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  Pars-pro-Toto als eine primitive und längst überholte Denkweise:
  Ist das Paretosche Optimum mehr als nur eine methodische Beliebigkeit?
       
   
Ist es gleich Wahnsinn, hat es doch Methode.
 
    Shakespeare    

Aus unserem Beispiel, in dem wir ein Gefangenenlager besucht haben , um dort unter realen Umständen den Tausch aus nächster Nähe zu studieren, sind wir zu dem Schluss gelangt, dass der Tausch wirklich eine ganz tolle Sache ist. Er macht viele zu Gewinnern und keinen zum Verlierer. Der Tausch ist ein Spiel mit positiver Summe, sagen üblicherweise die Fachökonomen dazu. Ein Physiker würde in ihm fast so etwas wie ein perpetuum-mobile erblicken. Aber ein perpetuum-mobile gibt es bekanntlich nicht, so dass es berechtigt ist, der Frage nachzugehen, ob das Paretosche Optimum wirklich das bietet, was es verspricht. Wie man aus eigener Erfahrung weiß, kann eine gewisse Skepsis nie schaden.

Man würde dann zuerst die Frage stellen, ob unsere bisherige Analyse des Tausches im Gefangenenlager auf irgendwelchen logischen oder mathematischen Fehlern beruht. Solche Denkfehler bezeichnet man auch als formale Fehler. Nein, diese können wir wirklich ausschließen - wenn es welche gäbe, hätte man sie schon längst entdeckt. Beim nächsten Schritt würde man sich mit den Annahmen näher beschäftigen, sowohl mit denen, die explizit vorgegeben als auch mit denjenigen, die stillschweigend vorausgesetzt sind. Deshalb wollen wir jetzt die Annahmen prüfen, von denen wir bei unserem Beispiel, sei es explizit oder stillschweigend, ausgegangen sind. Zwei von ihnen sind besonders auffällig, und sie sind für uns auch von besonderem Interesse:

1 - Im Gefangenenlager wird nicht produziert, so dass die Tauschakteure nur Konsumenten, aber keine Produzenten sind.

2 - Die karitative Organisation hat jedem der 100 Gefangen ein Päckchen spendiert, in dem genau dieselben Güter waren. In unserem Beispiel wird also von einer extrem egalitären Verteilung der Güter ausgegangen.

Die erste Annahme lassen wir jetzt so, wie sie ist. Wir bleiben also vorerst auf den Tausch ohne Produktion beschränkt. Die zweite Annahme wollen wir variieren, um das Beispiel auf die Umstände zu erweitern, die in der realen Marktwirtschaft vorkommen. Die karitative Organisation wird also nicht mehr allen die gleiche Menge der Güter schenken. Die Verteilung der Güter vor dem Tausch lässt sich als primäre Verteilung bezeichnen. Indem wir die primäre Verteilung der Güter nicht nachfragen, folgen wir dem wichtigsten Prinzip der ganzen neoliberalen Theorie: der Wertneutralität.  

Die Wertneutralität in unserem konkreten Beispiel würde so viel bedeuten, dass es niemanden etwas angeht, wie sich die karitative Organisation entschieden hat, ihre Geschenke an Gefangene zu verteilen. Wenn sie sich für eine egalitäre Verteilung entschieden hat, wie bisher angenommen, war dies also ihr gutes Recht. Ihr gutes Recht wäre folglich auch, wenn sie sich ganz anders entschieden hätte. Dies soll der nächste Fall unserer Analyse sein. Wir nehmen im ersten Schritt an, dass die karitative Organisation es z.B. besser fand, aus welchen Gründen auch immer, 50 Gefangenen zu begünstigen und ihnen 60% der Güter zukommen zu lassen. Den übrigen 50 Gefangenen würden dann nur 40% übrig bleiben. 

Nur weil sich die primäre Verteilung ändert, werden sich die Präferenzen der Gefangenen natürlich nicht ändern. Wenn z.B. ein Nichtraucher aus der begünstigten Gruppe 12 Zigarettenschachteln bekäme, also zwei mehr als zuvor (sein diskriminierter Partner folglich nur 8), würde er allein deswegen bestimmt nicht anfangen zu rauchen. Wir betrachten also die Nutzenkurven unserer Gefangenen als stabil. Es lässt sich zwar nicht ausschließen, dass sie sich langfristig allmählich ändern können, aber wenn der betrachtete Zeithorizont kurz wie bei uns ist, lässt sich dies bestimmt bedenkenlos vernachlässigen. (Dies ist übrigens nicht die problematische Stelle des Paretoschen Optimierungskonzepts.) Welche Änderungen bringt die neue Situation im Gefangenenlager mit sich?

Auch wenn sich die (primäre) Verteilung geändert hat, werden die Gefangenen die Güter trotzdem untereinander tauschen wollen. Wird aber der Tausch auch jetzt, bei einer anderen primären Verteilung, fast für alle Teilnehmer nützlich sein und keinem einzigen schaden? Wir haben keinen Grund, etwas anderes anzunehmen. Auch wenn sich die Verteilung geändert hat, der Tausch wird sich auch diesmal auf dieselbe Weise abwickeln, wie es im numerischen Beispiel des vorigen Beitrags verdeutlicht ist mehr.

Sowohl unsere logische Überlegung (also der gesunde Menschenverstand) als auch die neoliberale mathematische Methode (das Gleichgewichtsmodell) bestätigen also, dass es auch diesmal Zugewinne bei vielen und Verluste bei keinem geben wird. Aber die mathematische Analyse des Tausches bietet mehr. Wenn man sich ihr Ergebnis anschaut, stellt man auch folgendes fest: Alle (oder fast alle) Tauschteilnehmer werden nach diesem Tausch mehr oder weniger andere Güter in ihrem Besitz haben, als wenn die primäre Verteilung egalitär war. Auch die Tauschverhältnisse, also die relativen Preise der Güter, würden nicht die gleichen wie damals sein. Was ist an diesem Ergebnis bedenklich?

Wir stellen fest, dass die neue primäre Güterverteilung ihr eigenes Optimum hat.

Nehmen wir im nächsten Schritt an, dass die primäre Verteilung sich noch einmal geändert hat. Die besser gestellten 50 Gefangenen haben 70% der Güter bekommen, den restlichen 50 Gefangenen sind nur 30% übrig geblieben. Auf die Zigarettenschachtel bezogen, wird sich ein Verhältnis 14 zu 6 ergeben. Was wird der Tausch (die sekundäre Verteilung) jetzt bewirken?

Es würde auch diesmal nichts geschehen, was wir nicht schon vorhin hatten. Wir werden einfach ein neues (nächstes) Optimum bekommen, das dritte, das sich wiederum völlig von den vorigen zwei unterscheidet. Auf diese Weise können wir beliebig lange verfahren. Wir können uns unzählige andere primäre Verteilungen vorstellen, von denen jede durch die sekundäre (Um-)Verteilung bzw. Tausch ein anderes Optimum es geben wird. Das heißt: Der Tausch führt nicht zu einem, oder vielleicht einigen wenigen, sondern zu unendlich vielen Optima. Und dies ist nicht gerade ein kleines Problem. Was bedeutet dann bitte schön Optimum überhaupt?

Fragen wir einen, der es wissen müsste, den Duden - Deutsches Universalwörterbuch. Wir lesen dort folgendes:

Op|ti|mum,  das; -s, ...ma [lat. optimum, Neutr. von: optimus = Bester, Hervorragendster, Sup. von: bonus = gut]: a. (unter den gegebenen Voraussetzungen, im Hinblick auf ein Ziel) höchstes erreichbares Maß, höchster erreichbarer Wert: das Gerät bietet ein O. an Präzision, Leistung. b. (Biol.) günstigste Umweltbedingungen für ein Lebewesen.

Es gibt dem Duden zufolge zwei wichtige Merkmale, die das Optimum ausmachen.

I: Es hat etwas mit dem Ziel zu tun („im Hinblick auf ein Ziel“). Anders gesagt, das Optimum wird in Bezug auf ein im Voraus gestelltes Kriterium bestimmt.

II: Das Optimum ist einer der vielen möglichen realisierbaren oder zumindest vorstellbaren Zustände.

Die Definition aus dem Duden hat aber nicht ausdrücklich auch eine dritte außerordentlich wichtige Bedingung für das Optimum erwähnt, voraussichtlich deshalb, weil sie selbstverständlich ist:

III: Man muss bei der Bestimmung des Optimums alle (realisierbaren oder zumindest vorstellbaren) Zustände in Betracht ziehen.

Wir prüfen jetzt der Reihe nach, ob das Paretosche Optimum alle diese Bedingungen erfüllt.

Ein Optimum, so die Definition, setzt ein Ziel bzw. ein Kriterium voraus. Nun ist es bekanntlich so, dass die neoliberale Theorie bzw. ihre Ethik von universellen Werten nichts wissen will: Sie will eine wertneutrale Wissenschaft sein und sie ist bekanntlich auch mächtig stolz darauf. Was sollte dann überhaupt als Ziel bzw. Kriterium des Tausches gelten? Aus irgendeinem Grund muss man doch tauschen wollen. Da ist den Neoliberalen eine rettende Idee eingefallen: die Ethik zu individualisieren. Jeder, der den eigenen Nutzen maximiert, so diese individualistische „Werttheorie“, handelt nach seinem eigenen Ziel bzw. Kriterium.

Daraus lässt sich schließen, dass die neoliberale Ethik im Grunde nicht ohne Werte ist, auch wenn es stimmt, dass sie keine universellen Werte (und Menschenrechte) kennt. Solche werden von den Neoliberalen bekanntlich immer als „kollektivistisch“ diffamiert und zurückgewiesen. So betrachtet, kann man - mit ein wenig Großzügigkeit - doch sagen, dass das Paretosche Optimum ein bestimmtes Kriterium vorzuweisen hat. Somit erfüllt es die erste Bedingung der Definition des Optimums.

Wenn die primäre Verteilung bekannt ist, ist im Walrasschen Modell die Zahl der möglichen Gleichgewichtszustände theoretisch unendlich groß, aber nur eins, das nach Pareto als optimal bezeichnet werden kann. Damit ist auch die zweite Bedingung der Definition erfüllt.

Die letzte bzw. die dritte Bedingung erfüllt das Paretosche Optimum jedoch nicht. Wie es unser Beispiel gezeigt hat, gibt es eine Art der Verteilung, die der Marktverteilung vorausgeht, eine vorab (ex ante) oder primäre Verteilung, aber diese bleibt bei der Paretosche Optimumsuche völlig unberücksichtigt. Konkret gesprochen, die neoliberale Theorie klammert alle politischen Faktoren der Verteilung aus, aber nicht nur sie, sondern auch solche, die ökonomischer Natur sind: die herrschenden Besitzverhältnisse. Dies wurde der neoliberalen Theorie bekanntlich von Anfang an und immer wieder vorgeworfen. Könnte es aber sein, dass dieser Vorwurf doch nicht berechtigt ist? Lässt sich das Paretosche Optimum retten, auch wenn man die Besitzverhältnisse und die politische und soziale Macht, die aus ihnen hervorgeht, nicht wegabstrahiert?

Rettungsversuch 1: Die primäre Verteilung (Besitzverhältnisse) lässt sich vernachlässigen

Jedes Prinzip, jedes Gesetz, jede Methode, ... kann nur die stark wirkenden Faktoren des erforschten Bereichs der Realität berücksichtigen, die schwachen werden wegabstrahiert. Dieses Prinzip gilt für jede Wissenschaft, so dass auch dem Paretoschen Optimum erlaubt werden muss, dass es nicht alle Faktoren der Verteilung berücksichtigt. Da stellt sich konkret die Frage, ob die herrschenden Besitzverhältnisse wirklich ein so schwacher und unbedeutender Faktor sind, der sich einfach vernachlässigen lässt. Könnte es sein, dass das Marktergebnis hauptsächlich durch den Tausch bestimmt wird, dass also auch die Besitzverhältnisse letztendlich doch nur das Ergebnis des Tausches sind?

In unserem Beispiel haben wir die primäre Verteilung der Güter, also die Verteilung der Geschenke der wohltätigen Organisation an die Gefangenen willkürlich variiert: einfach so. Theoretisch lässt sich eine solche Überlegungen aufstellen, aber man muss irgendwann klären, was dies mit der Realität zu tun hat. Da würde man gleich feststellen, dass es in einer realen Wirtschaft wirklich keine äußere Macht gibt, welche die Besitzverhältnisse ständig abrupt ändert. Eine reale Wirtschaft wird normalerweise durch kleine Änderungen bestimmt. Ja, es gibt auch Raubzüge, Kriege und Revolutionen, auch Wirtschaftskrisen und einiges mehr, aber könnte es sein, dass wenn es dies alles nicht gäbe, dass sich dann die primäre Verteilung auf die sekundäre Verteilung, also auf die individuellen Nutzenoptimierungen zurückführen ließe?

Bemerkung: Die mathematische ökonomische Theorie hat sich immer von der historischen Betrachtung scharf distanziert, schon deshalb, weil der historische Standpunkt vom Marxismus besetzt war. Dies alleine kann uns aber nicht hindern zu prüfen, ob sich die primäre Verteilung durch die Berücksichtigung der historischen Entwicklung als ein vernachlässigbarer Faktor erweisen würde. Wie gehen wir aber vor?

Ein Naturwissenschaftler würde sagen: Zuerst „bestückt“ man das Walrassche Modell mit entsprechenden empirischen Daten, damit man überhaupt anfangen kann, dann lässt man sich einige zeitlich nacheinander folgende Stufen ausrechnen und schließlich analysiert man das so gewonnene Ergebnis. So gehen z.B. die Meteorologen vor. Ihre meteorologischen Stationen schicken ihnen verschiedene Wetterdaten, die sie dann in ihrem PC speichern und sich durch spezielle Programme (Modelle) verarbeiten lassen. Die endgültigen Ergebnisse dieser Ausrechnungen sind die Wettervorhersagen. Aber mit dem Gleichgewichtmodell ist dies so gar nicht möglich. Empirische Daten, welche das Modell braucht, lassen sich nirgendwo erheben. Um den Einfluss der Besitzverhältnisse auf die Verteilung zu bewerten, müssen wir also die majästetische Mathematik der neoliberalen Theorie beiseite schieben und mit ganz „normaler“ Logik an das Problem herangehen.

In dieser Absicht stellen wir uns die hypothetische Stunde Null der Marktwirtschaft vor. Weil es noch keinen Markt gibt, verteilen wir die Güter - wie Boden und Jaggründe - auf alle gleich. Die Menschen sind aber nicht gleich. Einige werden alles, was sie besitzen und erzeugen, zum persönlichen Konsum nutzen, die anderen werden Überschüsse auf dem Markt zum Tausch anbieten. Diese stellen also die ersten Unternehmer da. Auch wenn wir davon ausgehen, dass sie streng rationale Denker (homo oeconomicus) sind, würde ihnen ihr ganzes Denkvermögen in der Stunde Null nichts bringen, weil sie noch keine Erfahrungswerte darüber besitzen, was der Markt nachfragen will. Den Urunternehmern würde nichts anderes übrig bleiben, als mehr oder weniger blindlings etwas zu produzieren. Beim ersten Tausch wird es zu einem sehr lebhaften Kauf und Verkauf der Güter kommen - etwa wie in unserem Gefangenenlager. Der berühmte Walrassche Auktionator (eine Denkfigur von Walras, mit der er verzweifelt verdeutlichen wollte, wie man sich die Gleichgewichtsbildung in seinem mathematischen Modell konkret vorstellen könnte), würde alle Hände voll zu haben. Da jeder Tausch einen Zugewinn bedeutet, wird dieser erste Tausch bestimmt bei vielen Käufern bzw. Verbrauchern sehr große individuelle (Paretosche) Zugewinne einfahren. Weil aber alle Urunternehmen blindlings produziert haben, müssen wir bezweifeln, dass die Produktion dieser Volkswirtschaft besonders gut den Bedürfnissen der Menschen entsprach. Wir haben also die Situation:

Schlecht optimierte Produktion der Volkswirtschaft führt zu großen Paretoschen Zugewinnen bei den am Tausch beteiligten Individuen.

Irgendwann geht dann dieser Urtausch zu Ende. Die Urunternehmer haben sich gewisse Erfahrungswerte erworben. Sie werden sie zu nützen wissen, so dass sie im nächsten Produktionszyklus ihre Produktion besser den Bedürfnissen der Käufer anpassen werden. Aber damit wird sich der Bedarf nach dem Tausch verringern, was auch die Paretoschen Zugewinne schmälern würde. Daraus folgern wir:

Je besser die Produzenten die Bedürfnisse und Wünsche der Käufer kennen und sich nach ihnen orientieren, desto kleiner sind die individuellen bzw. Paretoschen Zugewinne.

Anders gesagt, je länger getauscht wird, desto mehr wächst die Macht der Produzenten bzw. der Besitzer, die der Kunden nimmt ständig ab. So war es immer in der Geschichte. Im Kapitalismus hat sich daran so gut wie nichts geändert. Es war nie der Kunde der König, sondern der Produzent. Die Macht aus dem Besitz - da lässt sich Marx nicht ein bisschen widersprechen - ist die größte ökonomische, soziale und politische Macht in jeder Gesellschaft. Weil sich die Präferenzen der Menschen immer ein bisschen ändern und weil die Produzenten immer irgendwelche Fehler machen, wird der Tausch als eine begleitende und korrigierende (sekundäre) Verteilung immer etwas nachbessern können, aber nicht viel. Der Tausch wird also immer ein Spiel mit der positiven Summe bleiben, aber diese Summe wird bestimmt gering bleiben.

Wir stellen also fest, dass die Analyse der Marktwirtschaft auch im historischen Kontext nicht zur Schlussfolgerung führt, die primäre bzw. die Besitzverteilung ließe sich vernachlässigen, im Gegenteil. Je länger ein freier Tausch dauert, desto mehr bekommt die primäre Verteilung an Einfluss und an Gewicht. Mit oder ohne die Geschichte, bleibt die primäre Verteilung bzw. die Besitzverhältnisse der relevanteste Faktor der Verteilung. Das Paretosche Optimum ist, locker aber sehr treffend ausgedrückt, nichts als der sprichwörtliche Furz im Wind.

Rettungsversuch 2: Alle sind auf dem Markt gleich, aber einige sind gleicher als die anderen

Wenn sich die ökonomische Ungleichheit nicht verschweigen und wegdiskutieren lässt, bleibt nichts anderes übrig, als sie zu rechtfertigen. Zu diesem Zweck ließen sich die Neoliberalen schon einiges einfallen. Ihr wichtigstes Argument ist, dass die Besitzverhältnisse ein Produkt der individuellen Leistung sind. Dies führt uns zur neoliberalen Theorie der Produktion, die angeblich „beweist“, dass jede Einkommensverteilung, so wie sie sich auf dem freien Markt bildet, der „objektiven“ bzw. „produktiven“ Leistung des Einzelnen entspricht. Wir werden uns diese Theorie noch genau anschauen. Vorerst reicht es uns nur festzustellen, dass die neoliberale Theorie der Produktion gar nichts beweist. Sie ist ein ideologischer Schwindel und akademischer Idiotismus zugleich. Der neoliberale „Beweis“ von der leistungsbezogenen Einkommensverteilung auf dem Markt hat nur deshalb bis heute überlebt, weil er den Interessen der besitzenden Klassen gut dient.

Aber unabhängig davon, ob der Markt das Einkommen gerecht oder ungerecht verteilt, ist für das Paretosche Optimum beides ein großes Problem. Es wurde ursprünglich als ein Kriterium der Nutzenmaximierung gedacht, doch nun stellt sich fest, dass es für eine reale Marktwirtschaft gar nicht anwendbar ist, weil die Marktverteilung nicht nur vom Nutzen, sondern auch von der Leistung bestimmt ist. Alle späteren Anstrengungen, die Leistung dem Nutzen unterzuordnen, haben rein formal betrachtet, immer bei der folgenden Form des Schließens geendet:

Das individuelle Nutzen wird deshalb durch Tausch optimiert (maximiert), weil der Markt das Einkommen gerecht verteilt, und er verteilt es deshalb gerecht, weil der Tausch den Nutzen optimiert (maximiert).

In der formalen Logik bezeichnet man eine solche Form des fehlerhaften Schließens Zirkelschluss oder circulus vitiosus (lat.: fehlerhafter Kreis). Damit ist gemeint, dass die Aussage (Schlussfolgerung) selbst als Voraussetzung verwendet wird. Unter den Aussagen versteht man in der formalen Logik einfache Behauptungen, die normalerweise einen Satz lang sind, nicht länger. Das Paretosche Optimum ist dagegen etwas anderes: Es ist eine Methode, die auf ein sehr umfangreiches und ausgeklügeltes mathematisches Modell der Wirtschaft aufsattelt. Aber hat man sich damit gegen den Zirkelschluss immunisiert? Da erinnert man sich an das Buch des französische Philosophen André Glucksmann über die Dummheit:

„Schlichte Dummheit scheint es nicht zu geben, zumindest ist sie schwer zu finden. ... Die moderne Dummheit hatte von Anfang an Methode ... die allen Bedürfnissen gerecht wird. ... Eine Methode ist Mittel und Zweck in einem. Sie ist ein Weg, der seine Bestimmung vorwegnimmt, und ein Ziel, das den Weg vorzeichnet, der zu ihm führt.“
„Gäbe sich die Dummheit nicht den Anstrich von Intelligenz, könnte sie niemanden täuschen, und die Nichtigkeit ihrer Komödien würde keine Folgen haben. Sie ergeht sich in Scheingefechten und verbirgt sich somit hinter den Gebilden, die sie sich schafft. ... Und sie ist durch nichts zu beirren, da sie nur sich selbst kennt.“ ... >

Ist das Paretosche Optimum auch nur eine „moderne Dummheit mit Methode“? Wir fassen jetzt noch die Gründe, die dafür sprechen, kurz zusammen:

Das Paretosche Optimum meint sich auf das Ganze zu beziehen, auf die Wirtschaft und Gesellschaft, es will aber von keinem Ziel oder Kriterium wissen, das eine allgemeine Gültigkeit besäße. Bei ihm gibt es nur partielle (individuelle) Optima, für die einfach behauptet wird, ihre Summe würde das Optimum des Ganzen ergeben. So etwas ist eine typische pars-pro-toto Schlussfolgerung, die nicht unbedingt falsch sein muss. Das sie aber in dem Fall des Paretoschen Optimum richtig ist, dafür wird nie ein Beweis erbracht, weil die ganze neoliberale Theorie stillschweigend immer davon ausgeht, jede pars-pro-toto Schlussfolgerung sei immer richtig.

Es gibt keine Möglichkeit, empirisch bzw. praktisch zu prüfen, wie optimal ein konkreter Pareto optimierter Zustand ist. Man kann also nicht sagen: Jetzt werden wir prüfen, ob sich eine konkrete reale Wirtschaft in einem optimalen Zustand befindet bzw. nicht. Das Paretosche Optimum lässt sich nicht operationalisieren. Es ist ein ritualisiertes akademisches Schwadronieren mit metaphysischen Hohlformeln.

Die ganze mathematische Argumentation des partiellen (individuellen) Optimums beruht auf der Annahme der Präferenzkurve, die angeblich stabil und monoton fallend  ist. Aber wie sind die Präferenzkurven wirklich? Warum sehen sie nicht völlig anders aus? Woher können wir es überhaupt wissen, wenn sie sich empirisch gar nicht ermitteln lassen? Daraus wird deutlich, dass hier das Ziel die Mittel bestimmt (präjudiziert). Das Paretosche Kriterium ist wahrhaftig „ein Weg, der seine Bestimmung vorwegnimmt, und ein Ziel, das den Weg vorzeichnet, der zu ihm führt“.

Das Ergebnis der Tauschoptimierung des individuellen Nutzens ist dermaßen durch das individuelle Einkommen und den Besitz vorbestimmt, dass der Nutzen, der als Kriterium dieses Optimums gilt, zu einem nebensächlichen (residualen) Faktor degradiert. Der dominante Faktor, also die angebliche „Leistung“, wird also einem äußerst schwachen Faktor untergeordnet, dem Nutzen. Man zählt den Äpfeln einfach die Birne hinzu oder manchmal auch umgekehrt - so wie es einem gerade passt. Fairer Weise müsste man über ein Leistung-Nutzenoptimum sprechen, aber das will man nicht: aus ideologischen aber auch akademischen Gründen. Als ein duales Kriterium würde das Paretosche Optimum seinen intellektuellen Charme verlieren, aus einem Guss geschaffen zu sein.

Wenn sich mit Argumenten, die überhaupt irgendwelche konkreten Inhalte haben, nicht überzeugen lässt, ändern die Neoliberalen ihre Strategie. Sie wollen dann im Paretoschen Optimum nichts mehr als nur ein formales Kriterium bzw. eine formale („mathematisch strenge“) Methode sehen. Ja, man darf es auch so sehen, aber dann ist diese Methode nichts mehr als nur ein komplizierter Umweg für die Produzierung von Schlussfolgerungen, die völlig trivial sind. Rettet man also das Paretosche Optimum dadurch, indem man es zu einem bloßen analytischen Werkzeug erklärt, wird dieses zu einer normativen und begründungstheoretischen Beliebigkeit. Das (Grenz-)Nutzenprinzip ist somit ein Hilfsmittel, mit dem man ziemlich alles tun kann, aber nichts richtig.

Mit einem Wort: Das Paretosche Optimum im echten Sinne des Wortes gibt es nicht. Es ist nur eine rhetorische Wortverdrehung, eine Beliebigkeit, die jeder nutzen kann, wie es ihm am besten passt. Um es zu verdeutlichen, behelfen wir uns im nächsten Beitrag mit zwei Möglichkeiten der Anwendung der (Grenz-)Nutzenanalyse. Im ersten Fall wird das Paretosche Kriterium die utilitaristische Verteilungsauffassung unterstützen, welche unter anderem auch der wichtigste Liberale der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, John St. Mill vertrat, im zweiten Fall die Verteilungsauffassung seiner (neoliberalen) Nachfolger.

 
 
 
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