Was die Mathematik bedeutet und wie sie den Wissenschaften dient
  Die neoliberale Mathematik: Ein Stückwerk der Stümper und Gaukler
       
 
Der Erfolg der mathematischen Physik weckte beim Sozialwissenschaftler eine gewisse Eifersucht auf ihre Macht, ohne daß er die Geisteshaltung recht verstehen konnte, die zu diesem Einfluß beigetragen hatte. Gerade wie die primitiven Völker die westlichen Gepflogenheiten denationalisierter Kleidung und des Parlamentarismus übernehmen aus einem unklaren Gefühl heraus, daß diese magischen Riten und Bekleidungen sie auf die Höhe moderner Kultur und Technik erheben werden, so haben die Volkswirtschaftler die Gewohnheit entwickelt, ihre ziemlich unpräzisen Ideen in die Sprache der Infinitesimalrechnung zu hüllen.
Die Entwicklung der Naturwissenschaften hatte die Anwendung mathematischer Formeln begleitet und war in den Sozialwissenschaften Mode geworden. Hierbei weisen sie kaum mehr Unterscheidungsvermögen auf als die Eingeborenen des Kongo bei der Ausübung ihrer neuen Riten. Die von den Volkswirtschaftlern angewandte Mathematik und mathematische Physik, die sie als Modell benutzen, sind die Mathematik und die mathematische Physik vor 1850.
 
    Norbert Wiener , der Begründer der Kybernetik, einer der jüngsten Wissenschaften    
       
 
Die Mathematik ist bereits in der Ökonomie benutzt worden, vielleicht sogar in übertriebenem Maße. Aufs Ganze gesehen ist ihre Verwendung aber nicht sehr erfolgreich gewesen. Das steht im Gegensatz zu dem, was man in anderen Wissenschaften beobachtet hat. Dort wurde die Mathematik mit großem Erfolg angewandt. Die meisten Wissenschaften könnten ohne sie kaum weiterkommen.
 
    John Neumann und Oskar Morgenstern, die Begründer der ökonomischen Spieltheorie    

Wir haben in den vorigen Beiträgen erörtert, wie die Mathematik in den Wissenschaften angewandt wird und was man sich von ihr erhoffen kann: mehr bzw. mehr  Dass wir uns zuerst auf die Naturwissenschaften begrenzt haben, hat seine Berechtigung: Nirgendwo sonst hat die Mathematik solche Erfolge erzielt wie in diesen Wissenschaften. Dies ist schon seit mehreren Jahrhunderten der Fall und immer noch gehören alle stark mathematisierten Naturwissenschaften zu den Wissenschaften, die sich am schnellsten entwickeln.

Die mathematischen Wissenschaften, wie bereits erörtert, nutzen die Mathematik um neue theoretischen Modelle zu bauen. Mit jedem neuen mathematischen Modell haben diese Wissenschaften - vor allem die Physik - neue Begriffe erobert. Wir haben auch festegestellt, dass nicht alle diese Begriffe realitätsbezogen sind, aber ein Teil von ihnen ist es immer. Mit ihnen wurden die den mathematischen Modellen innewohnenden Theorien empirisch bewiesen (verfizeirt) und praktisch brauchbar gemacht. Neue Begriffe - seien sie mathematisch entstanden oder nicht - sind der einzige Weg, wie eine Wissenschaft die empirische Welt immer weiter erobern kann.

„Der wissenschaftliche Fortschritt beruht darauf, dass immer mehr Daten in ein kohärentes Überzeugungsnetz einbezogen werden.“ ... >

Die Mathematik ist also mehr als nur eine quantitative Logik, d.h. eine spezifische Art, streng logisch zu denken und das Wissen besser zu organisieren. Sie baut durch ihre Gleichungssysteme völlig neue Weltbilder, in denen völlig neue Begriffe bzw. Größen entstehen, die sich dann auf die empirische Welt anwenden lassen. Sie ist also vor allem eine kreative Schöpfung. Erst aus den neuen Begriffen bzw. Größen, die sie schafft, werden neue wissenschaftliche Tatsachen. Der bekannte Erkenntnistheoretiker Bachelard hat dies auf den Punkt gebracht:

„Ein Meßinstrument ist letztlich immer eine Theorie, und man muß begreifen, daß das Mikroskop mehr eine Verlängerung des Geistes als des Auges ist.“ ... >

Nun hat vor gut einem Jahrhundert die Mathematik auch den Einzug in die ökonomische Theorie geschafft. Einige Jahrzehnte danach war die Wirtschaftswissenschaft schon stärker mathematisiert als manche anderen erfolgreichen Naturwissenschaften - wie etwa die Medizin. Von einer Erfolgsgeschichte kann aber trotzdem bis heute keine Rede sein, im Gegenteil. In der Fortsetzung des zweiten Absatzes des Zitats von den Begründern der ökonomischen Spieltheorie, John Neumann und Oskar Morgenstern, der zu diesem Webbeitrag als Motto dient, lesen wir weiter:

„Was das Fehlen eines Maßes für die wichtigsten Faktoren betrifft, so ist das Beispiel der Wärmelehre höchst instruktiv. Ehe die mathematische Theorie entwickelt war, waren die Möglichkeiten quantitativer Messungen weniger günstig als sie es heute in der Ökonomie sind. Die genauen Messungen von Quantität und Qualität der Wärme (Energie und Temperatur) waren das Ergebnis und nicht die Voraussetzungen der mathematischen Theorie. Das müßte der Tatsache gegenübergestellt werden, daß die quantitativen und genauen Begriffe der Preise, des Geldes und des Zinsfußes schon Jahrhunderte vorher entwickelt wurden.“ ... >

Anders als bei den Naturwissenschaften hat also die Mathematik der Wirtschaftswissenschaft kaum geholfen und kaum etwas gebracht. Sie hat nur dem alten Wissen eine neue Form gegeben, aber zu keinen neuen ökonomischen Begriffen und keinen neuen Zusammenhängen (Gesetzmäßigkeiten) geführt. Man kann in der Tat nur von dem alten Wein in den neuen Schläuchen sprechen. Es wären also alles nur faule Ausreden, wollen Neumann und Morgenstern sagen, wenn sich die ökonomische Theorie beklage, ihr würden noch bessere Messdaten fehlen, um schneller Fortschritte machen zu können. Nein, ihr fehlen nicht die Messwerte. Ihr fehlen keine umfangreicheren und genaueren Experimente, sondern eine bessere Theorie bzw. neue bessere Begriffe. Ohne sie gibt es keinen wissenschaftlichen Fortschritt und auch keine besseren Tatsachen.

Bemerkung: Über die Tatsachen werden wir noch einiges sagen, wenn wir uns mit dem Kreislaufmodel beschäftigen werden.

Die Tatsachen sind also theorieabhängig und theoriebedingt. Daraus folgt, dass die Theorie der Empirie vorausgeht. Zuerst schafft eine neue Theorie bzw. ein neues Modell neue Begriffe (und Größen), die sich dann ihre empirischen Tatsachen suchen. Findet man solche Tatsachen und entspricht ihre empirische Verknüpfung (Kausalität) dem formalen Zusammenhang der Begriffe in dem Modell, war das theoretische Modell erfolgreich. Der wissenschaftliche Fortschritt kann also nur durch die Entwicklung und die Wahl von besseren Modellen voranschreiten. Wie entsteht aber ein neues wissenschaftliches Modell?

Würde man das wissen, dann wären schon alle möglichen Modelle entworfen worden, und das würde zugleich das Ende der wissenschaftlichen Entwicklung bedeuten. Es gibt bis heute keine „Rezepte“ dafür und voraussichtlich wird es sie nie geben. Die Erfahrung zeigt auch, dass kaum etwas so schwierig in einer Wissenschaft ist, als ein neues Modell zu entwerfen. Man kann sich aber die Mühe sparen, wie wir es von Walras kennen. Ihm ist es bekanntlich eingefallen, ein schon viele Jahrzehnte bewährtes Modell aus einer anderen Wissenschaft einfach abzukupfern. Dieses Modell hat sich trotzdem erfolgreich durchgesetzt, so dass es schon nach mehr als einem Jahrhundert das wichtigste Modell der Wirtschaftswissenschaft ist: Es ist ihr sogenanntes Referenzmodell. Angesichts dieser fast unvorstellbaren Einfallslosigkeit in der Wirtschaftswissenschaft, an der sich bis heute nichts geändert hat, wäre es richtig, die mainstream Wirtschaftswissenschaft nicht als eine Ökonomie der knappen Güter, sondern als ein soziales und psychologisches Phänomen der knappen Vernunft zu betrachten.

Aber so wichtig ist es letztendlich doch nicht, wie die Wirtschaftswissenschaft zu ihrem Modell gelangt ist, sondern ob sich dieses bewährt hat. Für das angeblich allgemeine Gleichgewichtsmodell von Walras lässt sich dies ganz bestimmt nicht sagen. Weil die Begriffe bzw. Variablen dieses Modells keinen nachprüfbaren Bezug zur Realität haben, gibt es bis heute keine Tests, mit denen man es verifizieren (oder falsifizieren) könnte, und deshalb ist dieses Modell nicht einmal wissenschaftlich. Und es schafft keine neuen Begriffe, so dass es auch in dieser Hinsicht kein wissenschaftlicher Fortschritt war. Das werden wir uns jetzt näher anschauen.

Bevor wir damit anfangen, heben wir noch einmal hervor, dass das partikel-mechanische Modell bei seiner ursprünglichen Anwendung in der klassischen Physik eine Quelle von völlig neuen Sichtweisen (gedanklichen Beziehungen) und Begriffen war, mit denen sich neue empirische Felder erschließen ließen. Walras und seine Nachfolger haben jedoch das genaue Gegenteil getan. Man kann sich nicht einmal des Eindrucks erwehren, dass es den neuen Liberalen schon immer darum gegangen ist, möglichst viel von dem, was die Frühliberalen hinterlassen haben, zu zertrampeln und zu liquidieren. Aber ob sie sich dessen bewusst oder unbewusst gewesen sind, gerade das haben sie getan. Das neue ökonomische Modell des „allgemeinen“ Gleichgewichts ließ eine ausgeschlachtete und verwüstete theoretische Landschaft hinter sich, in der es nur isolierte Individuen gibt, die für eine optimale Ordnung gerade dann sorgen, wenn sie als rücksichtslose Egoisten handeln. Man ist auch hier erstaunt, dass dies schon Marx richtig durchschaut hat. Die „bürgerliche“ Ökonomie - hat er immer wieder behauptet - könne den Kapitalismus nur durch eine Vulgarisierung der Klassiker ideologisch verteidigen. Für Spott diente ihm üblicherweise der damals bekannteste Harmonie- und Gleichgewichtsprediger Say: der „fade“ Say. Dass aber die richtige Vulgarisierung der liberalen Theorie erst bevorstand, hätte vielleicht auch Marx nicht glauben können.

Wir zeigen zuerst konkret, wie dieser Prozess der theoretischen Destruktion der klassischen Theorie - der Politischen Ökonomie - vor sich ging und welche Begriffe den späteren wissenschaftlichen Hochstaplern zum Opfer fielen. Zugleich versuchen wir auch die wahren Motive für die neoliberale Verstümmelung und Verflachung der ökonomischen Theorie herauszufinden und ihre sozialen und politischen Folgen.

Das Geld wird weganalysiert - über Geld spricht man nicht!

An unserem Beispiel des Gefangenenlagers haben wir gezeigt, wie der Tausch und die (Paretosche) Nutzenmaximierung problemlos auch ohne Geld funktionieren kann. Das Ergebnis dieses Tausches waren sogenannten numéraire, also die relativen Preise, bei den älteren Ökonomen auch Tauschwerte genannt. Sie zeigen, in welchen Proportionen sich die Güter untereinander austauschen:

1 Fleischkonserve = 4 Würstchen = 4 Milchpulverdosen = 2 Zigarettenschachteln = 1l Wein = 40 Zuckerwürfel = 1 Rasiermesser = 20 Teebeutel = ...

Das von Walras vorgeschlagene System von Gleichungen, in dem stillschweigend davon ausgegangen wird, dass die Präferenzen aller Tauschteilnehmer (Nutzenkurven) in Bezug auf jedes Gut quantitativ bestimmbar und bekannt sind, gibt als Lösung immer solche relativen Preise (numéraire). Wir haben schon erwähnt, wie leicht sich aus solchen Preisen „richtige“ Preise machen lassen, also die absoluten oder die Geldpreise. Es genügt, einem einzigen Gut den richtigen Preis zuzuweisen, z.B. zu sagen, dass eine Fleischkonserve 8 € kostet, und schon kennen wir die Geldpreise für alle übrigen Güter. Konkret würde man dann folgendes bekommen:

  • 1 Würstchen: 2 €
  • 1 Milchpulverdose: 2 €
  • 1 Zigarettenschachtel: 4 €
  • 1 l Wein: 8 €
  • 1 Zuckerwürfel: 20 ct
  • 1 Rasiermesser: 8 €
  • 1 Teebeutel: 40 ct
  •  usw.

Rein mathematisch betrachtet, wäre es nicht das geringste Problem, dem Gleichungssystem von Walras noch eine zusätzliche Gleichung hinzuzufügen, in unserem Beispiel etwa diese

1 Fleischkonserve = 8 €

und schon hätte man die Lösungen für alle Güter mit den „richtigen“ Preisen. Dass Walras so etwas mit Absicht nicht getan hat, kann man sich leicht ausdenken. Ein Gleichungssystem in der Wissenschaft ist nämlich keine reine Mathematik, sondern - wie bereits mehrere Male nachdrücklich betont - eine „Erzählung“ über einen Teil der Wirklichkeit, in der die Gleichungen sozusagen den Sätzen und die Variablen den Hauptbegriffen entsprechen. Diese „Erzählung“ muss unbedingt schlüssig, also ein systematisches Ganzes (Kant) sein. Folglich kann ein Wissenschaftler, anders als ein Mathematiker, nicht nach Belieben dem System noch eine Gleichung hinzufügen, auch wenn dann das Gleichungssystem lösbar wäre. Deshalb konnte Walras eine solche Gleichung, wie die obige, nicht einfach so - mir nichts, dir nichts - zu seinem Gleichungssystem hinzufügen. Im Rahmen der „Geschichte“, die das Gleichgewichtsmodell „erzählt“, würde eine solche Gleichung keinen ökonomischen Sinn ergeben.

Der Laie könnte jetzt aber sagen, dass ihm die letzte Gleichung eigentlich einleuchtet, weil sie einen realen Sinn ergibt. Sie besagt, dass eine Fleischkonserve so und so viel Geldeinheiten bzw. € wert ist. Das ist völlig richtig. Ihr einziges Problem ist „nur“, dass sie in die „Erzählung“, die dem Gleichgewichtsmodell einen Sinn ergibt, nicht passt. Man kann nämlich das Geld nicht als ein beliebiges Gut in dieses Modell einfügen, weil sich bei ihm das abnehmende (Grenz-)Nutzen nicht beobachten und erkennen lässt. Das Geld ist nämlich kein Genussgut - wie es die alten Ökonomen sagen würden - mit dem irgendwelche reale menschliche Bedürfnisse befriedigt werden können, so dass man ihm auch keine monoton fallende Nutzenkurve zuordnen kann, die man aber unbedingt braucht, damit das Gleichungssystem von Walras lösbar wird.

Damit ist natürlich nicht gesagt, dass die neoliberalen Ökonomen über das Geld nicht reden wollen und nichts zu sagen haben, im Gegenteil. Wie wir es auch von allen anderen Sozialwissenschaften wissen: Je weniger man zu sagen hat, desto einfallsreicher und länger die Rede. Es heißt nur: Wenn das Gleichgewichtsmodell die Funktionsweise der Marktwirtschaft vollständig erklärt und deutet ohne das Geld zu brauchen, dann kann das Geld kein Faktor sein, von dem die Funktionsweise der Marktwirtschaft abhängt. Das Geld sei letztendlich „neutral“, also nur ein „Schleier“, wie man seit langer Zeit zu sagen pflegt. Keynes hat dies als klassische Dichotomie bezeichnet.

Sollte dem so sein, dann bräuchte sich der Staat ums Geld nicht zu kümmern, und schon gar nicht könnte das Geld für etwas verantwortlich gemacht werden. Das Geld bzw. das ganze Banken- und Finanzsystem bräuchte die Politik nicht zu interessieren, denn gerade wenn sie sich einmischen würde, käme es zu Problemen, die es sonst nicht gäbe. Mehr Geld würde angeblich nur zur Inflation führen, die immer und unbedingt nur schädlich sei. Und vor allem dürfte man das Geld nicht dem „unverantwortlichen“ Staat überlassen, sondern den privaten Banken und Börsen in die Hände geben. Solche Reden und Predigten hören wir schon seit mehreren Jahrzehnten. Noch vor nicht allzu langer Zeit galt z.B. jemand, der nur leise Zweifel an dem völlig freien Banken- und Finanzsystem äußerte, als einer, der gar nichts von der Marktwirtschaft versteht, oder als einer, der die beste und die gerechteste aller Welten absichtlich stören will. So hat sich auch unser Bundespräsident Horst Köhler viele Jahre hinweg ohne wenn und aber für die Narrenfreiheit des Finanzsystems eingesetzt, eine leidenschaftliche Rede nach der anderen über die Deregulierung, Entbürokratisierung und Investitionsfreiheit abgehalten. Jetzt geißelt dieses erbärmliche Charakterchamäleon überall, wo er hingeht, die uneingeschränkten Freiheiten der Finanzmärkte. So wie die biblischen Pharisäer: heute schreien sie „Hosianna“ und morgen „Kreuzige ihn!“ Man kommt nicht aus dem Staunen heraus, wie ein Sterblicher in so kurzer Zeit so viel klüger sein kann.

Bleiben wir aber bei der Theorie. Die neoliberale ökonomische Theorie hat also das Geld durchs Fenster hinausgeworfen, es kam aber bald durch die Tür zurück. Es wurde bekanntlich zur Grundlage des ersten Paradigmenwechsels in der ökonomischen Theorie seit Adam Smith. Man nennt dieses neue Paradigma, die von John Maynard Keynes (The General Theory of Employment, Interest and Money, 1936) entworfen wurde, Nachfragetheorie. Die Theorien davor nennt man seitdem Angebotstheorien, zu denen natürlich nicht nur die neoliberale gehört, sondern auch die marxistische und viele andere. Gerade deshalb, weil die neoliberale Theorie das Geld für die Funktionsweise der Marktwirtschaft als unerheblich („neutral“) erklärt habe, so der Hauptvorwurf von Keynes, konnte sie nicht verstehen, dass ein Nachfragemangel möglich ist. Die Möglichkeit oder die Voraussetzung des Nachfragemangels nach Keynes würde also in der Existenz des Geldes liegen. Nur wenn es Geld gäbe, so seine Erklärung, könnte eine größere Geldsumme eingespart werden (S), als jene, die Investoren bereit seien zu investieren (I), so dass eine Nachfragelücke zurückbliebe. Dieser Problematik werden wir einen eigenen Themenbereich widmen. Jetzt wollen wir nur noch kurz zu verstehen geben, in wessen Interesse (quo bono) die theoretische Leugnung des Geldes bzw. des Nachfragemangels sein kann.

Sollte es sich als richtig erweisen, dass ökonomische Krisen und Rezessionen mit dem Nachfragemangel zu tun haben, dann wäre es zweifellos sinnvoll, mehr Geld drucken zu lassen. Damit würde man eventuell eine gewisse Inflation riskieren, mit der Folge, dass das Geld an Kaufkraft verliert, was denjenigen, die das Geld besitzen, nicht gefallen könnte. Sollte jedoch ein Nachfragemangel völlig unmöglich sein, so wie es die neoliberale geldblinde Theorie sakrosankt behauptet, dann braucht bzw. darf man so etwas nicht tun. Und wenn man das nicht tut, dann müssen die Reichen um den Wert ihres Geldes nicht bangen. Sie können dann noch lauter eine Lohn- und Steuersenkung verlangen, die zu weiterer Preissenkung führen würde, und das Geld, das sie besitzen, würde noch zusätzlich an Wert gewinnen.

Eine fatale Konsequenz des neoliberalen ökonomischen Denkens bzw. des allgemeinen Gleichgewichtsmodells, in dem das Geld einfach weganalysiert wird, ist die Zinsknechtschaft. In der Praxis kommt es nämlich immer wieder dazu, dass der Staat Geld braucht, weil er bestimmte vertraglich fixierte Verpflichtungen hat für die Renten, Schulen, Sozialsysteme, usw. Wenn aber der Wirtschaft mehr Geld auf keinerlei Weise nützen könnte und Geld nachdrucken angeblich nur zur Inflation führen würde, dann sollte der Staat es sich anstatt zu drucken bei den Reichen ausleihen. Dem Staat fehlt das Geld unter anderem auch dann, wenn die korrupte Regierung durch Steuersenkungen angeblich mehr Wachstum und Beschäftigung schaffen will. Wie wir es in den letzten Jahrzehnten immer wieder feststellen konnten, wachsen nach den Steuersenkungen nicht die Wirtschaft und die Beschäftigung, wie sakrosankt versprochen, sondern vor allem die Löcher in der Staatskasse. Dem Staat fehlt, was er den Reichen zuvor nachgeworfen hat. Diese erklären sich dann bereit, dem Staat ihr „hart verdientes“ Geld auszuleihen, natürlich für „angemessene“ Zinsen. Nachdem man mehrere solche Steuersenkungsrunden gedreht hat, ist die Falle der Reichen und der Kapitalbesitzer zugeschnappt. Die ganze Nation bzw. unsere Kinder werden dann nur für die Zinsen und Zinseszinsen der Kinder der reichsten Familien schuften. Dies ist die Situation, in der sich ziemlich alle westlichen Länder befinden, Deutschland auch. Neu ist sie nicht. Die genau gleiche Situation hatten wir in der Weimarer Zeit - mit einem mehr dazu. Auch der Weimarer Staat war nach mehreren Steuersenkungsrunden pleite, und es kam zur Großen Depression. Wie wir wissen, ist es unseren diabolischen Machteliten, also den Geld- und Kapitalbesitzern, damals hervorragend gelungen, ihre Opfer zu überzeugen, dass alleine die Juden die bösen Wucherer und Profiteure der Nation sind. Jetzt gibt es aber kaum Juden bei uns. Es wird spannend sein, was man sich jetzt ausdenken wird.

Der Profit wird weganalysiert - über Profite spricht man nicht!

Es war irgendwann vor sehr langer Zeit, als die Ökonomen - sogar die bedeutendsten und bekanntesten - nicht den geringsten Zweifel daran hegten, dass es so etwas wie Profit wirklich gibt. Aber diese Zeiten sind schon längst hinter uns. Außerdem waren die Ökonomen aus dieser schon längst vergessenen Zeit noch der Auffassung - auch wenn man sich so etwas heute kaum vorstellen kann -, dass die ökonomische Theorie etwas mit den empirischen Tatsachen zu tun hat. Auch das kann man sich heute kaum vorstellen. Was für seltsame Zeiten! Waren es früher einmal unsere deutschen Philosophen, die sich erlauben konnten, mit ihrer ganzen elitären Blasiertheit und akademischer Arroganz herumzuposaunen: „desto schlimmer für die Tatsachen“, heute erlauben sich dies alleine die neoliberalen „Wirtschaftswissenschaftler“ und sind darauf auch noch unheimlich stolz. Wir haben gerade gesehen, was die neue neoliberale „Wissenschaft“ mit dem empirischen Phänomen Geld getan hat: Sie hat es einfach weganalysiert. Es fehlte ihr eine Gleichung in ihrem mathematischen Modell, so dass das Geld außen vor bleiben musste. Aber was des einen Leid, ist des anderen Freud:

Wenn es Geld nicht gibt, dann steht nämlich der Begriff Zins frei zu Verfügung. Da bot sich an, den Zins als den eigentlichen („realen“) Preis der Produktionsgüter bzw. des Kapitals zu nehmen. Das Kapital wird bekanntlich aus Ersparnissen finanziert und daraus lässt sich folgender theoretischer Zusammenhang herstellen: Damit die Menschen einen Nutzen aus dem Sparen ziehen können, muss man für ihre Bereitschaft zu sparen etwas bezahlen. Das sollte nun der Zins sein: der Preis der Ersparnisse. Diese Idee (der „Abstinenz“) war schon damals, also Walras an seinem Gleichgewichtsmodell bastelte, alles andere als neu (Nassau Senior, 1790-1864), so dass man jetzt nicht auf den Gedanken kommen sollte, die Neoliberalen hätten etwas Originelles erfunden. Der wesentliche Unterschied ist im Folgenden zu sehen. Die älteren Ökonomen sahen bekanntlich keinen Grund dafür, sich zwischen Profit und Zinsen entscheiden zu müssen: Sie nahmen einfach an, dass das Kapital in der Produktion beides verdienen und damit bezahlen kann. Warum käme aber so etwas für die Neoliberalen nie in Frage? Wieder einmal aus den mathematischen Gründen. Ein Gut kann in dem Gleichgewichtsmodell nur einen Preis bekommen, sonst gibt es keine Lösung für das Gleichungssystem. Und wenn der Preis des Kapitals Zins heißt, dann kann folglich sein Preis nicht auch noch etwas anderes sein: etwa Profit. Das ist kurz gesagt die logische bzw. „streng-analytische“ neoliberale Erklärung, warum es Profit nicht gibt. Zum Vergleich stellen wir den analytischen Begriffsapparat der klassischen und der neoliberalen Lehre tabellarisch gegenüber:

Die klassische Terminologie   Der neoliberal-orwellsche Neusprech  
   

Und wie kommt es dazu, dass ein Unternehmer, der sich Geld ausleiht und es mit den Zinsen zurückzahlt, noch eine ganze Menge verdient? - würde ein Laie fragen, der mit offenen Augen durch die Welt geht. Kein Problem! - erwidert da der Neoliberale. Was ein solcher Mensch verdient, ist nur sein Gehalt als Unternehmer und kein Profit des Kapitalisten. Der Kapitalist und der Unternehmer, so Walras - und seine späteren Bewunderer, wie zum Beispiel Schumpeter -, seien völlig verschiedene ökonomische Kategorien, die kaum etwas bzw. gar nichts miteinander zu tun hätten. Möglicherweise gäbe es die ausbeuterischen Kapitalisten irgendwann früher - würde man eventuell noch zugeben - aber das wäre vor so langer, langer Zeit. Der Kapitalist, der nur Profit abkassiert und sonst nichts, sei angeblich schon längst ausgestorben, und der Unternehmer sei heute ein Beschäftigter in der eigenen Firma, der wie jeder andere arbeiten würde, nur seine „wahre“ Leistung sei eine andere. Ja, das ist sie in der Tat! Die Leistung des Unternehmers ist heute Hundert oder Tausend mal höher, als die der normalen Beschäftigten bzw. Arbeiter. Auch wenn er ein paar Mal in die Firma kommt, als Aufsichtsrat oder einfach um mit dem Management eine Tasse Kaffe zu trinken, hat er schon so viel geleistet wie einer seiner Arbeiter in einigen Tagen oder Wochen. Na bitte - es geht doch auch ohne den Kapitalisten!

Heute, wo es keinen Zweifel mehr daran geben kann, dass die neoliberale Theorie das kälteste aller kalten Ungeheuer ist - um mit Nietzsche zu sprechen -, dass sie nichts anderes als eine reine Ideologie der Herrschenden und Besitzenden ist, fragt man sich, ob dies am Anfang nicht vorhersehbar war. Ist es denkbar, dass die neuen Liberalen nichts ahnen konnten, als sie den Zins an die frühere Stelle des Profits gesetzt haben? Natürlich musste es jedem Anhänger der neuen Theorie bekannt sein, dass ohne Profit dem Arbeiter nicht etwas weggenommen werden kann, und schon gar nicht wäre es möglich, ihn auszunützen. Auch dem sozial kurzsichtigen mathematischen Ökonomen musste doch bekannt sein, dass er damit die damals schon populär gewordene Marxsche Exploitationstheorie frontal herausfordert. Aber wie dem auch sei, die Weganalysierung des Profits an sich, machte die neoliberale Gleichgewichtstheorie noch nicht zur gefährlichsten Waffe in dem ideologischen Kampf der Reichen gegen die Aufklärung und den Humanismus. Es war etwas anderes. Ihr ist es sogar gelungen die Löhne bzw. die abhängig Beschäftigten für jedes Versagen der Marktwirtschaft direkt verantwortlich zu machen bzw. zu beschuldigen. Dies zu begreifen heißt den wahren Sinn der ganzen neoliberalen Theorie zu begreifen. 

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