Was die Mathematik bedeutet und wie sie den Wissenschaften dient
  Die Mathematik und die angebliche „letzte“ Wahrheit über die Realität
       
   
Es gibt keinen Beweis dafür, dass es nur ein einstimmiges System gibt.
 
  Bekannter britischer Philosoph, Mathematiker und Logiker  Bertrand Russell    
       
 
Gedanken (und folglich der Geist) sind also ihrer Natur nach wesentlich verschieden von physischen Gegenständen. ... Die Lehre, daß es geistige Darbietungen gibt, die sich notwendig auf äußere Dinge beziehen, ist nicht nur schlechte Naturwissenschaft, sondern auch schlechte Phänomenologie und Begriffsverwirrung.
Gerade in der Philosophie der Mathematik haben sich viele metaphysische Illusionen gehalten, die in der übrigen Philosophie längst problematisch geworden sind: ganzheitliche Erklärung für Wahrheit, Referenz und Wissen, Letztbegründung, ... Es ist die Zeit für ein „Moratorium über Ontologie und Epistemologie“ gekommen.
 
    Hilary Putnam , amerikanischer Philosoph (die Sprachphilosophie und die Philosophie des Geistes)    
       
 
Gebt mir Prämissen und ich könnte Spekulationen meterweise daraus spinnen. Ich wüßte, daß meine Folgerungen praktisch ohne Nutzen wären.
 
    Wesley Mitchell, Method in Social Science    

Wann ist die Mathematik eigentlich entstanden? Eine schwierige Frage. Bevor man sich ihrer annimmt, sollte man vielleicht zuerst versuchen, eine einfachere Frage zu beantworten, nämlich was man unter Mathematik versteht bzw. was zur Mathematik gehört.

Ganz bestimmt gehört zur Mathematik das Rechnen mit ganzen bzw. natürlichen Zahlen, also die einfachen Grundrechenarten Addition (Zusammenzählen), Subtraktion (Abziehen), Multiplikation (Vervielfachen) und Division (Teilen). Man nennt diesen Bereich der Mathematik Arithmetik. Sollte die Arithmetik allein für die Mathematik gehalten werden, dann könnte man sagen, dass die Mathematik schon auf der primitivsten Stufe der Menschheitsentwicklung entstanden ist. Schon der Urmensch hat die Früchte und Tiere gezählt und unter den Mitgliedern der Sippe aufgeteilt.

Ein weiterer wichtiger Bereich der Mathematik ist die Geometrie, die sich im Prinzip nicht mit den Zahlen, sondern mit Punkten, Geraden, Ebenen, Abständen, Winkeln etc. beschäftigt. Der griechische Historiker Herodot berichtete, dass die Ägypter die Geometrie erfunden hätten, um die Grenzmarkierungen der Grundstücke immer wieder neu zu vermessen, wenn der Nil in den Zeiten der Überschwemmung diese weggeschwemmt hatte. Auch für das Entstehen der Geometrie waren also ganz praktische Gründe von Bedeutung. Trotzdem!

So praktisch und bodenständig, wie es auf den ersten Blick anmutet, ist die Mathematik bestimmt nicht. Auch wenn man die mathematischen Künste der Flächenberechnungen der ägyptischen Beamten nicht unterschätzt, muss man zugeben, dass die Priester der alten Religionen schon damals viel weiter waren. Sie wussten schon einiges darüber, wie sich Punkte, Winkel, Kreise und andere geometrische Objekte für die Beobachtung des Himmels nutzen lassen, sowohl für praktische als auch sakrale Zwecke. Diese Verwendung der Mathematik in den mystischen und religiösen Ritualen, die zugleich eine primitive Astronomie war, deutet darauf hin, dass die Mathematik bei ihrer Entwicklung nicht ganz für „diese Welt“ gedacht und bestimmt war. Sie war auch in einem anderen Sinne nicht von „dieser Welt“. Wenn wir uns nämlich daran erinnern, dass sich für die Entwicklung der Mathematik der antike Philosoph Pythagoras (580 - 500 v. Chr.) allergrößte Verdienste erworben hat, wird uns noch klarer, wie wenig die Beschäftigung mit der Mathematik praktisch motiviert war.

Pythagoras stammte von der Insel Samos im ägäischen Meer. Nach langen Reisen, die ihn wahrscheinlich nach Ägypten und in den Orient führten, gründete er in Kroton (dem heutigen Cotrone) in Unteritalien eine Philosophenschule bzw. einen religiösen Orden, der stark an orientalischen Auffassungen orientiert war: Seelenwanderungsglaube, Ethik der Selbstdisziplin, Genügsamkeit und Enthaltsamkeit. Pythagoras kennt jeder von dem Satz c2 = a2 + b2, den er übrigens nicht selber erfunden hat. Dieser Satz stammt eigentlich aus Babylon, aber vielleicht hat Pythagoras ihn als erster genau formuliert. Worum es uns jetzt geht, ist das Faktum, dass Pythagoras und seine Bruderschaft mit der Mathematik nicht empirische oder sinnliche Realität erklären wollten. Ihre Mathematik war gar nicht im Dienste der Erfahrungswerte. Damit unterschieden sich die Pythagoräer wesentlich von ihren Zeitgenossen, den antiken Philosophen, die an Feuer, Wasser, Erde, ... dachten, wenn sie die Welt erklären wollten. Für die Pythagoreer sollte das Geheimnis der Weltbeschaffenheit nicht in einem Urstoff, sondern in einem Urgesetz, dem Urgesetz der zahlenmäßigen Beziehung der Weltbestandteile liegen. Letztendlich sollten die Zahlen die wahren Bausteine der Welt sein - sozusagen ein Gerüst, an dem das Weltall hängt. Diese substanzlose Erklärung der Welt hat auch Platon beeindruckt, er wagte aber nicht so weit zu gehen, alles auf reine Zahlen bzw. abstrakte quantitative Verhältnisse zu reduzieren. Ihm war die Geometrie („die Wissenschaft vom immer Seienden“) lieber, weil sie offensichtlich mehr Muster zur Verfügung stellt. So behauptete er sogar herausgefunden zu haben, dass die geometrischen Körperformen der Form der Seele entsprechen würden. Deswegen können wir überhaupt etwas verstehen von der Welt: wir haben diese Formen in uns.

Dieser kurze historische Exkurs sollte verdeutlichen, dass die Mathematik ursprünglich zwei Anwendungsbereiche hatte. Die praktischen Menschen konnten mit ihr die alltäglichen Dinge erledigen, also zählen, multiplizieren und teilen oder Felder messen; eine anspruchsvollere Mathematik der Gebildeten diente aber fast ausschließlich für spekulative und mystische Zwecke. Sie war also Bestandteil des elitären Denkens, das mit den unmittelbaren sinnlichen Tatsachen, sozusagen mit der schmutzigen Materie, nichts zu tun haben wollte. Die Tatsachen waren nach der Auffassung dieses Denkens nur ein Schleier, den man beiseite schieben muss, um die wahre Welt so zu sehen und zu verstehen, wie sie „wirklich ist“; oder sie sollten, wie bei Platon, noch nicht gut entwickelte oder defekte Nebenprodukte der einzig waren d.h. der „ideellen“ Muster sein, die einer parallelen „Welt der Ideen“ gehören, aber dennoch den Tatsachen zugrunde liegen. Die deutschen klassischen Philosophen haben diese Auffassung im Grunde übernommen und auf die Geschichte übertragen. Dann heißt es: Die Zeit würde die misslungenen Kopien der (mit der reinen Vernunft erworbenen) Ideen allmählich reparieren und nachbessern, dazu auch noch völlig automatisch, so dass am Ende der Geschichte alles perfekt sein werde.

Tiefer in die Geschichte der Mathematik brauchen wir nicht zu gehen, um zu einer für uns wichtige Schlussfolgerung zu kommen: Es lässt sich nicht bezweifeln, dass der trivialste und alltägliche Gebrauch der Mathematik in den frühesten, für uns nicht mehr nachvollziehbaren Stadien der menschlichen Geschichte begonnen hat. Aber diese Mathematik ist vielleicht viele Jahrtausende auf dem gleichen theoretischen Niveau geblieben. Für die Entwicklung der Mathematik zu einer abstrakten logischen Denkweise muss man sich jedoch bei den Obskuranten, Mystikern und Metaphysikern bedanken. Dies hat sich erst vor wenigen Jahrhunderten geändert, als die Naturwissenschaftler die Mathematik entdeckt und sie auf die empirischen Tatsachen - sozusagen auf die „schmutzige“ Materie - angewandt haben. Die Mathematik hatte also einen sehr langen Weg hinter sich, als sie endlich die empirische Welt erreicht hatte. Der Übergang war sehr mühsam und der Weg steinig. Viele Philosophen und Naturforscher zu Beginn der Neuzeit meinten noch, dass „Gott die Welt unter Zugrundelegung mathematischer Gesetze geschaffen hat“ (Cusanus) oder dass die Welt nur die Geometrie ist („Ubi materia, ibi geometria“ - Kepler), woraus der naive Rationalismus der Moderne entstanden ist. Pythagoras könnte sich in diesem neuen philosophischen Trend nur bestätigt fühlen. Deshalb hatten am Anfang der Moderne nicht wenige befürchtet, die Mathematik könnte die neuen Wissenschaften in den Morast der Spekulationen herunterziehen und ersticken. Erinnern wir uns etwa daran, dass sogar der Begründer des Empirismus und damit auch der modernen Wissenschaften Francis Bacon (1561 - 1626) die Mathematik für die Wissenschaft als nutzlos einschätzte und von ihr abgeraten hat. Man kann dies heute fast nicht fassen. Wir versuchen es zu erklären, indem wir uns näher anschauen, wie die Mathematik „funktioniert“ und was sie überhaupt „produziert“.

Was für eine „Wahrheit“ liefert uns die Mathematik wirklich?

Die Frage, ob die Mathematik etwas über die reale Welt aussagt, gehört eigentlich zu einer allgemeineren erkenntnistheoretischen Frage, nämlich der Frage, ob sich die abstrakten Begriffe auf etwas wirklich Existierendes beziehen oder ob sie nur Produkte unseres Geistes (Vernunft) sind. Diese Frage haben die Philosophen schon vor mehr als zwei Jahrtausenden aufgeworfen und seitdem wurde auf sie verschieden geantwortet. Im Mittelalter hat man darüber in dem bekannten Disput zwischen den Nominalisten und Realisten heftig und lange diskutiert (Universalienproblem, Universalienstreit). So allgemein und umfassend wollen wir uns an dieser Stelle mit diesem Thema nicht beschäftigen - das haben wir anderswo behandelt. Jetzt nur soviel dazu:

Es spricht alles dafür, dass die Erfolge der Naturwissenschaften diesen mehrere Jahrtausende alten Streit endgültig entschieden haben. Abstrakte Begriffe unseres Denkens sind keine Bestandteile der Realität, zumindest nicht in dem üblichen empirischen Sinne. Dasselbe gilt dann auch für die mathematischen Begriffe. Anhand der folgenden einfachen Überlegungen soll dies jetzt kurz erörtert werden.

Fangen wir mit den Zahlen an. Ist eine Zahl eine empirische Kategorie, oder vorsichtiger ausgedrückt: Ist sie ein Bestandteil der realen Welt? Im gewissen Sinne beziehen sich die Zahlen auf sinnliche Realität. Stellen wir uns vor, da liegt eine Menge Kartoffeln auf einem Haufen vor unseren Füßen. Die Kartoffeln sind bestimmt eine empirische Gegebenheit - man kann sie doch sehen und fühlen. Kann man sie auch zählen? Gewiss! Alle, die zählen können, werden sogar auf das gleiche Ergebnis kommen. Wenn man aber nicht zählen kann?

Was für eine Frage - würde vielleicht jemand sagen. So hypothetisch ist sie aber nicht. Anthropologen haben in der Tat herausgefunden, dass es auch primitive Stämme gibt, die nur bis zwei oder drei zählen können. Damit war der praktische (und geistige) Bedarf dieser Stämme an Zahlen gedeckt. Mehr brauchten sie einfach nicht. Wenn jemand Hunger hatte, brauchten sie nicht den anderen etwas wegzunehmen oder abzuziehen (subtrahieren), also zu teilen (dividieren), sie gingen auf die Jagd und haben für mehr Essen gesorgt. Weil keiner x-mal mehr besitzen wollte und brauchte als ein anderes Stammesmitglied, brauchte man auch nicht multiplizieren zu können. Diese primitiven Menschen, mit noch viel empfindlicheren Sinnen wie unsere, würden keine Zahl in (oder hinter) dem Kartoffelhaufen finden.

Außerdem ist eine Zahl nicht wie jede andere. Das kann man sogar für die einfachsten, also die ganzen natürlichen Zahlen sagen. Ist 1 eine richtige Zahl? Was für einen Sinn könnte es haben, den Gegenständen, die einzeln vorkommen, die Zahl 1 zuzuordnen. Und vor allem, wie sollte man Null als eine Zahl verstehen? Dann gibt es auch negative Zahlen. Wie kann eine negative Zahl sich auf etwas Reales beziehen? Weiter gibt es bekanntlich auch irrationale Zahlen, die man deshalb so nennt, weil sie eben irrational sind - man kann sich nicht richtig vorstellen, was sie eigentlich sind. Man bekommt den Eindruck, dass sie nur Lückenfüller zwischen den „richtigen“ Zahlen sind. Zu schlechter Letzt gibt es dann auch noch jene ganz verrückten imaginären Zahlen, bei denen es völlig unklar ist, ob sie etwas mit den „richtigen“ Zahlen gemein haben. Man bekommt den Eindruck, mit ihnen wurde in die Welt der „normalen“ Zahlen etwas völlig Fremdes eingeschleust. Trotzdem, ohne die imaginären Zahlen wäre z.B. die Elektrotechnik unvorstellbar.

Die Welt der Mathematik ist aber nicht die der bloßen Zahlen. Diese sind sozusagen nur rohes Material, mit dem sich mit Hilfe vieler Regeln (Operationen) eine sehr umfangreiche und vielfältige Struktur der quantitativen Zusammenhänge aufbauen lässt. Diese Struktur wächst, indem man mit Hilfe dieser Regel einer oder mehreren Zahlen eine andere Zahl oder mehrere Zahlen zuordnet, was sich unendlich lange fortsetzen lässt. Die mathematischen Regeln sind so präzise, dass jeder Mathematiker, der sie beherrscht, bei der gleichen Ausgangsposition immer zum gleichen Ergebnis gelangt. Das ist das Faszinierende an der Mathematik. Wenn man aber bedenkt, wie viele mathematische Regeln es gibt und dass man immer noch neue herausfindet, verschwindet diese faszinierende Eindeutigkeit der mathematischen Welt. Um dies zu verdeutlichen, nehmen wir als Beispiel zwei beliebige Zahlen, etwa 3 und 2. Was sagen diese zwei Zahlen über sich hinaus aus? Ist das richtige oder wahre Wesen dieser Zahlen etwa 1 oder 5, 6, 8 oder vielleicht 9? All dass wäre durchaus möglich:

3   -   2   =   1 ;     3   +   2   =   5 ;     3   •   2   =   6 ;     2 3   =   8 ;     3 2   =   9 ;  

Und dies alles wurde schon mit wirklich einfachen mathematischen Möglichkeiten (Regeln) erreicht. Man kennt manche andere, viel kompliziertere Möglichkeiten, aus bestimmten Zahlen andere Zahlen herzuleiten. Dann könnten wir anstatt nur zwei auch drei, vier, fünf, ...  bzw. beliebig viele Zahlen nehmen. Schließlich könnte man neben den Zahlen auch geometrische Figuren hinzufügen. Das tun die Mathematiker auch und ihr Ergebnis ist eine gigantische virtuelle Welt, mit unzähligen Figuren und Mustern. So hat die Mathematik in ihrer Entwicklung künstliche Welten geschaffen, die unvergleichbar vielfältiger und reicher an Formen und Mustern sind, verglichen mit dem, was unseren Sinnen zugänglich ist. Zum Beispiel: Unsere Sinne „arbeiten“ nur mit höchstens vier Dimensionen (3 für den Raum und eine für die Zeit), die Mathematik kann gleichzeitig mit beliebig vielen Dimensionen „arbeiten“. Außerdem sind diese Dimensionen für unsere Sinne unbedingt gleichmäßig „dicht“, in der Mathematik müssen sie es nicht sein. Eine literarische Figur, die sich dieser nicht homogenen Variablen bedient, ist das Wandern durch die Zeit, das in der Sciencefiction ein immer wieder vorkommendes Thema ist. Dies ist natürlich eine naive Interpretation der Einsteinschen Relativitätstheorie, verdeutlicht aber indirekt, welche seltsamen „Dinge“ in der modernen Mathematik „passieren“ können.

Man kann die Zahlen auch dekompositorisch manipulieren, indem man von dem Ergebnis ausgeht, wenn man also die Frage stellt: Wie gelangt man zu einer bestimmten Zahl? Auch hier bietet die Mathematik buchstäblich unendlich viele „korrekte“ Antworten. Zu jeder der oben genannten Zahlen 1, 5, 6, 8 oder 9 lassen sich mit verfügbaren mathematischen Regeln (oder Operationen) unzählige „konstitutive“ Zahlen herausfinden. Auch das sagt uns, dass Zahlen kein ihnen innewohnendes konstitutives Wesen haben können, so dass sie erst recht kein Wesen der Realität sein können, so wie sich diese unseren Sinnen zeigt.

Wir haben schon verschieden Zahlensysteme erwähnt, zu welchen die Mathematiker gelangt sind und nicht weniger kreativ waren sie, auch neue Regeln und Muster herauszufinden. So hat die Entwicklung der Mathematik irgendwann zu einem Ergebnis geführt, das sich die Mathematiker Jahrtausende lang nicht einmal in ihren wildesten Träumen vorstellen konnten. Die mathematisch immer weiter expandierte Welt verlor ihren inneren Zusammenhalt - fiel auseinander. Die Mathematik hat ihre Einzigartigkeit verloren. Worum ging es?

Es galt nämlich in der Mathematik von Anfang an das Prinzip, dass man immer zu gleichen Lösungen gelangen muss, unabhängig davon, welche Regeln man verwendet und in welcher Reihenfolge. Und zu dieser Lösung konnte jeder gelangen, der genug mathematische Kenntnisse besaß. Man spricht in dieser Hinsicht von Schlüssigkeit oder Konsistenz des mathematischen Denkens. Mit der Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie (Nikolaj Lobatschewskij, 1826) hat sich dies schlagartig geändert. Das populärste Beispiel ist: In der herkömmlichen Geometrie gilt, dass die Summe der Winkel des Dreiecks immer und unbedingt 180° ist, bei den neueren Geometrien ist dies nicht der Fall. War die frühere Mathematik eine einzige kompakte Welt, in der das Wahre immer wahr und nie unwahr sein konnte, sowie umgekehrt (Konsistenzprinzip), gilt dies seitdem nicht mehr. Der Mathematiker muss sich heute entscheiden, in welcher Welt er etwas unternehmen („mathematisieren“) will, weil seine Ergebnisse nicht mehr dieselben werden. Wer hätte sich so etwas früher vorstellen können!

Lobatschewskij wurde es verboten, seine Entdeckung, dass auch eine andere Geometrie möglich ist als die euklidische, deren Grundlagen noch im alten Ägypten gelegt worden sind, zu veröffentlichen. Aber die Entwicklung der Mathematik ließ sich nicht aufhalten. Die Tür in eine andere Welt der unendlichen Möglichkeiten wurde aufgebrochen. Heute bietet die Mathematik viele Welten (Systeme), die in sich schlüssig (konsistent) sind, aber sie sind es nicht untereinander - sie sind sozusagen nicht untereinander kompatibel. Oder noch einfacher ausgedrückt: Es gibt sozusagen nicht nur eine Mathematik, sondern viele. Bei einer solchen Mathematik hatte der realitätsverpflichtete Rationalismus seine ganze Überzeugungskraft eingebüßt. Wie kann nämlich eine solche Mathematik der Spiegel der Welt sein? Werner Heisenberg, einer der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts formulierte es so:

„Wenn die gleichen Begriffe und Wörter in zwei verschiedenen Systemen vorkommen und dort in Bezug auf ihre gegenseitige Verknüpfung verschieden definiert werden, in welchem Sinne kann man noch sagen, daß diese Begriffe die Wirklichkeit darstellen?“ ... >

Das können sie in der Tat nicht. Der große Mathematiker, Logiker und Philosoph des vorigen Jahrhunderts Bertrand Russell hat dieses neue Verhältnis zwischen der Mathematik bzw. Logik zu der Realität so erfasst:

„Nun zeigt uns die Logik viele Räume als möglich, unabhängig von der Erfahrung, und die Erfahrung entscheidet nur unvollständig zwischen ihnen. ... Statt in enge Mauern eingeschlossen zu sein, innerhalb deren jeder Winkel, jede Spalte logisch durchforscht werden könnte, finden wir uns in einer offenen Welt freier Möglichkeiten. ... Logik, statt wie früher die Schranke für Möglichkeiten zu sein, ist der große Befreier der Einbildungskraft geworden, indem sie zahllose Möglichkeiten bot, die dem unkritischen gesunden Menschenverstand verschlossen waren, und indem sie der Erfahrung die Aufgabe zuwies, dort, wo es möglich war, zwischen den verschiedenen zur Wahl vorgelegten Welten zu entscheiden.“ ... >

Wie das mit den „verschiedenen zur Wahl vorgelegten Welten“ konkret gemeint ist, zeigen wir am Beispiel der Gravitationskraft. Mit der Entdeckung dieser Kraft feierte die klassische Physik ihre ersten spektakulären Erfolge. Gerade weil man mit ihrer Hilfe so vieles erklären konnte, was am Himmel passiert, sah man sich gezwungen und verpflichtet, der Gravitationskraft reale Existenz zu bescheinigen. Nun hat die Relativitätstheorie - die auf einer nichteuklidischen Mathematik beruht - gezeigt, dass es auch andere Erklärungsmöglichkeiten des Himmelgeschehens gibt, die jedoch keine Gravitationskraft brauchen. Verdeutlichen wir dies an einem Beispiel.

Nehmen wir an, ein Meteorit gerät in die Nähe der Erde. Die Erde zieht ihn an, so dass er dann seine Bahn ändert oder sogar auf die Erde knallt. Als die Physiklehrerin uns Kindern dies mit dem unsichtbaren Gummiband erklärte, haben wir alles sofort verstanden. Nun versuchen wir dasselbe mit dem krummen Raum zu erklären. Wenn es keine Gravitationskraft gibt, bleibt dem Meteoriten nichts anderes übrig als sich immer weiter geradlinig zu bewegen. Er würde sozusagen auf einem unsichtbaren geraden Gleis rollen. Soweit nichts Neues - das besagt bekanntlich das erste Newtonsche Gesetz. In unserem Beispiel haben wir angenommen, dass dieses unsichtbare Gleis, ganz zufällig, nicht weit von der Erde verläuft. Und dort passiert etwas Seltsames: In der Nähe der Erde biegt die Masse der Erde dieses Gleis. Aus eigenem Gesichtspunkt betrachtet, merkt der Meteorit gar nichts. Er bewegt sich immer weiter („seiner Nase nach“) nach vorne, aber in Wirklichkeit biegt sich sein Weg. Würde die ursprüngliche geradlinige Ausrichtung des unsichtbaren Gleises allzu nahe der Erde liegen, dann würde diese das Gleis so stark krümmen, dass der Meteorit auf die Erde stoßen würde.

Man braucht vielleicht kaum zu bemerken, dass beide Theorien darüber, was am Himmel in jedem Augenblick geschieht, gleich gute numerische Ergebnisse liefern. Zwei völlig unterschiedliche Deutungen, die auf verschiedenen mathematischen Modellen beruhen, sind von dem Endergebnis her gleichwertig. Andere Beispiele aus der Physik, wie man mit völlig anderen Deutungen eines Geschehens zu gleichen numerischen Ergebnissen kommt, lassen sich leicht finden. Wenn man dies verallgemeinert, heißt es, dass sich dieselbe Menge von Tatsachen mit völlig verschiedenden Denkschemata erfassen lässt. Die neue Mathematik hat also durch ihr immer neues Angebot von Formen und Mustern die Büchse der Pandora geöffnet. Die Vorstellung des heroischen Rationalismus vom Anfang der Moderne, es gäbe nur einen Gott und folglich auch nur eine Art, wie man logisch richtig denken kann, war nicht mehr haltbar. Folglich musste man sich von dem alten philosophischen Gedanken verabschieden, die Mathematik sei die endgültig gefundene richtige Ontologie. Die berühmte Aussage des großen Wissenschaftlers und Mathematikers Galileo Galilei (1564-1642), dass „das Buch der Natur“ in mathematischen Lettern geschrieben sei, ist nur eine Metapher - nicht mehr und nicht weniger. Die Mathematik bzw. ihre Welt ist etwas völlig anderes als die Welt der empirischen Tatsachen.

Die Entdeckung von neuen mathematischen Formen und Mustern war natürlich immer ein großer Vorteil für die Wissenschaften. Mit ihrer Hilfe ließen sich Denkschemata bzw. Modelle für die Datenmengen bzw. ihre quantitativen Zusammenhänge konstruieren, für die man früher keine hatte. Aber man kann sich schnell auch das neue Problem vorstellen, das dadurch entstanden ist: das Problem der richtigen Wahl. Was kann als Kriterium dafür gelten? Gibt es mehrere solcher Kriterien oder nur ein einziges, das für alle Wissenschaften gilt?

Bei den Wissenschaften, die man als exakt bezeichnet, ist man sich schon längst einig, dass das einzige akzeptable Kriterium für die Wissenschaftlichkeit einer mathematischen Theorie ihre Fähigkeit ist, die Tatsachen vorherzusagen. Damit ist gesagt, dass ein mathematisches Konstrukt, das nur die Daten ex post widerspruchsfrei in sich aufnehmen kann, noch nicht ausreicht. Nicht nur deshalb, weil solche Konstrukte heutzutage fast reine Routine sind, eine Fließbandarbeit für versierte Mathematiker, die als solche keine besondere Achtung verdient, sondern aus einem viel wichtigeren Grund: Eine mathematisch „exakte“ Beschreibung der Vergangenheit, die nichts über die Zukunft aussagt, ist allgemein betrachtet nutzlos.

Wir werden in den weiteren Beiträgen etwas mehr über das Kriterium der Vorhersehbarkeit sagen. Vor allem muss der Unterschied zwischen der Vorhersehbarkeit und der Deutung (Interpretation) der Tatsachen klar herausgestellt werden. Nur dann lässt sich nämlich richtig begreifen, warum die neoliberale Theorie von den Vorhersagen nichts hält, und warum ihr ganzer Stolz die Deutungen sind. Weil wir es mit einer mathematischen Theorie zu tun haben, werden wir auch ein bisschen Mathematik benötigen. Aber wie es bei uns auch sonst üblich ist: alles was wir an mathematischem Wissen brauchen werden, wird nicht über das hinausgehen, woran wir uns aus der Schule noch erinnern - oder zumindest mit nur ein bisschen Nachhilfe erinnern können. Es ist aber empfehlenswert, dass auch diejenigen, die mit der Mathematik vertraut sind, jetzt bis zum Ende lesen. Die Grundbegriffe, die jetzt angesprochen und kurz erläutert werden, stecken nämlich den Bereich ab, in dem wir uns mit der neoliberalen Theorie bzw. ihrem mathematischen „Totalmodell“ des allgemeinen Gleichgewichts auseinander setzen werden.

Mathematische Formeln und Modelle als „Werkzeuge“ der Wissenschaften

Der wichtigste und charakteristischste „Gegenstand“ der Mathematik ist die Gleichung. Man kann die Gleichung mit dem Satz in den (natürlichen) Sprachen vergleichen. Sie ist nämlich eine sinnvolle und gewissermaßen abgeschlossene (logische) Aussage, so wie die eines jeden „üblichen“ Satzes. Man bezeichnet bestimmte Gleichungen auch als Formel. Nehmen wir als Beispiel die schon angesprochene bekannte Formel aus der klassischen Mechanik, die über die Gravitationskraft.

F  =  g • M1 • M2 / L2

Diese Formel sagt uns:

(1)     Multipliziere die Massen der Körper M1 und M2,        
(2)     dividiere das Ergebnis mit ihrem Abstand L zwei Mal hintereinander und,        
(3)     korrigiere den Wert, indem du ihn mit einer Konstante g multiplizierst.        
=      Was du als Ergebnis bekommst, ist die Intensität der Anziehungskraft zwischen diesen zwei Körpern.        

Jede Köchin würde dazu sagen können, dass eine solche Beschreibung sie an Rezepte in ihrem Kochbuch erinnere. Die Formeln sind in der Tat im Grunde nur Rezepte, jedoch in eine knappe (symbolische) Sprache gefasst. Als solche sind sie nur „Werkzeuge“, derer wir uns bedienen, um zu einem bestimmten Ergebnis zu gelangen. Der praktische Nutzen der Formel besteht also darin, dass man die Größe, die auf der linken Seite steht, nicht empirisch zu ermitteln (zu zählen oder zu messen) braucht, da man sie ausrechnen kann. Dadurch kann man sich viel Zeit und Mühe sparen. Davon wusste man schon längst. Ein Vorzeigebeispiel aus den alten Zeiten wäre der bereits erwähnte Satz bzw. die Formel c2 = a2 + b2 von Pythagoras. Kennt man diese Formel, braucht man nicht alle drei Seiten eines Dreiecks zu messen: Man misst nur zwei, die dritte lässt sich ausrechnen. Für einen Schüler, der das Dreieck mit dem Lineal auf dem Papier seines Heftes gemalt hat, wäre dies nicht unbedingt eine einfachere und schnellere Methode, wenn man aber ein unzugängliches Terrain hat, könnte das Ausrechnen viel Arbeit sparen oder unter Umständen sogar die einzige realisierbare Möglichkeit sein.

Mit solchen Formeln kann man auch herausfinden, was in der Zukunft geschehen wird. Der größte Nutzen der Mathematik liegt gerade in dieser ihrer Fähigkeit, zu bestimmen, was erst kommen wird. Mit einer recht einfachen Formel lässt sich z.B. in der Mechanik ausrechnen, wo ein Körper sein wird, wenn er sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit eine bestimmte Zeit lang bewegt. Die Physik kann die Bewegungen und die Positionen der Himmelskörper auch für die Zukunft haargenau vorhersagen, wenn der Mensch von unserem Planeten schon längst verschwunden sein wird. (Was aber nicht lange dauern muss.) Allerdings, mit den Formeln allein würde es nicht gehen. Formeln waren immer nur die ersten Schritte der mathematischen Wissenschaften, weil sie nur auf sehr kleine Ausschnitte der Wirklichkeit, die nur eine kleine Zahl der Objekte erfassen, anwendbar sind. Wenn es komplizierter wird, braucht man Modelle. Im Bezug auf die Formeln lässt sich schnell verdeutlichen, was die mathematischen Modelle bedeuten.

Schauen wir uns die letzte Gleichung genauer an. Die Variablen auf ihrer rechten Seite sind diejenigen, die man beliebig festlegen oder zumindest ermitteln kann, weshalb sie in der Mathematik auch als unabhängige Variablen bezeichnet werden. Durch sie lässt sich die Variable auf der linken Seite eindeutig bestimmen, d.h. ausrechnen, so dass man diese auch als abhängige Variable bezeichnet. Wir haben in der Schule die abhängige Variable in der Mathematik als x und die unabhängige als y bezeichnet und diese Bezeichnung, die sich ja eingeprägt hat, wollen wir natürlich auch hier beibehalten. Auch an noch etwas können wir uns erinnern, nämlich dass wir damals Gleichungen auch als Funktion bezeichnet haben. In allgemeiner bzw. vereinfachter Form haben wir sie geschrieben wie folgt:

      y   =   ƒ ( x1x2x3x4x5, ... )            

Diese Schreibweise sagt uns weniger als eine vollständige Gleichung, eigentlich gibt sie uns nur Bescheid darüber, welche Variablen eine Funktion bzw. Gleichung hat. Diese Information reicht manchmal aus, wenn man allgemeine Überlegungen anstellt, was bei uns auch der Fall ist. Benutzt man diese Schreibweise, dann sieht ein Modell aus vier Gleichungen wie folgt aus:

      y1     =     ƒ1 ( y2y3y4x1x2x3x4x5, ... )             (1)
      y2     =     ƒ2 ( y1y3y4x1x2x3x4x5, ... )             (2)
      y3     =     ƒ3 ( y1y2y4x1x2x3x4x5, ... )             (3)
      y4     =     ƒ4 ( y1y2y3x1x2x3x4x5, ... )             (4)

Beim genaueren Hinsehen merken wir, dass diese vier Gleichungen nicht vier Formeln sind. Jede dieser Gleichungen kann eine beliebige Zahl von abhängigen bzw. x-Variablen beinhalten, wie jede Formel auch, aber sie kann auch mehrere abhängige Variablen haben, was bei den Formeln nicht vorkommen kann. Bei unserem Modell hat jede Gleichung vier solcher Variablen: y1, y2, y3 und y4. Dies bedeutet, dass man nicht eine Gleichung aus dem Modell herausnehmen und sie alleine für sich lösen bzw. ausrechnen kann. Ein wissenschaftliches Modell ist also nicht eine bloße Summe von Gleichungen, sondern ein Ganzes, so dass man es berechtigterweise als System von Gleichungen bezeichnet. Kant hat dies mit seinem bekannten Satz zum Ausdruck gebracht:

„Eine jede Lehre, wenn sie ein System, d. h. ein nach Prinzipien geordnetes Ganze der Erkenntnisse sein soll, heißt Wissenschaft ...“

Dies zieht mehrere wichtige Folgen nach sich. Man muss kein Mathematiker sein, um darauf zu kommen, dass es schwieriger sein kann ein Gleichungssystem zu lösen, als wenn jede seiner Gleichungen einer Formel entsprechen würde. Aber das wäre ein Problem, das einen Wissenschaftler noch nicht besonders beunruhigen müsste: Er könnte die Aufgabe an einen Mathematiker delegieren. Dieser würde aber darauf bestehen, dass die Zahl der abhängigen Variablen der Zahl der Gleichungen gleich ist - sonst lässt sich das System gar nicht lösen. Deshalb ist es gar nicht zufällig, dass wir im obigen Modell genau vier abhängige Variablen haben. Diese Bedingung - wie wir später sehen werden - kann dem Wissenschaftler, der ein Modell konzipiert, richtig zu schaffen machen. Wenn wir jetzt noch hinzufügen, dass auch die richtige Zahl der Variablen nicht automatisch bedeutet, dass das Gleichungssystem lösbar ist - es müssen nämlich „richtige“ Gleichungen sein -, haben wir die rein formalen Grundanforderungen an ein mathematisches Modell im Wesentlichen erfasst.

Damit haben wir jedoch nur rein mathematische Anforderungen an ein Modell angesprochen. Diese reichen aber dem Wissenschaftler nicht. Wie bereits erwähnt, kann man sich die Gleichungen auch als Sätze vorstellen. Wenn die Gleichungen ein System oder Modell bilden, müssen diese Gleichungen bzw. Sätze ein zusammenhängendes und widerspruchsfreies Ganzes bilden. Damit ist gesagt, dass nicht alles, was die Mathematik erlaubt, einfach als eine zusätzliche Gleichung zum Modell hinzugefügt werden darf, nur um das Gleichungssystem mathematisch lösbar zu machen. Anders gesagt, die Gleichungen des mathematischen Modells dürfen nicht auf sich widersprechenden Annahmen aufgestellt werden.

Außerdem kann ein Modell nicht überzeugend sein, wenn es wichtige Datenmengen bzw. Größen aus dem Bereicht, worauf es sich bezieht, einfach weglässt, weil die Zahl der Variablen die Zahl der Gleichungen übersteigen würde, so dass das Gleichungssystem nicht lösbar wäre. Aber genau das werden wir bei dem „Totalmodell“ der neoliberalen Theorie feststellen können und zwar auf allen seinen Aufbaustufen. Es wird getrickst und getäuscht, was das Zeug hält. Das Modell ist ein Stückwerk von Stümpern und Schleimern. Aber die Tatsachen lassen sich auf diese Weise natürlich nicht austricksen. Deshalb steht bei uns an der ersten Stelle zu zeigen, wie die neoliberale Theorie nicht im Geringsten dem Anspruch der Vorhersehbarkeit der Tatsachen genügen kann. Anstatt die Tatsachen vorherzusagen, will sie die Funktionsweise der Marktwirtschaft deuten. Ihre Deutung ist jedoch im Grunde nichts anderes als eine heimtückische Ausblendung und Abfertigung der ideologisch unangenehmen Tatsachen. Auch das werden wir auf eine völlig unverblümte Weise, also ohne falschen Respekt vor dieser Theorie, die selbst nie Respekt den Tatsachen und den Menschen gegenüber gezollt hat, hinstellen.

 
 
     
 
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