Was die Mathematik bedeutet und wie sie den Wissenschaften dient
  Die Vorhersehbarkeit der Tatsachen und die sog. „Deutung“ der Realität
       
 
Die Metamorphosen, die Listen und die Strategien des Objekts übersteigen den Verstand des Subjekts. Das Objekt ist weder das Double, noch das Verdrängte des Subjekts, es ist weder sein Phantasma, noch seine Halluzination, weder sein Spiegel, noch sein Reflex, sondern es verfügt über seine eigene Strategie, es ist im Besitz einer Spielregel, die dem Subjekt unzugänglich ist.
 
    Jean Baudrillard , französischer Philosoph, Soziologe und Medientheoretiker    
       
 
Kurz, es handelt sich um den Unterschied zwischen der Wissenschaft als Spiegel der Natur und der Wissenschaft als einem System schematischer Arbeitshypothesen, mit deren Hilfe wir mit der Natur fertig werden.
 
    Richard Rorty, amerikanischer Philosoph, Vertreter des Neopragmatismus sowie des politischen Liberalismus    

Eine mathematische Formel ist in den Händen eines Wissenschaftlers ein Verfahren oder „Rezept“ nach dem Muster: Wenn man hier und jetzt die Werte x1, x2, x3, x4, x5, ... zählt oder misst, dann wird man dort bzw. später den Wert y zählen oder messen können. Der praktische Vorteil eines solchen Verfahrens ist offensichtlich: Es spart Zeit und Mühe, und zwar auf zweierlei Weise: 1) Jeden Wert, den man ausrechnen kann, muss man nicht abzählen oder ausmessen. 2) Noch wichtiger ist, dass sich ausgehend von gegenwärtigen Daten zuverlässige Vorhersagen machen lassen.

Die mathematischen Formeln haben auch noch eine andere Eigenschaft: Alle Variablen der Formel sind empirisch, d.h. sie beziehen sich auf etwas, was sich konkret und direkt zählen oder messen lässt. Dies betrifft sowohl die unabhängigen Variablen auf der rechten Seite (x1, x2, x3, x4, x5, ...) der Formel als auch die abhängige Variable auf der linken Seite (y). Die mathematische Formel bzw. ihre Variablen stehen also alle fest auf dem Boden der Wirklichkeit. Gerade diese Eigenschaft hat Denker und Philosophen auf eine falsche Spur gelockt, auf den Gedanken, dass die Mathematik sozusagen der treue Spiegel der Realität sein sollte - dass die Zahlen sozusagen ein Gerüst sind, auf dem das Weltall ruht. Als sich die Wissenschaften weiter entwickelt haben und an der Stelle der einfachen Formeln immer kompliziertere Modelle getreten sind, wurde aber immer klarer, dass eine solche Auffassung nicht haltbar ist. Um dieses Problem zu erörtern, knüpfen wir jetzt an dem an, was wir vorhin über die mathematischen Variablen gesagt haben.

Im vorigen Beitrag haben wir als Beispiel ein System von vier Gleichungen dargestellt. Wir schreiben es hier noch einmal auf, indem wir es noch mehr vereinfachen, damit unser Hauptinteresse, nämlich seine Variablen, besser zum Ausdruck kommt.

        ƒ1 ( y1y2 y3 y4x1x2x3x4x5, ... )     =     0       (1)
        ƒ2 ( y1y2 y3 y4x1x2x3x4x5, ... )     =     0       (2)
        ƒ3 ( y1y2 y3 y4x1x2x3x4x5, ... )     =     0       (3)
        ƒ4 ( y1y2 y3 y4x1x2x3x4x5, ... )     =     0       (4)

Jetzt steht alles, was jede Gleichung hat, auf der linken Seite, so dass überall hinter dem Gleichheitszeichen Null geblieben ist. Solche Verschiebungen von rechts nach links lassen sich bei den Gleichungen bekanntlich problemlos machen. Sie sollte jetzt noch mehr die wichtige Eigenschaft des Modells hervorheben, dass nämlich die Gleichungen miteinander verquickt sind: Jede Variable partizipiert - im Prinzip - in jeder Gleichung. Anders gesagt, wir haben es hier nicht einfach mit vier Formeln zu tun, die sich nacheinander lösen ließen, sondern jede der Gleichungen ist eine untrennbare Komponente eines kompakten Systems, das nur als Ganzes lösbar ist (oder auch nicht). Deshalb ist es bei einem Modell, anders als bei den Formeln, nicht zwingend nötig, dass sich alle seine Variablen auf bestimmte zählbare oder messbare Dinge beziehen. Dies hat rein praktische Konsequenzen, aber nicht nur. Weil es sich hier um eine sehr wichtige und zugleich eine philosophisch (erkenntnistheoretisch) sehr kontroverse Angelegenheit handelt, wollen wir die Problematik aus einem breiteren bzw. systematischen Blickwinkel angehen. Wir erörtern nämlich alle möglichen Kombinationen der Variablen nach dem Merkmal, ob sie sich auf bestimmte und konkrete Tatsachen beziehen oder nicht, um herauszufinden, welchen Sinn und Zweck jede von ihnen haben kann:

            Y:       X:       ANWENDUNGSMÖGLICHKEITEN:
   1:       fiktiv     realitätsbezogen     Statistiken  
   2:       realitätsbezogen     realitätsbezogen     Wissenschaftliche Vorhersagen  
   3:       realitätsbezogen     fiktiv     Wahrsagereien, Prophezeiungen  
   4:       fiktiv     fiktiv     Deutungen  

 

1: Errechenbare Variablen fiktiv & vorbestimmte Variablen realitätsbezogen

Wann haben wir den Fall, dass man sich der konkreten bzw. zählbaren oder messbaren Daten bedient, sie mathematisch bearbeitet, ohne dass als Ergebnis Vorhersagen über die Realität entstehen? Das ist der Fall bei der Statistik. Sie sammelt, klassifiziert und bearbeitet Tatsachen, damit sie von anderen Wissenschaften benützt werden können. Ihre Aufgabe ist nicht die Tatsachen näher zu erklären und sie zu deuten, aber sie wird zu diesem Zweck trotzdem sehr oft missbraucht. Mehr über die „Deutung“ später, wenn wir zum neoliberalen Gleichgewichtsmodell kommen, das man stolz für die „Deutung“ dessen hält, wie der Markt wirklich funktioniert.

2: Errechenbare Variablen realitätsbezogen & vorbestimmte Variablen realitätsbezogen

Mit den Modellen, bei denen sowohl x-Variablen als auch y-Variablen einen konkreten Bezug zur Realität haben, konnten die Wissenschaften Erfolge erzielen, die man sich bei anderen Methoden nie hätte träumen lassen. In dem obigen allgemein dargestellten mathematischen Modell mit vier Gleichungen haben wir genau vier Variablen (y1, y2, y3, y4), weil sonst - wie bereits hervorgehoben - das Gleichungssystem nicht mathematisch lösbar wäre. (Damit das System lösbar ist, müssen zwar auch noch einige zusätzliche Bedingungen erfüllt werden, die aber spezifisch sind, so dass wir sie jetzt, wenn wir über die mathematischen Modelle nur allgemeinen sprechen, nicht zu berücksichtigen brauchen.)

Ist das Gleichungssystem so entworfen, dass seine Variablen lösbar sind (y1, y2, y3, y4), wäre es für einen Wissenschaftler am besten, wenn alle diese Variablen einen Bezug zur Realität hätten. Dies lässt sich aber nicht immer erreichen. Ein Teil von ihnen kann für immer fiktiv sein. Aber auch jedes Modell, bei dem sogar nur eine der errechenbaren y-Variablen realitätsbezogen ist, ist immer noch praxistauglich. Manchmal ist es möglich, dass man das Gleichungssystem überarbeitet und sich von einer oder mehreren fiktiven Variablen befreit. Mit weniger fiktiven Variablen verringert sich auch die Zahl der Gleichungen, so dass sich das Gleichungssystem - allgemein gesprochen - einfacher lösen lässt. Dies kann man als Vorteil betrachten. Man bezeichnet dieses Wahlkriterium auch als die Ökonomie des Denkens („Ockhams Rasiermesser“). Es ist aber nicht immer so, dass wir imstande sind, ein Modell bzw. ein Gleichungssystem so zu entwerfen, dass alle seine Größen einen direkten Bezug zu der Realität haben. Diese „restlichen“, sozusagen virtuellen Begriffe bzw. Größen haben aber eine außerordentlich wichtige Aufgabe. Mit Hilfe von ihnen kann das Modell schlüssig sein und es kann Schlussfolgerungen ermöglichen, die logisch zwingend sind. Gaston Bachelard (1884 - 1962) der bekannte französische Philosoph und Erkenntnistheoretiker, hat es auf den Punkt gebracht. Die Kritiker ...

„... könnten tausend Einwände gegen all diese Phantomausdrücke vorbringen, die wie Statisten eingeführt werden, um einen Gedanken formal zu Ende führen zu können, und dann, in der abschließenden Verifikation wieder spurlos verschwinden. Doch ... in Wirklichkeit sind sie unerlässliche Stützen des Denkens.“ ... >

Die Reibungskraft, die wir mit ein bisschen Witz beschrieben haben,mehr gehört natürlich auch zu solchen Statisten und viele andere auch. Wie schon erwähnt, wollte die klassische Physik aber glauben, dass ihre Theorien ein Spiegel der Natur sind, und die Philosophen des heroischen Rationalismus vom Anfang der Moderne haben sich viele tiefsinnigen Argumente einfallen lassen, um sie dabei zu unterstützen. Zum Glück ließen sich die neuen Physiker (Einstein, Bohr, Planck, Heisenberg, ...) auch von den Philosophen nicht mehr sagen, was sie zu tun oder zu lassen hätten. Sie sind unerschrocken ihren Weg weiter gegangen, an dessen Ende dann sogar völlig neue Vorstellungen über Begriffe wie Materie, Energie, Raum und Zeit entstanden sind. Diese unterscheiden sich von dem früheren dermaßen, dass man von der Erfindung neuer Begriffe sprechen kann. Die neuen Physiker haben damit nicht nur die Welt der klassischen Physik, sondern zugleich auch die naiv-rationalistische Denkweise, auf die sich diese berufen hatte, frontal angegriffen und folglich zum Zusammenbruch gebracht.

Man kann die Fortentwicklung der exakten Wissenschaften so beschreiben: Durch abstraktes Denken werden neue Modelle entworfen, mit Zusammenhängen, aus denen sich neue Begriffe entwickeln. In den Naturwissenschaften haben diese Modelle überwiegend die Form der mathematischen Gleichungssysteme. Ein Teil dieser Begriffe (Größen) sind realitätsbezogen, der Rest sind „Statisten“. Dank der realitätsbezogenen Begriffe (Größen) lassen sich diese Modelle empirisch prüfen: verifizieren bzw. falsifizieren. Wenn die ausgerechneten Werte mit den später gemessenen übereinstimmen, lässt sich von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Theorien sprechen. Man kann dies so ausdrucken:

„In der Tat ist die wissenschaftliche Wahrheit eine Voraussage oder besser noch: eine Verkündung.“ ... >
„Naturwissenschaft nennen wir etwas nur dann, wenn es uns dazu befähigt, künftiges Geschehen vorherzusagen und daher dieses künftige Geschehen zu beeinflussen.“ ... >

Dieser Auffassung folgend, lässt sich ein sozusagen idiotensicherer Test der Wissenschaftlichkeit einer jeden Theorie praktisch folgendermaßen beschreiben:

(1)   Man sucht sich einen ausgewiesenen Fachmann für die betreffende Theorie und einen Laien mit normal entwickelten Sinnesorganen, der von der Theorie und ihrem Zweck keine Ahnung hat, aus.  
(2)   Der Fachmann formuliert vor dem Beginn des Theorietests die erwarteten Ergebnisse so, dass sie sich als direkte Sinneswahrnehmungen oder mit Hilfe der Messgeräte festhalten lassen.  
(3)   Würde der Laie auf dem vorbestimmten Ort in der vorgegebenen Zeit diese Ergebnisse bestätigen, dann gelte als bewiesen, dass die Theorie wissenschaftlich richtig ist.  

3: Errechenbare Variablen realitätsbezogen & vorbestimmte Variablen fiktiv

Kann man etwas Konkretes über die Realität aussagen bzw. vorhersagen, auch wenn man sich auf keine konkreten (zählbaren oder messbaren) Daten stützt? Es gab schon immer Menschen, die solche Fähigkeiten für sich beansprucht haben. Sie haben sich auf eine nicht näher bestimmbare innere Stimme berufen, die später - damit es seriöser klang - als Intuition bezeichnet wurde. Oder sie haben sich auf Gott berufen, dann spricht man von Prophezeiungen. Auf den früheren Entwicklungsstufen der Menschheit verkündete man solche Vorhersagen bzw. Wahrsagereien bei besonderen Ritualen, bei denen Aufputschmittel eine wichtige Rolle spielten. Man denkt an die Schamanen oder das berühmte antike Orakel von Delphi. Später wurden die Vorhersagen immer mehr in der Stille der Meditationsstuben von den sog. Heiligen und Weisen verfertigt. Die jahrtausendelange Erfahrung zeigt aber, dass solche Vorhersagen sehr schlecht funktionieren. Sie waren nur sehr selten nicht ganz falsch. Aber etwas Besseres hatte man früher einfach nicht.

Das hat sich erst mit den modernen Wissenschaften schlagartig geändert, genauer gesagt, nachdem die Naturwissenschaften entstanden sind, die sich vornehmlich der Mathematik bedienen. Die Mathematik hat sich also als ein viel effizienteres „Werkzeug“ für die Vorhersagen erwiesen als alles, was man bis dato kannte. Wen sollte es da noch wundern, dass es nicht lange gedauert hat, bis all die Obskuranten, Mystiker, Metaphysiker, Scharlatane und Ideologen auch die Mathematik in ihren Trickkasten aufgenommen haben. Das gilt auch für die neoliberale ökonomische Theorie, für ihre sog. Eingutmodelle des ökonomischen Wachstums.mehr Das Gleichgewichtsmodell gehört aber nicht zu dieser, sondern zu der nächsten Kombination unserer oben vorgelegten Klassifizierung.

4: Errechenbare Variablen fiktiv & vorbestimmte Variablen fiktiv

Heute ist es mehr als berechtigt zu fragen, ob es eigentlich schon von Anfang an so vorgesehen war, dass das Gleichgewichtsmodell zu den mathematischen Modellen gehören sollte, bei denen sowohl ihre unabhängigen x-Variablen, also die Nutzenwerte, als auch ihre abhängigen y-Variablen, also die Preise, rein fiktive Größen sein sollen? Jevons - der aus dem empirisch orientierten England stammte - hatte noch gehofft, dies würde sich ändern: Irgendwann würde man schon herausfinden, wie sich das Modell an die empirischen Tatsachen anpassen könne. Daraus wurde nie etwas. Walras scheint dies schon geahnt zu haben. In seinem Hauptwerk, in dem er das Gleichgewichtsmodell entwirft, schreibt er nämlich:

„Sehr wenige von uns sind imstande, die Mathematischen Grundsätze der Naturphilosophie von Newton oder die Mechanik der Gestirne von Laplace zu lesen; gleichwohl nehmen wir alle, gestützt auf das Urtheil sachverständiger Männer, die Beschreibung für wahr an ... Warum sollte man nicht in gleicher Weise die Beschreibung der Welt der wirthschaftlichen Phänomene, gestützt auf den Grundsatz der freien Konkurrenz, für wahr annehmen?“ ... >

Mit einem Wort, ob eine ökonomische Theorie richtig oder falsch ist, hat nach Walras nichts mit den Tatsachen zu tun, sondern mit der Meinung der Experten. Eine seltsame Auffassung, wenn man bedenkt, dass am Ende das 19. Jahrhunderts gerade die experimentellen (Natur-)Wissenschaften die erfolgreichsten - oder vielleicht: die einzig erfolgreichen - Wissenschaften waren. Man könnte meinen, dass man solche Aussagen in dieser Zeit nur von den verbohrten Theologen hätte hören können, die dem dunklen Mittelalter nicht entrinnen konnten, und nicht von einem Menschen, der Technik studiert und den Ingenieur gemacht hatte (was aber nicht als sicher gilt). Sogar wenn Walras nicht Technik studiert hätte, durfte es ihm nicht entgangen sein, dass wir die Naturwissenschaften nicht etwa deshalb schätzen, weil wir ihren Autoritäten blind glauben, sondern weil ihre praktischen (End-)Ergebnisse auch jedem Laien offenkundig sind. Wir wissen, dass die Brücken, Flugzeuge, Fahrzeuge, Telefone, Computer und vieles mehr, was die Ingenieure konstruieren, zuversichtlich funktionieren - mit  Rückgabegarantie.

Man kennt auch die Vorliebe von Walras, Romane zu schreiben. In der Literatur und bei den Künsten im Allgemeinen ist es in der Tat so, dass dort ausschließlich fiktive Begriffe existieren. Bei ihnen wird die Realität nicht so wiedergegeben, wie sie „wirklich“ ist, aber das ist auch nicht ihre Aufgabe. Der Künstler ist jemand, der mit den Gedanken durch die Realität wandert, sich dort etwas schnappt, das ihm gerade gefällt, dann alles in seiner Phantasie rührt und kombiniert, bis daraus etwas entsteht. Der Künstler ist sich dessen bewusst und behauptet auch nicht, er erkläre oder deute das Leben so, wie es „wirklich“ ist. Was er als Künstler kreiert, hätte zwar mehr oder weniger auch in der Wirklichkeit stattfinden können, aber auch dann ist sein Werk nie eine Beschreibung der stattgefundenen Ereignisse oder die Vorhersage für die Zukunft. Die Kunst ist also etwas grundlegend anderes als die Wissenschaft.

Hat also Walras in seiner Leichtsinnigkeit die Kunst mit der Wissenschaft durcheinander gebracht? Es gibt auch eine andere Erklärungsmöglichkeit: die philosophische. Die Philosophie bzw. die Metaphysik ist eine sehr alte geistige Disziplin, die immer wieder für sich behauptete, sie wäre imstande, von fiktiven bzw. abstrakten Begriffen ausgehend, zu einer andren Menge von fiktiven bzw. abstrakten Begriffen zu gelangen, mit denen sich das „wahre Wesen“ der Welt deuten ließe. Man kann auf keinen Fall behaupten, dass ein solches Philosophieren nie für die Wissenschaften nützlich war. Zumindest die älteren Philosophen haben die Logik und die Mathematik vorangebracht, als diese noch nicht selbstständig waren. Aber nicht nur das. Es steht außer Frage, dass die alten Philosophen manchmal auch nützliche Anstöße für die Entwicklung der Wissenschaften gaben. Trotzdem kann heute nicht im Geringsten daran gezweifelt werden, dass die Philosophie keine allgemeinen „Fundamente“ für alle speziellen Wissenschaften besitzt - wie es noch Kant und die deutschen klassischen Philosophen geglaubt haben. Das Projekt der deutschen klassischen Philosophen, die Metaphysik als Königin der Wissenschaften dadurch zu retten, indem man aus ihr eine der Wirklichkeit (dem Sein) „zugrunde liegende“, eine „grundlegendste“ Disziplin, also eine „Fundamentaldisziplin“ macht, ist gescheitert. Wenn mit Fundamenten die grundlegenden Erkenntnisse der speziellen Wissenschaften gemeint sein sollen, so gehören die immer schon diesen Wissenschaften. Es ist nichts Philosophisches an ihnen! Nein, auch die Philosophie besitzt keinen eigenen Realitätszugang, den man als eine universelle Deutung der Realität so wie sie „wirklich“ ist, verstehen könnte, ohne dass man sich dabei auf konkrete Tatsachen stützen müsste. Alle Versuche der Realität alleine mit der Vernunft“, also ohne Sinnesdaten, beizukommen, waren umsonst. Kein Wunder also, dass die deutsche „rationalistische“ Philosophie in den literarischen Ausschweifungen von Nietzsche ihr klägliches Ende fand.

Das hat sich bereits herumgesprochen. Die spekulativen Deutungen der Wirklichkeit, mit denen mehrere deutsche Philosophen zu heute kaum fassbarem Ruhm gelangt sind, haben zum Glück schon längst ihre Anziehungskraft und Glaubwürdigkeit eingebüßt. Außerdem haben sie sich ordentlich praktisch kompromittiert. Wer kann nämlich noch im Ernst annehmen, dass es kein Zufall war, dass gerade die philosophischen Phantasmagorien dieser deutschen Metaphysiker die „kulturelle“ Vorstufe - um es so harmlos wie überhaupt möglich auszudrücken - des Stalinismus und des Faschismus waren. In der angelsächsischen empirischen und analytischen Philosophie waren die abstrakten Deutungen der Realität sowieso nie sehr ernst genommen worden. So bleibt heute wirklich nur die neoliberale „Wissenschaft“ als die einzige geistige Disziplin übrig, die für sich behauptet, die Wirklichkeit ohne konkrete Tatsachen richtig deuten zu können. Im nächsten Beitrag werden wir einige Ergebnisse ihrer Deutung erörtern, um zu zeigen, dass alles, was sie in dieser Absicht je erreicht hat, nichts anderes als geistige Onanie war.

 
 
     
 
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