Pars-pro-Toto als eine primitive und längst überholte Denkweise
  Das Ganze ist weder die Summe der Teile noch ein vergrößerter Teil
 
 
Es ist sinnlos, die Dinge losgelöst voneinander zu betrachten.
 
  Anaxagoras  (499 - 428 v. Chr.), der antike griechische Philosoph Vorsokratiker    
 
Man hat nicht Recht Elementen ... individuelle Qualitäten zuzuschreiben. Der elementare Realismus ist ein Irrtum.
 
  Eugène Dupréel, De la nécessité, Archives de la Société belge de philosophie  
 
In jüngster Zeit neige ich immer mehr dazu, anzunehmen, dass die atomistische Art und Weise des Denkens eine Form milder Psychopathologie ist oder zumindest ein Aspekt des Syndroms der kognitiven Unreife.
 
  Abraham Maslow,  ein bedeutender Psychologe und Gründervater der Humanistischen Psychologie    

Wir haben bereits angedeutet, dass die neoliberale Theorie einige der wichtigsten analytischen Begriffe bzw. Kategorien aus der klassischen Mechanik ökonomisch umgedeutet und übernommen hat. Dazu gehören vor allem die Kategorie Präferenz (Vorliebe, Lust, Genuss, ...), die der Kraft in der Mechanik entspricht und die Kategorie Determinismus. Dasselbe gilt auch für die Kategorie Gleichgewicht, nach dem das neoliberale Modell (des allgemeinen Gleichgewichts) benannt worden ist, aber darüber später. Die neuen Liberalen haben jedoch nicht nur Kategorien aus der klassischen Mechanik übernommen, sondern zugleich auch ihre Denkweise. Später wird sich die neoliberale Theorie von der Mechanik äußerlich und rhetorisch emanzipieren, sie wird sich immer mehr in die reine Mathematik flüchten, aber von ihrer partikel-mechanischen bzw. der pars-pro-toto Denkweise wird sie sich nie mehr befreien. Diese Denkweise wird immer ihre Identität ausmachen und verhindern, dass aus ihr eine richtige Wissenschaft wird.

Die pars-pro-toto Auffassung, wonach sich die größeren Dinge (oder Partikel) linear und kumulativ aus kleineren entwickeln, so dass die Realität in der letzten Konsequenz ein aus elementaren Teilen kombiniertes und zusammengesetztes Sammelsurium darstellt, ist jedoch viel älter als die klassische Mechanik. Sie führt auf die antiken Atomisten (Leukipp, Demokrit, Epikur) zurück, die im fünften Jahrhundert vor Christus gelebt haben. Aber auch diese Philosophen sind keine Entdecker der pars-pro-toto Denkweise gewesen. Sie haben nur eine Denkweise bzw. Auffassung, die schon viel früher bekannt und angewandt worden war, logisch durchdacht und ausformuliert. Man kann sogar davon ausgehen, dass der Mensch gerade so begonnen hat zu denken, indem er also seine einzelnen Sinneseindrücke auf komplexere Situationen und Dinge übertrug. Die par-pro-toto Denkweise stand also ganz am Anfang des Denkens.

Die antiken Atomisten waren überzeugte Materialisten. Sie stellen sich das ganze Universum als einen ziemlich leeren Raum vor, in dem sich materielle Gegenstände anziehen und abstoßen. Das Wesentliche für diese Auffassung war aber, dass sich das Universum aus Atomen völlig von alleine, also aus sich heraus und ohne irgendwelche externen Einflusse, organisiert und funktioniert. Es brauchte kein Zentrum und keinen Lenker. Folglich brauchte es auch keinen Gott, was aber nicht bedeutet, dass alle Atomisten unbedingt Atheisten waren. Es führt in der Tat zu keinem Widerspruch innerhalb der atomistischen Auffassung, wenn Gott beibehalten wird: Man kann ihm nämlich einen Platz des passiven Zuschauers zuteilen. Er wäre dann derjenige, der die Ursache des Universums gewesen war, sich aber nach einem einmaligen Akt der Erschaffung völlig aus der eigenen Schöpfung zurückgezogen hat. Ein solcher Gott wäre also derjenige, der die Welt in die völlige Freiheit entlassen hätte - er wäre ein extrem freiheitlicher (laissez-faire) Gott. Es ist also etwas Wahres dran, wenn einige Kritiker den Liberalismus als „Wirtschaftstheologie“ bezeichnen. (Alexander Rüstow, hat diese These in Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus ausführlich dargestellt und argumentiert.)

Aber wie dem auch sei, mit oder ohne Gott, das Wesentliche für den Atomismus ist die Annahme (Hypothese), dass der ganze Plan der toten und lebendigen Welt in der Materie ein für allemal hinterlegt wird, genauer gesagt in ihren nicht mehr teilbaren Teilchen bzw. Atomen (griechisch átomos, das Unzerschneidbare, Unteilbare). Wenn alle Eigenschaften (Daten) über die Materie in den letzten, unteilbaren und diskreten Elementen aufbewahrt sein sollten, können größere Gegenstände (Bündel von Atomen) keine anderen Eigenschaften aufweisen als diejenigen, die schon in den Atomen hinterlegt worden sind. Die „Idee“ des Ganzen ist also vollständig und für alle Ewigkeit in dessen kleinsten Teilchen aufbewahrt. Wie der Teil so das Ganze: Pars pro Toto.

Die Annahme, das Größere sei nur Summe seiner Teile, hat sich in der Physik als nützlich erwiesen. Die Welt der klassischen Physik entspricht im Wesentlichen der atomistischen Denkweise. Wir erinnern uns daran, was wir in der Schule gelernt haben: Die gesamte Masse eines Körpers ist gleich der Summe der Massen, aus welchen sich der Körper zusammensetzt. Es gilt auch umgekehrt. Zerteilt man den Körper auf mehrere kleinere Körper, ist die Summe der Massen dieser einzelnen Stücke exakt dieselbe, wie die Masse des ursprünglichen ganzen Körpers. Für den Raum und die Zeit gilt dasselbe. Auch jede mechanische Kraft lässt sich auf mehrere Komponenten (räumlich bzw. geometrisch) zerlegen, und wenn man diese wieder zusammenstellt (summiert), bilden sie wieder die ursprüngliche Kraft. Heute wissen wir zwar, dass vieles, woran die klassischen Physiker geglaubt haben und was sie zu den allgemein und ewig gültigen physikalischen Erkenntnissen (Gesetzen) erklärt haben, im Mikro- und Makrokosmos nicht gilt, aber so lange wir uns „dazwischen“ bewegen, kann man sich auf die atomistische (partikel-mechanische) Sichtweise immer noch völlig verlassen. Die pars-pro-toto Denkweise ist also nicht immer falsch, aber eine universal geltende Denkweise ist sie keinesfalls.

Sollte die Welt wirklich so aufgebaut sein, wie es sich die Atomisten vorstellen, dann gäbe es nur eine einzige Möglichkeit, wie wir sie erkennen könnten. Wir bräuchten nur die elementaren Teile, aus denen sie sich zusammensetzt, zu erforschen. Was wir dabei herausfinden, wäre dann das vollständige Wissen über die ganze Welt. Man müsste aber zuerst wissen, was diese elementaren Teile sind. Und da stößt die atomistische Auffassung auf ein großes Problem: Die Elementarteilchen, so wie sie sich die Atomisten vorgestellt haben, gibt es eigentlich nicht, so dass der Atomismus im strengen Sinne falsch und unbrauchbar ist. In einer verwässerten Form ist die Idee der „körnigen Realität“ trotzdem gut brauchbar. Man kann nämlich für elementares Teilchen das nehmen, was sich in einem gerade erforschten Bereich am bestens als „spezifisch elementar“ geeignet zeigt. Auf diese, rein pragmatische Weise ist man in der Mechanik zu den Kategorien Masse und Kraft gelangt. Die elementare Einheit bei den Sozialwissenschaften, so die einhellige Überzeugung der Neoliberalen, sollte das Individuum sein. Folglich könnte die Gesellschaft nur eine bloße Summe von Individuen sein. „Die Gesellschaft gibt es nicht!“ - so hat dies die neoliberale Reformerin Margaret Thatcher auf den Punkt gebracht. Und wie sieht es mit der Wirtschaft aus? Was ist ihre elementare Einheit? Wenn die Wirtschaft nur ein Untersystem der Gesellschaft ist, sollte folglich auch für sie das Individuum die elementare Einheit sein. Aber da stoßen wir auf erhebliche Schwierigkeiten:

Man wird schon nach einer kurzen Überlegung merken, dass die Marktakteure nicht immer Individuen sind. Man muss in der Tat viel Phantasie aufbringen, um glauben zu können, dass die Verkäuferin in einem Laden ihren authentischen individuellen Interessen nachgeht. In der Produktion ist es noch schwieriger, Individuen zu finden. Ein produzierendes Unternehmen ist alles andere als nur eine Summe von Individuen, von denen jedes seinem eigenen Interesse nachgeht. Ein Arbeitnehmer ist ein selbst bestimmtes Individuum nur insofern, als er sich auf dem Arbeitsmarkt für eine Stelle beworben hat. In dem Arbeitsvertrag wird er schon unterschreiben, dass er 8 Stunden pro Tag nur das tun wird, was von ihm verlangt wird. Über das Endprodukt seiner Arbeit wird ebenfalls nicht er, sondern der Kapitalbesitzer entscheiden. Wir merken schon, wie die atomistische Denkweise schon bei sehr einfachen Situationen unbestimmt und willkürlich ist. Was nun? Dann nimmt man für „elementar“ einfach das, was einem im konkreten Fall besser in den Kram passt.

Aber die Suche nach dem, was in einem Forschungsbereich als elementarer Teil begriffen werden sollte, ist nicht das einzige große Problem, mit der die atomistische Auffassung zu kämpfen hat. Verhängnisvoll für diese Denkweise ist, dass die Merkmale der „elementaren“ Teilchen nicht immer ins Ganze übergehen und umgekehrt, dass das Ganze auch Merkmale besitzt, die sich bei den Teilchen nie betrachten lassen. Das Wissen über den Bestandteil lässt sich folglich nicht einfach linear auf das Ganze übertragen. Deshalb kann es völlig nutzlos sein, einen Teil des Ganzen herauszunehmen und ihn zu erforschen. (Man bezeichnet dieses Vorgehen auch als methodologischer Reduktionismus.) Die Diskrepanz zwischen dem Teil (pars) und dem Ganzen (toto) kommt aber nicht nur bei irgendwelchen ganz komplexen Strukturen zum Vorschein, sondern auch bei sehr einfachen Situationen. Wir verdeutlichen dies an einigen Beispielen.

Beispiel Kino: Dieses Beispiel wurde unzählige mal vorgeführt. Wenn ein Einzelner im Kino aufsteht, um besser sehen zu können, dann sieht er in der Tat besser. Wenn hingegen alle aufstehen würden, dann würden nicht alle besser sehen. Die neue Situation wäre nicht besser, als wenn alle sitzen geblieben wären, sondern schlechter, wegen der Unbequemlichkeit des Stehens.

Beispiel Chemie: Was in der Chemie geschieht, ist in der Tat ein Affront gegen die pars-pro-toto Denkweise. Die chemischen Moleküle besitzen bekanntlich manche Eigenschaften, die völlig anders sind, als die Eigenschaften der Atome, aus denen sie sich zusammensetzen. Kein Wunder dass Friedrich Engels, Marx’ Lebensgefährter und Mitarbeiter, um es zu verdeutlichen, wie in der Natur ein dialektischer Umschlag von Quantität zu Qualität stattfindet, gerade die Chemie als Beispiel bemüht. Sie sei das Gebiet, erklärt er vor Begeisterung nur so strotzend (Dialektik der Natur), „auf dem das von Hegel entdeckte Naturgesetz [vom Umschlag von Quantität in Qualität] seine gewaltigsten Triumphe feiert. Man kann die Chemie bezeichnen als die Wissenschaft der qualitativen Veränderungen von Körpern infolge veränderter quantitativer Zusammensetzung“.

Bemerkung: Früher hat man den Ökonomen des Öfteren die Frage gestellt, warum die ökonomischen Phänomene den mechanischen und nicht den chemischen Phänomene ähneln sollten. Eine richtige Antwort hat es nie gegeben. Es war aber eine ungeschickt gestellte Frage, so dass sie später unauffällig verschwunden ist. Vor allem deshalb, weil diejenigen, die sich die Chemie als paradigmatische Grundlage für die Wirtschaftswissenschaft wünschten, nie einen Vorschlag gemacht hatten, wie dies konkret aussehen könnte. Außerdem wurde immer mehr deutlich, dass die Marxsche Methode vom Umschlag von Quantität in Qualität, die oberflächlich betrachtet in der Tat der „chemischen“ Auffassung entspricht, nur abgedroschene Trivialitäten (z.B. die Akkumulationstheorie) und Dummheiten (die Aufhebung der Arbeitsteilung, die Bewusstseinänderung, ...) produziert. Damit haben wir uns aber schon an anderer Stelle ausführlich beschäftigt.

Beispiel Genom: Die Entdeckung des Genoms in der Medizin zeigt auch in aller Deutlichkeit, wie die atomistische Weltvorstellung völlig unbrauchbar für die Erklärung der organischen Natur ist. Ein Genom setzt sich aus nur vier einfachen Säuren (der DNA-Basen: Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin) zusammen, die ihrerseits nur aus vier Elementen (H, O, N und P) bestehen. Man müsste schon ziemlich minderbemittelt (oder vielleicht ein neoliberaler Ökonom) sein, daran zu glauben, man würde in diesen vier Elementen (H, O, N und P) den Bauplan des Genoms oder gar des ganzen Organismus finden. Aber damit nicht genug. Jede Zelle eines Organismus besitzt ein Genom, das identisch aufgebaut ist wie die Genome aller anderen Zellen, trotzdem gibt es völlig verschiedene Zellen im Organismus: Nervenzellen, Knochenzellen, Muskelzellen, ... Auf den Punkt gebracht: Mit den Elementen (H, O, N und P) lässt sich kein Genom, und mit Genom kein Organismus (Individuum) erklären.

Beispiel Tribar: Bei diesem Beispiel wird sichtbar, zu welchen Absurditäten die pars-pro-toto Denkweise führen kann. Es stellt äußerst einfache Zusammenhänge dar, und trotzdem, unser Gehirn - wenn er sich an die pars-pro-toto Denkweise verlässt - tappt in eine Falle. Es sei denn, man kennt den Trick. Aber da gibt es keinen Trick! Es geht einfach darum, dass die pars-pro-toto Denkweise oder Methode unzuverlässig ist, so dass sie zu Ergebnissen führt, die jenseits der Realität liegen.


T r i b a r

Das Tribar ist ein Gegenstand, das aus drei einfachen Teilen besteht, die auf eine ganz einfache Weise verbunden sind. Konkret besteht er - wie es die Bilder zeigen - aus drei ganz normalen rechteckigen Leisten, die an ihren Enden befestigt sind. Nimmt man je zwei dieser Leisten in die Hand, würde man sie problemlos so verbinden können, wie es das - linke schematische oder rechte „realitätstreue“ - Bild zeigt. Jeder kann dies probieren so lange er es will, es wird ihm immer mit spielender Leichtigkeit gelingen. Aber alle drei Leisten in die Hand zu nehmen, und sie gleichzeitig so zusammenzustellen, wie man es vorhin mit je zwei getan hat, ist trotzdem unmöglich. Man kann es versuchen so lange man es will, es wird nie gelingen.

Wenn die pars-pro-toto Methode schon in so einfachen Situationen versagt, kann man nur ahnen, zu welchen Fehlleistungen sie bei komplexen Aufgaben führen kann. Damit ist nicht gesagt, wir müssten der pars-pro-toto Methode immer aus dem Wege gehen, sondern nur, dass wir ihre Richtigkeit immer in der Praxis prüfen müssen. Doch die Neoliberalen bestehen ausdrücklich darauf, dass wir dies nicht zu tun brauchen. Zur schlechten Letzt berufen sie sich noch auf die Wissenschaft. Auch hier fühlt man schon richtig, dass dies nicht mit rechten Dingen zugehen kann - dass man es mit Scharlatanen und Ganoven zu tun hat.

Zusammengefasst: Für die Pars-pro-toto-Denkweise lässt sich das gleiche wie für die dialektische Methode sagen. Es gibt ein Körnchen Wahrheit in ihr. Auch sie kann ab und zu helfen, die Ereignisse (Tatsachen) übersichtlich zu ordnen und darzustellen; manchmal sind ihre Schlussfolgerungen praktisch nützliche Anweisungen, die zum Ziel führen. Aber zu glauben, sie sei eine universelle Methoden der wissenschaftlichen Forschung, oder sie würde sogar das konstitutive Prinzip der Realität verkörpern, ist im wahrsten Sinne des Wortes ein akademischer Schwachsinn: eine Metaphysik der dummen Kerle.

Nebenbei sei noch bemerkt, dass Marx gerade den Atomismus zum Thema seiner Dissertation (,,Die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie“) wählte. Er nahm dort in Anspruch, ein ,,ungelöstes Problem aus der Geschichte der griechischen Philosophie gelöst zu haben“.

 
 
     
 
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