke; endlich die wirkliche Vervollkommnung des Menschen.
 
    Marquis de Condorcetbekannter französischer Philosoph, Mathematiker und Politiker der Aufklärung    
 
Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.
 
    Karl Marxbekannter deutscher Philosoph und Ökonom    

Die antiken Götter haben es lustig getrieben, eigentlich nicht anders als die Menschen, so dass sie von ihnen auch nicht besonders viel verlangten. Mit ein bisschen Opfern, Anbetung und Ritualen hatte man seinen Pflichten den Göttern gegenüber Genüge getan und konnte sich voll und ganz dem Diesseits widmen. Mit dem Christentum hat sich das radikal geändert. Der neue Gott des Abendlandes erhob Anspruch auf den ganzen Menschen, auf seinen Körper und  seine Seele und zwar 24 Stunden pro Tag. Mit dem Christentum ist eine der totalitärsten Weltanschauungen der ganzen Geschichte entstanden. Auf den ersten Blick kann das überraschen, denn das Christentum hat als eine radikal altruistische und äußerst tolerante Morallehre begonnen. Das ist  aber keinesfalls die ganze Wahrheit. Wenn man auch die sozialen Umstände in Betracht zieht, unter denen das Christentum entstanden ist, wird  schell klar, warum es scheiterte oder gar scheitern musste und warum am Ende seines Weges eine Kirchenherrschaft stand, die eine menschenfeindliche Moral predigte sowie alle intellektualistischen Strömungen bekämpfte. Wir geben eine kurze Zusammenfassung dieses Vorgangs.

Es wurde überliefert, dass man Jesus oft weinen gesehen hat, aber nie lachen. Ein Grund dafür kann sein, dass er als religiöser und sozialer Reformator vorerst gescheitert war. Das Christentum ist weniger das Ergebnis seiner Mission, sondern der von Apostel Paulus, der bekanntlich Jesus nie im Leben begegnete. Eine Ähnlichkeit zu Platon und Sokrates lässt sich hier nicht übersehen. Fast alles, was man über Sokrates weiß, stammt bekanntlich von Platon, so dass wir nie erfahren werden, was Sokrates selbst wirklich lehrte und was ihm der selbstherrliche und machtbesessene Platon in den Mund gelegt hat. Man kann aber davon ausgehen, dass Jesus wirklich gekreuzigt wurde. Das gehörte nämlich zur damaligen römischen Praxis der Bestrafung von Rebellen, so dass keiner damals ahnen konnte, welche symbolische Kraft diese Kreuzigung entfalten würde. Vor allem der freie Bürger Roms konnte darin nichts Besonderes erkennen, im Gegenteil. Ihm konnte nicht einleuchten, wie einem Gott, der angeblich mächtiger sein sollte als alle römischen Götter zusammen, nichts Anderes einfallen könnte sich der Welt zu offenbaren, als seinen Sohn demütigen und quälen zu lassen. Wie kann man überhaupt erklären, dass gerade ein solches sadomasochistisches Spektakel des neuen Gottes die Menschen dermaßen faszinieren konnte?

Die Faszination, welche die Kreuzigung des Sohnes Gottes hervorgerufen hat, kann man rational nur auf eine Weise erklären, so wie es etwa Nietzsche getan hat: mit der Mentalität und der Moral der Sklaven. Der Sklave erleidet tagtäglich Demütigungen und Strafen, die nach der Auffassung seines Herren nicht nur verdient sein sollten, sondern auch noch dem Wohle des Sklaven selbst dienlich. Und genau das hat auch Gott Vater mit seinem Sohn gemacht, mit dem Unterschied, nicht die Sünden des Sohnes zu bestrafen, sondern die der Menschen. In den Akt der Kreuzigung hat der Sklave sich selbst projiziert und damit einen Sinn in seine eigene unterwürfige und erbärmliche Existenz hineininterpretiert. Das Christentum ist also vor allem ein soziales Phänomen. Wie es Marx in seinem berühmten Satz sagte: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ Aus der sozialen Perspektive (also dem „gesellschaftlichen Sein“) der freien Bürger Roms heraus war es einfach unmöglich die Symbolik der Kreuzigung zu verstehen. Aber das Christentum hatte auch humanistische Züge, die auch der freie Bürger von Rom verstehen konnte, ja, die ihn beeindrucken und überzeugen konnten, nämlich die Uneigennützigkeit und Anspruchslosigkeit der ersten Christen. Sowohl in seiner ursprünglichen Botschaft als auch in der Praxis der ersten Christen vermittelte die neue Religion der Sklaven den Eindruck, endlich eine Formel für eine humane Gesellschaft gefunden zu haben. Aber es war ein trügerischer Eindruck. Auch für die Uneigennützigkeit und Anspruchslosigkeit der ersten Christen lässt sich eine rein rationale Erklärung finden.

Jesus versprach seinen Jüngern bald wiederzukommen (Joh 14, 1-3), sie sozusagen abzuholen, sobald er im Himmel alles vorbereitet hätte: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. ... Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wieder kommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin.“ Eine noch deutlichere Botschaft steht bei Markus (13, 36-37): „Deshalb sollt ihr zu jeder Stunde auf seine Ankunft vorbereitet sein und nicht etwa schlafen. Was ich euch sage, gilt auch für alle anderen Menschen: Ihr müsst immer wach und bereit sein!“ Und bei Matthäus (24, 34) wird sogar die Frist benannt: „Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis alles dieses geschehen ist.“ Das hier gebrauchte Wort „Geschlecht“ kommt aus dem griechischen Wort „genea“, hat aber auch die Bedeutung „Generation“. Dass das Zitat von Matthäus nicht als „Generation“, sondern mit „Geschlecht“ übersetzt wird, ist leicht verständlich. Erwähnen wir noch, dass im vorletzten Satz der Bibel (Offbg. 22, 20) alles noch einmal bestätigt wird: „Ja, ich komme bald.“

Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass die ersten Christen überzeugt waren, schon sie würden die Wiederkunft Christi erleben, auch Paulus war sich dessen sicher. Unter solchen Umständen konnte es in der Tat kein großes Problem für die ersten Christen sein, auf all das zu verzichten, was sie besaßen - was außerdem für eine überwältigende Mehrheit von ihnen sowieso so gut wie nichts war. Hätte sich die frohe Botschaft als wahr erwiesen, der Verzicht der ersten Christen hätte sich als ein äußerst lukratives Geschäft erwiesen: lukrativer als 6 richtige im Lotto. Der übermenschliche Humanismus und Altruismus der ersten Christen lässt sich also vollständig mit dem „Jüngsten Gericht“ erklären. Nun stellte sich heraus, dass sich die Einrichtung der himmlischen Stätte mühseliger als erwartet erwies und sich immer weiter verzögerte. Die erste Generation wartete auf die Rückkehr Christi vergeblich, auch die zweite, dann die dritte und alle weiteren bis heute noch. Anstatt der erhofften himmlischen Stätte haben die Christen eine unerhofft totalitäre Kirche bekommen, mit machtbesessenen Fanatikern an der Spitze.

Als es offensichtlich wurde, dass sich das mit dem „Jüngsten Gericht“ auf unbestimmte Zeiten verschoben hat, war es für die Menschen des Abendlandes nur folgerichtig, sich nicht so sehr mit den Vorbereitungen für das Jenseits zu beschäftigen, sondern sich mehr Mühe zu geben, das Diesseits besser zu meistern oder gar zu genießen. Die Christen sind sozusagen auf ein ganz „normales“ Menschenmaß geschrumpft. John S. Mill, der letzte große Liberale des 19. Jahrhunderts hat es in seinem sehr berühmten Werk On Liberty wie folgt zusammengefasst:

„Nun können wir aber sicher überzeugt sein, dass bei den ersten Christen die Sache sich völlig anders verhielt. Wäre es so gewesen wie bei uns, so hätte das Christentum sich niemals von einer Sekte der verachteten Hebräer zur Religion des Römischen Reiches entfaltet. Wenn ihre Feinde sagten: „Seht, wie diese Christen einander lieben“ - eine Bemerkung, die heute kaum jemand machen würde -, so hatten die Christen jener Zeit sicher ein viel lebendigeres Gefühl von der Bedeutung ihres Glaubens, als sie seither jemals gehabt haben.“

Es ist merkwürdig, wie schnell die Moral des Christentums degeneriert ist. Erinnern wir uns etwa daran, dass „schon im 5. Jahrhundert die Päpste die größten Grundbesitzer im Römischen Reich waren“... >  und bald befanden diese selbsternannten Gottesvertreter auf Erden es sogar für nötig und berechtigt, ihr Portefeuille mit dem Verkauf von Ablasszetteln aufzustocken. Vor der französischen Revolution verfügten die „obersten Kirchenbeamten, aus dem Hochadel kommend, im Allgemeinen ... 140mal soviel wie die höchstbezahlten Pfarrer, 240mal soviel wie die Vikare und mindestens 400mal soviel wie städtische Tagelöhner“.... > Als später das Kapital ein wichtigeres Produktivvermögen als der Boden wurde, „kontrollierten die Jesuiten, die Elitetruppe des Vatikans ... um 1912 ein Drittel des gesamten spanischen Kapitals“.... > Es hat sich noch einmal herausgestellt, dass die hierarchisch-autoritäre Ordnung nicht in Entferntesten die Eigenschaften besitzt, die ihr Platon angedichtet hatte. Die hohen Posten in der allmächtigen Kirche hatten gar nichts damit zu tun, dass die Besten - die Eliten bzw. die Moraleliten - herrschen, sondern es war eine Frage der Durchsetzungskraft und später sogar eine Frage des Geldes. Die Hierarchie der Kirche war, wie alle anderen Hierarchien, im Großen und Ganzen durch Macht und Geld bestimmt.

Man kann hier noch Dante Alighieri (1265 - 1321), einen der Begründer der italienischen Sprache, als Zeitzeugen erwähnen, der in seiner berühmten Divina Commedia (Göttlichen Komödie) auch Päpste und Kaiser in die untersten Etagen („Kreise“) der Hölle schickte. Der Papst Bonifatius VIII. soll, wegen des Machtmissbrauchs am Niedergang der Menschlichkeit mitschuldig, für die Ewigkeit in der Hölle schmoren. Dieser vertrat nämlich einen totalitären Weltherrschaftsgedanken: die Zwei-Schwerter-Doktrin: Ein Schwert bleibt in der Hand der Kirche, das zweite überträgt die Kirche den weltlichen Herrschern unter der Voraussetzung, dass sie es „auf den Wink und die Zulassung des Priesters“ anwenden. Wer sich der geistlichen Gewalt des römischen Bischofs widersetzt, widersetzt sich somit der Anordnung Gottes. Eine in der Tat sehr merkwürdige Auslegung der „Nächstenliebe“. Es kann also nicht verwundern, dass sich die ersten Denker der Moderne - wie etwa Machiavelli und Hobbes - schon von der Säkularisierung der Politik und der Regierung ganz große Fortschritte erhofft haben. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass ein weltlicher Herrscher so heuchlerisch, rücksichtslos und intolerant wie ein fanatisierter Gläubiger sein könnte. Der weltliche Herrscher würde zwar die Macht über die Körper seiner Untertanen beanspruchen, über die Seele jedoch nicht. Erwähnen wir noch abschließend Adam Smith, der das Problem genauso wie Hobbes diagnostiziert hat, aber die Lösung nicht in einem weltlichen Herrscher sah. Nach ihm sollte gerade die Entwicklung des Gewerbes und des Handels die ungeheuere Macht der Kirche, deren Lehren er für Blendwerk und Aberglauben hielt, zerstören:

„In dem Zustande Europas während des 10. bis 13. Jahrhunderts war die Verfassung der römischen Kirche als der furchtbarste Bund anzusehen, der jemals gegen die Macht und Sicherheit der bürgerlichen Obrigkeit, sowie gegen Freiheit, Vernunft und Glück der Menschheit gebildet worden war, die nur da gedeihen können, wo die bürgerliche Obrigkeit sie zu schützen vermag. In dieser Verfassung waren die gröbsten Täuschungen des Aberglaubens von den Privatinteressen so vieler Menschen in einer Weise unterstützt, daß sie den Angriffen der menschlichen Vernunft unzugänglich blieben ... Aber dieses ungeheure und wohlgefügte Gebäude, das alle Weisheit und Tugend des Menschen nie erschüttert, geschweige überwältigt hätte, wurde durch den na¬türlichen Lauf der Dinge zuerst geschwächt und nachher zum Teil zerstört, und wird in wenigen Jahrhunderten vielleicht gänzlich in Trümmer fallen.
Die allmählichen Fortschritte der Künste, der Gewerbe und des Handels, dieselben Ursachen, die die Macht der großen Barone zerstörten, vernichteten auch in dem größten Teile Europas die ganze weltliche Macht des Klerus.“ ... >

Die Suche nach einem neuen Menschenbild und dem Sinn des Lebens

Historisch betrachtet begann der endgültige Abschied von der heuchlerischen und machtsüchtigen Moral der Kirche im 15. und 16. Jahrhundert, während der Kunstepoche, die später Renaissance (französisch für Wiedergeburt) genannt wurde. Nach der „langen folgenreichen und furchtbaren Nacht des Mittelalters“ - um mit Hegel zu sprechen - hat sich die europäische Kultur der griechischen und römischen Antike geöffnet und sich sie zum Vorbild genommen. Typisch für die Renaissance war der Gedanke vom Menschen als Einzelperson, die als ein schöpferisches Individuum gesehen wurde. Mit der Schöpfung meinte man zuerst die Kunst, aber immer mehr ging es um die Vervollkommnung des Menschen, wie etwa bei Spinoza. 

„Unter gut werde ich daher im folgenden das verstehen, wovon wir gewiß wissen, daß es ein Mittel ist, uns dem Muster der menschlichen Natur, das wir uns aufstellen, mehr und mehr zu nähern. Unter schlecht dagegen das, wovon wir gewiß wissen, daß es uns hindert, diesem Muster ähnlich zu sein.
Ferner werde ich die Menschen vollkommener oder unvollkommener nennen, sofern sie sich diesem Exemplar mehr oder weniger nähern. ... Wenn ich sage, jemand geht von geringerer zu größerer Vollkommenheit über und umgekehrt, ich nicht meine, daß er in ein anderes Wesen oder in eine andere Form verwandelt wird – denn ein Pferd z.B. hört auf, ein Pferd zu sein, ob es in einen Menschen oder in ein Insekt verwandelt würde.“ ... >

So wie der Mensch aufhören würde, ein Mensch zu sein, würde er sich in ein Pferd oder in einen Gott verwandeln - kann man im Sinne Spinozas noch hinzufügen. Was ist aber der Mensch? Was soll zu den „Mustern der menschlichen Natur“ konkret gehören? Wie soll das neue Menschenbild aussehen?

Wie überall, ist es auch bei der Beschreibung des Menschen  am einfachsten zu sagen, was man nicht mag und nicht haben will. So sollten Machtbesessenheit und Habgier, die den Alltag der real existierenden christlichen Ordnungen prägten nicht zum neuen Menschenbild gehören. Auch nicht eine abstrakte Gottesähnlichkeit, die angeblich im Jenseits auf die moralischen „Leistungsträger“ wartet. Es sollte aber zum neuen Menschenbild auch etwas gehören was nicht nur angestrebt wird, sondern das auch attraktiv ist. Das bedeutet, dass der Mensch auf jeden Fall etwas Besseres als ein Tier sein müsste. Da lässt sich in der Tat was finden. Der Mensch besitzt Eigenschaften und Fertigkeiten, die man bei anderen lebenden Wesen nicht findet. Dazu gehört die bereits erwähnte Schaffung der künstlichen Werke. Von Tieren kann man nicht sagen, dass sie ästhetische Lebewesen sind, dass sie das Schöne genießen können. Der Mensch ist aber mehr als das, er ist auch ein rationales und moralisches Lebewesen. Das wurde zur Grundlage des neuen Menschenbilds der Moderne: der Mensch als ästhetisches, rationales und moralisches Lebewesen.

Diese Erkenntnis an sich ist natürlich keine Erfindung der Moderne. Die ästhetischen, rationalen und moralischen Begabungen, Bedürfnisse und Betätigungen des Menschen wurden auch in der vormodernen Zeit gefordert und gefördert, jedoch zur Ehre des Gottes, nicht des Menschen. Das war es, was sich seit Beginn der Moderne grundlegend geädert hat. Die Künstler haben die theologischen Motive verdängt und sind zum Leben des natürlichen Menschen zurückgekehrt - wie in  der Antike üblich. War das rationale Denken früher fast ausschließlich auf Metaphysik und Mathematik beschränkt, wird seit Beginn der Moderne die körperliche Welt - die lebenden Organismen eingeschlossen - zu seinem wichtigsten Betätigungsbereich. Dies hat eine Entwicklung der Naturwissenschaften angestoßen, die bald Ergebnisse gebracht hat, die mit nichts zu verglichen sind, was man je in der Geschichte kannte. Die Umwälzungen in der Ethik waren aber die eigentliche Ursache der neuen Epoche - der Moderne.

Eigentlich ist Ethik ein sehr alter - möglicherweise der älteste - Betätigungsbereich der Denker und Philosophen. Die vormoderne Ethik war aber eine Suche nach Tugenden, die man im theologischen und metaphysischen Untergrund zu finden und zu beweisen suchte. Das Betätigungsfeld der modernen Ethiker war etwas ganz Anderes: der reale Mensch, die soziopolitische Ordnung und die ökonomische Ordnung.

Wie wir bereits gesehen haben, beruhte die Suche nach einer postfeudalen und posttheokratischen Ordnung auf neuen anthropologischen Annahmen, die zugleich eine radikale Umgestaltung des paradigmatischen Rahmens der vormodernen Ethik waren. Die soziopolitischen und staatstheoretischen Entwürfe, die dann entstanden sind, waren erst nach dieser großen paradigmatischen Wende in der Ethik möglich, unabhängig davon, ob sie zur absolutistischen (Hobbes) oder zur demokratischen (Spinoza) Ordnung führten. Am deutlichsten lässt sich diese Wende an den Annahmen einer negativen menschlichen Natur und von menschlicher Gleichheit erkennen. In den folgenden Beiträgen werden wir zeigen, dass die Annahmen der neuen Ethik der Moderne zu den Grundlagen auch der neuen ökonomischen Ordnung wurden: der Marktwirtschaft. Diese war bekanntlich das Werk eines Denkers, Adam Smith (1723-1790), der mit Leib und Seele Moralphilosoph war und sein ganzes Leben geblieben ist. Er hat sich sowohl die Annahmen von negativer menschlicher Natur als auch von menschlicher Gleichheit zu eigen gemacht, und zugleich war er ein großer Humanist, der sich die Vervollkommnung des Menschen zum Ziel setzte. Dazu sollte auch seine neue ökonomische Ordnung beitragen. Bevor wir uns damit befassen, wie und warum gerade die Marktwirtschaft eine dazu geeignete ökonomische Ordnung sein soll, wollen wir die allgemeine Frage beantworten, ob die Wirtschaft überhaupt etwas dazu beitragen kann, den Menschen und die Gesellschaft zu verbessern.

Die materielle Basis als Voraussetzung für die Vervollkommnung des Menschen

Die soziopolitischen und staatstheoretischen Entwürfe der Denker und Philosophen der Moderne, auch wenn sie von der negativen Anthropologie bzw. der negativen menschlichen Natur ausgegangen sind, sollten auch für mehr praktizierte Moral in zwischenmenschlichen Beziehungen sorgen. Daran war auch Smith gelegen, aber nicht nur. Der Untertitel des Buches, in dem er seine Konzeption der Marktordnung beschreibt, heißt: Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Volkswohlstandes. Dieses Werk sollte die „Ursachen der Zunahme in der Ertragskraft der Arbeit“ erklären, also die Ursachen der Produktivitätssteigerung, wie man es heute sagen würde. Was kann aber die Zunahme des Wohlstands mit der Moral zu tun haben?

Wenn die Produktivität steigt, haben die Menschen die Möglichkeit entweder weniger zu arbeiten oder mehr Güter herzustellen. Dass die Befreiung von der Erwerbsarbeit, also die Freizeit, etwas Gutes ist, ist einleuchtend. Schon Aristoteles stellte fest, dass „das Ziel in der Arbeit Muße ist“ (Politik, 1334a). Ohne Freizeit kann sich der Mensch nicht als ästhetisches (Künste) und rationales (Wissenschaften) Wesen entwickeln und betätigen. Wie es Smith feststellt:

„Im Fortschritt der Arbeitsteilung wird die Beschäftigung des größten Teiles derer, die von ihrer Arbeit leben, d.h. der großen Masse des Volkes, auf wenige sehr einfache Verrichtungen, oft nur auf eine oder zwei, beschränkt. Der Verstand der meisten Menschen wird aber selbstverständlich durch ihre gewöhnlichen Beschäftigungen beeinflußt. Der Mann, dessen ganzes Leben ein paar einfachen Verrichtungen gewidmet ist, deren Wirkungen vielleicht stets dieselben oder ziemlich dieselben sind, hat keine Gelegenheit, seinen Verstand anzustrengen oder seine Erfindungskraft zu üben, um Hilfsmittel gegen Schwierigkeiten aufzusuchen, die ihm niemals begegnen. Er verliert mithin natürlich die Gewohnheiten solcher Übungen, und wird gewöhnlich so dumm und unwissend, wie es ein menschliches Wesen werden kann. Die Verknöcherung seines Geistes macht ihn nicht nur unfähig, an einer vernünftigen Unterhaltung Geschmack zu finden oder nur daran teilzunehmen, sondern auch unfähig freier, edler oder zarter Gefühle, und mithin einer richtigen Beurteilung selbst der gewöhnlichsten Pflichten des Privatlebens. ... Seine Geschicklichkeit in seinem Gewerbe scheint also auf Kosten seiner geistigen, geselligen und kriegerischen Fähigkeit erworben zu sein. Dies ist der Zustand, in welchen in jedem zivilisierten Volke der arbeitende Arme, d. h. die Masse des Volkes, notwendig versinken muß, wenn die Regierung nicht Vorsorge dagegen trifft.“ ... >

Es ist nicht nur freie Zeit, die der Mensch benötigt, um sich ästhetisch (Künste) und rational (Wissenschaften) zu betätigen, sondern auch materielle Mittel, manchmal nur geringe, aber manchmal sogar sehr große. Zum Beispiel benötigt Poesie nur sehr geringe Mittel, Architektur schon deutliche größere und wissenschaftliche Grundlagenforschungen gewaltige; man kann zum Beispiel nicht in der Garage an einem neuen Mikroprozessor basteln. Daraus lässt sich zumindest folgern, dass der Wohlstand für die ästhetische und rationale Selbstverwirklichung der Menschen wesentlich ist, wenn auch nur als die Voraussetzung dafür.

Nicht so einfach lässt sich beantworten, ob mehr Freizeit und mehr materielle Mittel auch zum moralischen Fortschritt führen. Auch die modernen Denker und Philosophen waren sich da nicht ganz einig. Man kann nur sagen, dass keiner von ihnen diesen Zusammenhang vorbehaltlos bestritten hatte, wie es früher die Stoiker und danach eine lange Zeit die christlichen Theologen getan haben. Diese veränderte Sichtweise betreffend der Verbesserung der materiellen Verhältnisse hat Alexis de Tocqueville (1805-1859), ein französischer Publizist, Politiker, Historiker und Begründer der vergleichenden Politikwissenschaft, der mit seinem Buch über die Demokratie in Amerika berühmt wurde, wie folgt zum Ausdruck gebracht:

„Die seelische Vervollkommnung hängt enger mit der Verbesserung der materiellen Verhältnisse zusammen, als man denkt.“ ... >

Es gab Denker und Philosophen, die sich von dem materiellen Fortschritt sogar eine radikale Verbesserung der menschlichen Natur erhofft haben, wie etwa die Sozialisten und Kommunisten. Die Erfahrung in den letzten zwei Jahrhunderten zeigt aber, dass der materielle Fortschritt allein doch keine sagenhaften Auswirkungen auf die Moral hat. Auch dann noch nicht, wenn man ihn mit der Gleichheit kombiniert, wie es die Erfahrung in den sozialistischen und kommunistischen Ländern zeigte. Der versprochene „neue Mensch“, ein auf einer „höheren Entwicklungsstufe“ stehender, hat sich nicht einmal leise angekündigt.

Wenn man aber vom moralischen Fortschritt spricht, muss man vorher wissen, was damit gemeint ist. Da gingen schon immer die Meinungen stark auseinander. Trotz aller Unterschiede, kann man auch hier die paradigmatische Wende in der Ethik deutlich erkennen. Wir beschränken uns jetzt nur auf das für uns Wesentliche, um nicht in diese Problematik abzugleiten. Verallgemeinernd gesagt, war für die vormodernen Ethiker ein besserer Mensch derjenige, der tugendhafter war. Was Tugenden bedeuteten und welche die richtigen sein sollten, war man sich nicht einig. Aber auch darauf wollen wir jetzt nicht näher eingehen. Für uns ist nur wichtig, dass diese Tugenden Antworten auf die Frage waren, was der Mensch wollen und tun soll, und zwar Antworten, die man durch theologische Grübeleien und metaphysische Spekulationen zu beantworten versuchte. Konkrete menschliche Eigenschaften und alle anderen empirischen Gegebenheiten haben dabei keine Rolle gespielt. Folglich konnte die persönliche materielle Lage für einen Menschen, der tugendhaft sein wollte, nicht von  Belang sein. Man kann schnell darauf kommen, für wen solche ethischen Lehren schon immer sehr überzeugend und glaubwürdig  waren. Wenn nämlich mehr freie Zeit und mehr materielle Mittel keine Hindernisse für tugendhaftes Leben sind, dann sind sie auch nicht das, was das gemeine Volk nötig hat. Man kann ihm also alles wegnehmen, bis auf das was unbedingt zum Überleben nötig ist. Den Rest können die Herrschenden an sich reißen. Diese zynische und heuchlerische Einstellung der herrschenden „Eliten“ kommt sehr deutlich in dem bekannten Spruch zum Ausdruck, dass zuviel Wohlstand die Sitten verderben ließe.

Den Denkern und Philosophen der Moderne ging es nie um solche abstrakten Tugenden, sondern um eine Gesellschaft, in der alle Menschen ein würdiges Leben führen könnten, und zwar im Einklang mit allen ihren Bedürfnissen, sowohl biologischen als auch geistigen. Der moralische Fortschritt bei diesen Denkern und Philosophen lässt sich stichwortartig als mehr Menschenrechte und mehr Menschenwürde erfassen. In welchem Zusammenhang der auf diese moderne Weise begriffene moralische Fortschritt zu Freizeit und materiellen Mitteln steht, ist leicht zu verstehen:

Wenn jemand auf Freizeit verzichten muss, weil er sonst seine biologische Existenz gefährden würde, ruiniert er seinen Körper und Geist. Es gibt nichts an der Armut, was man ehren und schätzen könnte. Der Mittellose leidet an Hunger, Kälte und Krankheiten, seine geistigen Potentiale verkommen und er stirbt sogar viel früher als es sein müsste. Ein solches Wesen ist eine Schande für das, was man Mensch nennt. Dies ist der eigentliche Grund, warum Smith, auch nachdem er mit seinem epochalen Buch Der Wohlstand der Nationen sich den ewigen Ruhm sicherte, tief in seinem Herzen immer Moralphilosoph blieb. Bekanntlich hat er sich in seinen letzten Lebensjahren, nachdem er als Ökonom berühmt geworden war, fast ausschließlich mit der Umarbeitung und Ergänzung seiner Theorie der ethischen Gefühle beschäftigt. Das Buch, mit dem er seine wissenschaftliche Laufbahn eröffnet hatte, ist in einem gewissen Sinne auch zu seinem Alterswerk geworden, in dem er die reifsten Früchte seines Denkens niederlegte. Wenn man dieses Buch aufmerksam liest, lässt sich deutlich erkennen, dass in ihm der komplette ethische Rahmen vorbereitet war, auf dem 16 Jahre später die Konzeption der Marktwirtschaft gestellt wurde. Schon aus den folgenden zwei Zitaten lässt es sich erahnen: 

„Der Mensch ist zum Handeln geschaffen und ist dazu bestimmt, durch die Betätigung seiner Fähigkeiten solche Veränderungen in den äußeren Verhältnissen, die ihn selbst oder andere Personen betreffen, herbeizuführen, wie sie für die Glückseligkeit aller am günstigsten scheinen mögen. Er darf sich nicht bei einem lässigen, untätigen Wohlwollen beruhigen, noch sich einbilden, daß er darum schon ein Menschenfreund sei, weil er in seinem Herzen für die Wohlfahrt der Welt alle guten Wünsche hegt.
Die Vervollkommnung der Verwaltung, die Ausbreitung des Handels und der Manufaktur sind große und hochwichtige Angelegenheiten.“ ... >
 
 
     
 
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