Fortsetzung:

Die Produktionstechniken werden weganalysiert - Damit sich über Löhne sprechen lässt

Die notwendige Bedingung jedes mathematischen Gleichungssystems, dass die Zahl der Variablen der Zahl der Gleichungen entspricht, ist sozusagen eine allgemeine Gebrauchsanweisung eines jeden Modellbauers. Daran muss er sich einfach halten. Was die kreative Knochenarbeit bei dem Aufbau eines mathematischen Modells ausmacht, ist aber die sozusagen innere Ausstattung des Modells Damit kann man aber erst dann beginnen, wenn man eine leitende Idee darüber hat, was das Modell überhaupt soll. Bei Walras war diese Idee das utilitaristische Prinzip der Nutzenmaximierung (Jeremy Bentham, 1748 - 1832), mit dem er mathematisch zum Ergebnis kam, dass die Preise bzw. Tauschwerte (numéraire) quantitativ den Seltenheiten (Knappheiten) entsprechen. Dieses Ergebnis war nur deshalb mathematisch möglich, weil Walras aus dem Prinzip der Nutzenmaximierung alles über Bord geworfen hat, außer einer einzigen Eigenschaft der Bedürfnisbefriedigung: die Sättigung.

Man muss trotzdem zugeben, dass die Entscheidung zugunsten der Sättigung der Bedürfnisse kein ungeschickter Zug war. Wie schon des Öfteren bemerkt, ist die Sättigung der menschlichen Bedürfnisse eine empirisch unbestrittene Tatsache. Ob es sich um materielle Güter oder geistige Produkte handelt, die Aufnahmefähigkeit des Menschen stößt immer an Grenzen. Nähert man sich dieser Grenze, sendet der menschliche Organismus negative Signale, um den Prozess der Befriedigung des betreffenden Bedürfnisses zu hemmen und zu unterbrechen. Dies alles lässt sich überall und immer bestätigen. Die Preistheorie von Walras erfasst also tatsächlich eine bestimmt nicht unwichtige Funktionsweise der menschlichen Existenz, das Verhalten des Menschen bei der Befriedigung der Bedürfnisse, so dass sie nicht unbedingt und ganz falsch sein kann. Aber ihre Ergebnisse sind trotzdem langweilig und nutzlos. Sie sind Trivialitäten. Vergleicht man den riesigen mathematischen Aufwand mit dem Ergebnis, bewertet man also die neoliberale Theorie nach ihrem eigenen Kosten/Nutzen-Kriterium, kann man seltsamerweise nur feststellen, dass sie dieses Kriteriums spottet. War es wirklich wert, soviel Theorie zu bemühen, nur um „Erkenntnis“ zu erlangen, für die immer und überall der gesunde Menschenverstand völlig ausreicht? Das Gleichgewichtsmodell ist womöglich der komplizierteste Weg um aufzuzeigen, dass die Preise eines jedes Gutes steigen/fallen, wenn dieses in kleineren/größeren Mengen hergestellt wird und alle anderen Umstände (ceteris paribus) unverändert bleiben.

Man kann eine Wissenschaft wirklich nur beneiden, wenn sie sich so viel Lanegweile leisten kann. Wen wird es dann noch wundern, dass eine solche Albernheit lange Zeit keinen wichtigeren Ökonomen begeistern konnte. Die neue „subjektivistische“ Wert- und Preistheorie schien mehrere Jahrzehnte ein tot geborenes Kind zu sein. Sie setzte sich durch, als es klar wurde, dass sie das Sprachrohr der Interessen der sozialen Klasse der Geld- und Kapitalbesitzer sein kann. Als solche war sie eine große Wende im Klassenkampf der Kapitalbesitzer gegen die Arbeiterklasse, ein richtiges Paradigmenwechsel in der Ideologie der modernen kapitalistischen bzw. plutokratischen Herrschaft. Bevor es die neoliberale Gleichgewichtstheorie gab, waren nämlich alle bekannten Möglichkeiten der Verteidigung der Interessen der Geld- und Kapitalbesitzer an sich defensive Strategien. Die neuen Reichen und Privilegierten haben sich im Prinzip nur verteidigt. Die sich bei den Reichen geistig prostituierenden Ökonomen versuchten sich verschiedene Spitzfindigkeiten in juristischer Manier auszudenken, um die Existenz des Zinses und des Profits zu rechtfertigen. Sie erfanden verschiedene Geschichten darüber, welch unerträgliche Risiken die Investoren tragen, was für übermenschliche Fähigkeiten die Unternehmer besitzen müssen, wie sie sich geistig und körperlich bis zur Selbstaufgabe für das Gemeinwohl opfern, usw. Wie zum Beispiel Schumpeter:

„Der typische Unternehmer fragt sich nicht, ob jede Anstrengung, der er sich unterzieht, auch einen ausreichenden „Genußüberschuß" verspricht. Wenig kümmert er sich um hedonische Früchte seiner Taten. Er schafft rastlos, weil er nicht anders kann, er lebt nicht dazu, um sich des Erworbenen genießend zu erfreuen. ... Wir bemerken, daß sich bei solchen Leuten geradezu eine bemerkenswerte Gleichgültigkeit, ja selbst Abneigung, gegen untätigen Genuß zeigt. Man braucht sich nur die eine oder die andre der ja so allgemein bekannten Gestalten der Männer, die Wirtschaftsgeschichte gemacht haben ... zu vergegenwärtigen, um sofort die Wahrheit dieser Behauptung einzusehen. Solche Wirtschaftssubjekte leben freilich meist luxuriös. Aber sie leben luxuriös, weil sie die Mittel dazu haben, sie erwerben nicht, um luxuriös zu leben.“ ... >

Viel ließ sich aber mit solchen an den Haaren herbeigezogenen Geschichten nie erreichen, mögen sie auch von noch so tollen Wirtschaftswissenschaftlern und Professoren sakrosankt verkündet und beteuert. Aus dieser hoffnungslosen Situation, sich nämlich ständig verteidigen und rechtfertigen zu müssen, hat erst die neoliberale Theorie den Ausweg gezeigt. Sie hat es zum ersten Mal möglich gemacht, für die Geld- und Kapitalbesitzer eine offensive Strategie zu entwickeln. Seitdem braucht man die Zinsen und die Profite nicht mehr zu rechtfertigen und zu verteidigen, sondern man richtet die ganze Aufmerksamkeit auf die Löhne. In dieser Hinsicht war die neoliberale Theorie wirklich neu und originell. Die Löhne bzw. die abhängig Beschäftigten wirklich für jedes Versagen der Marktwirtschaft direkt verantwortlich zu machen, war etwas, was bis dahin kein seriöser Ökonom gewagt hat

Man ist erstaunt, wie harmlos alles begonnen hat. Nicht abwegig wäre sogar die Vermutung, dass Walras selbst nicht ahnte, was für einen ideologischen Sprengstoff sein mathematisches Gleichgewichtsmodell vorbereitet hat. In den Briefen an Freunde bezeichnete er sich bekanntlich oft als „wissenschaftlicher Sozialist“. Viel muss dies trotzdem nicht bedeuten, weil sich damals manche wichtigsten Ökonomen - auf die eine oder andere Weise - als Sozialisten gefühlt haben. Der größte englische Liberale John S. Mill ist das beste Beispiel. Es ist aber ein bisschen seltsam, wenn sich jemand wie Walras für einen Sozialist hält und dann eine „reine“ Theorie entwirft, in dem es keine ökonomische Macht und keine sozialen Klassen gibt. Das ursprüngliche Vorhaben war, die Arbeit in sein Modell zu integrieren, und zwar so wie er es zuvor auch mit anderen Gütern bzw. Konsumgütern getan hat. Dies wäre aber mathematisch nur dann möglich - da kommt uns wieder das Geld in den Sinn - wenn man der Arbeit eine Eigenschaft zuschreiben könnte, die quantitativ betrachtet die gleiche Form hätte, wie die Sättigung der menschlichen Bedürfnisse. Was Walras brauchte, war also eine monoton fallende Funktion für die Arbeit.

Diese monoton fallende „Produktionsfunktion“ zu finden war gar nicht einfach. Nicht ohne Grund entwarf Walras sein Modell zuerst im Bereich des Konsums (1874); erst später (1877) passte er es der Produktion an. Also erst dann, als er herausgefunden hat, was bei der Arbeit der Sättigung der Bedürfnisse entsprechen könnte. Zum Glück musste sich Walras auch diesbezüglich nicht selber den Kopf zerbrechen, sondern sich nur richtig umschauen. Bei David Ricardo konnte er in der Tat schon alles finden, was er brauchte. Damit ist jetzt seine Bodenrentetheorie gemeint:

Bei seiner Untersuchung der Einkommensverteilung in der Wirtschaft (1817) stellte Ricardo nämlich fest, in einer Region oder einem Land würden die Bauern zuerst den fruchtbarsten Boden kultivieren und bebauen, dann den weniger furchtbaren, und so weiter. In der mathematischen Sprache ausgedrückt: Der Ertrag [q] pro jedes nächstes ha nimmt kontinuierlich ab. Der Grund, warum eine immer größere Bodenfläche kultiviert werden muss, sah Ricardo nämlich im Bevölkerungszuwachs. Auch wenn heute nur sehr wenige etwas von der Landwirtschaft verstehen, ist es leicht verständlich, wie gut die fallenden Bodenerträge zu der Walraschen Theorie passen. Stellen wir zu diesem Zweck zwei Diagramme nebeneinander, eins für die Sättigung der Bedürfnisse bei den Konsumgütern und das andere für die sinkenden Bodenerträge, um zu verdeutlichen, dass wir in beiden Fällen eine monoton fallende Funktion haben

   

Der sinkende produktive Ertrag - zumindest langfristig betrachtet - lässt sich wir nicht nur beim Boden, sondern auch bei allen anderen Naturressourcen feststellen. Die natürlichen Quellen erschöpfen sich nämlich. Nun ist es so, dass man in der ökonomischen Theorie schon längst an die Naturressourcen nicht mehr denkt (oder erst am Rande), und dann bekommt man ein gar nicht geringes Problem. Warum soll der Ertrag (die Produktivität) der Produktionsgüter bzw. des Kapitals mit der investierten Menge abnehmen? Wenn ein Unternehmen eine zusätzliche, etwa vierte Maschine oder Produktionslinie in Betrieb nimmt, warum sollte sie weniger produktiv sein als die früheren drei? Hat übrigens nicht schon Smith bemerkt, dass die Massenproduktion Kostenersparnis pro Gütereinheit (return to scale) bedeutet und sie deshalb so hoch gehalten? Aber schon damals war dies bekanntlich keine originelle Erkenntnis. Und hat Marx - wie auch viele andere Ökonomen noch lange nach ihm - es nicht als selbstverständlich angenommen, dass die Kapitalakkumulation fast automatisch die Produktivität steigere? Außerdem muss auch der Neoliberale an den Unsinn der Kapitalakkumulation zumindest stillschweigend glauben, sonst würde die von ihm anerkannte Zinstheorie keinen ökonomischen Sinn haben. Der Zins würde gegen das von ihnen so hochgehaltenes Knappheitsprinzip grob verstoßen.

Es sprechen eigentlich ziemlich alle Tatsachen gegen die neoliberale Produktionsfunktion. Aber was haben die Tatsachen bitte schon in der neoliberalen Theorie zu melden! Sie sind für den gestandenen Neoliberalen doch nie ein ernsthaftes Problem gewesen. Wie wir wissen, sind sie für sie immer nur eine Sache der richtigen Interpretation:

„Man kann, zum Beispiel, schnell übereinkommen, daß im Amerika des 19. Jahrhunderts Steuerquote, Wirtschaftsregulierung und Lebensstandard vergleichsweise niedrig waren, während im 20. Jahrhundert Lebensstandard, Steuern und Regulierung relativ hoch waren. War jedoch im 20. Jahrhundert der Lebensstandard höher wegen der höheren Steuern und Regulierungen oder trotz der höheren Steuern und Regulierungen? ... Ebenso könnte man schnell übereinkommen, daß Sozialausgaben und Kriminalitätsraten in den 1950er Jahren niedrig waren und daß beide nun vergleichsweise hoch sind. Hat jedoch die Kriminalität wegen oder trotz der steigenden Sozialausgaben zugenommen, oder haben Kriminalität und Sozialausgaben nichts miteinander zu tun und die Gleichzeitigkeit beider Phänomene ist lediglich zufällig? Die Fakten geben keine Antwort auf diese Fragen. ... Die Geschichtsdaten sind logisch kompatibel mit unvereinbaren rivalisierenden Interpretationen, und Historiker, insofern sie lediglich Historiker sind, haben keine Möglichkeit, sich zugunsten der einen oder ändern Interpretation zu entscheiden.“ ... >

Mögen also alle Tatsachen gegen die Produktionsfunktion sprechen, für den gläubigen Neoliberalen bedeutet dies nichts. Man erinnert sich hier an die Worte des französischen Philosophen André Glucksmann, der in seiner Untersuchung über Die Macht der Dummheit folgendes diagnostiziert:

„Der Idiot läßt sich nicht so leicht aus der Fassung bringen; er urteilt, ohne selbst beurteilt zu werden; die Erfahrung kann ihm nichts anhaben, selbst wenn sie ihn zu widerlegen scheint, denn diese Widerlegungen sind ja auch zu interpretieren. Und wer soll dies tun? Wer, wenn nicht er? Die Idiotie ist ein höchstinstanzliches Gericht; in ihr findet die verunsicherte Dummheit ihre Daseinsbedingung, nämlich die sichere Ruhe.“ ... >

Für eine manipulative Interpretation der Tatsachen gibt es bekanntlich viele „Methoden“. Wir erinnern uns etwa an den Trick der Verschiebung der Funktionen, den wir schon in einem vorigen Beitrag erörtert haben.dorthin Man musste also nur etwas herausfinden, was die Produktionsfunktion bzw. ihre Kurve „verschiebt“, so dass sie dann „im Prinzip“ gilt, auch wenn die Tatsachen genau das Gegenteil bekunden. Was kann aber die Produktionskurven verschieben? Man kam darauf, dass dies der technische Fortschritt sein sollte. Nun seien wir für einen Augenblick großzügig und nehmen wir einfach an, dem sei so. Wir würden dann aber um eine Erklärung bitten, wie diese mystische und abenteuerliche Verschiebung konkret funktioniert. Darüber wird uns aber keiner etwas mehr sagen können, als dass dem so sei. In welcher Hinsicht dies mit der Realität was zu tun haben könnte, geschweige denn wie es sich praktisch prüfen ließe, dazu ist noch keinem der neoliberalen Heroen der Vernunft etwas Gescheites eingefallen. Bernhard Gahlen, der die empirische Überprüfung von neoliberalen Wachstumstheorien zur Richtschnur seiner wissenschaftlichen Arbeiten machte, schreibt über diesen Kunstgriff mit dem technischen Fortschritt:

„Jetzt wird der technische Fortschritt auf die Art und Weise eingeführt, daß die Unstimmigkeit der Theorie mit der Realität beseitigt wird. Die Differenz zwischen den tatsächlichen Wachstumsraten der partiellen durchschnittlichen Faktorproduktivitäten und den prognostizierten Wachstumsraten dieser Variablen wird dem technischen Fortschritt zugeschrieben ... Damit gelingt die Erklärung immer.“ ... >

„Dennoch und trotz der möglichen Fehlinterpretationen, die sie hervorrufen können, sind ‚realistische’ Produktionsfunktionen von großer Wichtigkeit“, beruhigt uns Schumpeter, dem des Öfteren beachtliche Spitzfindigkeiten geglückt sind, um die neoliberale Theorie über ihre logischen Abgründe hinwegzuretten. Solche monoton fallenden Funktionen „tragen zur Beseitigung der für den Laien bezeichnenden Vorstellung bei, daß Produktionsfunktionen und Grenzproduktivitätskurven lediglich Fiktionen des Theoretikers sind“.... > Dies wäre wirklich zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Ein Staatsanwalt würde eine solche Aussage nicht anders als eine Anstiftung zum akademischen Betrug qualifizieren.

Und nun kommen wie auf unsere ursprüngliche Frage zurück: Was würde es bedeuten, wenn es die Produktionsfunktionen wirklich gäbe? Dann würde man die Arbeit mathematisch genauso behandeln können wie alle Konsumgüter, wie etwa Karotten und Äpfel. Das heißt: Wenn nicht alle Karotten oder Äpfel abgesetzt werden können, müsste dies alleine an ihrem hohen Preis liegen. Aber die Karotten und Äpfel können nichts dafür. Sie selber entscheiden nämlich nicht, wie viel sie kosten wollen. Wenn aber der Arbeiter nicht genug Arbeit finden kann, was nach der Theorie nur daran liegen muss, dass er einen zu hohen Lohn verlangt, ist er selbst dafür verantwortlich. Wer sonst? Als solcher handelt er aber nicht nur gegen eigene Interessen. Weil er damit angeblich das Wachstum bremst, schadet er der ganzen Wirtschaft. Der Arbeiter ist also der eigentliche Schurke in dem absurden Theaterstück genannt neoliberale Theorie. Er ist das Böse. Nur seines Egoismus wegen gibt es also in der angeblich besten aller Welten, also in der völlig freien privaten Marktwirtschaft, Probleme. Ist es also übertrieben, wenn ich den Neoliberalen böse Absichten unterstelle? Oder ist das, was ich schon geäußert habe, eher verniedlicht und untertrieben?

Wir fassen das bereits Gesagte kurz zusammen. Die ganze neoliberale Theorie des Gleichgewichts und des Wachstums, die auf der monoton fallenden Produktion fußt und bei ihr beginnt, ist von Anfang bis Ende nur ein unsinniges Geschwätz, das alle Merkmale eines psychisch zutiefst gestörten Bezugs zur Realität aufweist. Die neoliberale Theorie der Produktion ist keine Theorie, sondern eine Halluzination. Die Kombinierung von Produktionsgütern, so wie sie sich der neoliberale Theoretiker vorstellt, die unter anderem die totale Teilbarkeit und die uneingeschränkte Substitution der Produktionsgüter voraussetzt, wie wir es schon an einer anderen Stelle erörtert haben,dorthin gibt es in Wirklichkeit nicht. Das alles hat gar nichts damit zu tun, was in den produzierenden Unternehmen wirklich geschieht. Kein Mensch will natürlich abstreiten, dass die Unternehmen ihre Kosten minimieren wollen, aber dies geschieht nicht durch die Kombinierung und Substitution der einzelnen Produktionsfaktoren gemäß ihrer Grenzproduktivität, sondern durch die Wahl der billigsten Produktionsmethoden (Techniken). Dass die Produktionsmethode (Technologie) bestimmte Mengen von bestimmten Produktionsgütern beinhaltet, ist für ein produzierendes Unternehmen ohne Belang. Ein Nutzen- bzw Profitmaximierer im Betrieb kann mit den (Grenz-)Produktivitäten einzelner Güter so wenig anfangen wie ein Chemiker mit den Anziehungskräften zwischen den Atomen oder wie ein Genforscher mit den chemischen Eigenschaften der Elemente, aus denen sich ein Genom zusammensetzt. Die kalkulatorische Einheit im Betrieb ist nicht der Produktionsfaktor, sondern die Produktionstechnik. Würde der Neoliberale einem Ingenieur oder Technologen erzählen, wie er sich vorstellt, was dieser in seinem Konstruktionsbüro und Betrieb tut, würde sich dieser beleidigt fühlen, weil er völlig berechtigt den Eindruck bekäme, man wolle ihn zum Narren halten.

Die Realitätsblindheit und das Versagen der Mathematik in der Wirtschaftswissenschaft: Ein Nachruf

Als Marx den „bürgerlichen Ökonomen“ seiner Zeit schwere Vorwürfe machte, sie würden sich nicht mehr für die „inneren Zusammenhänge der Produktionsverhältnisse“ interessieren, sondern ihnen ginge es nur darum, die „banalen und selbstgefälligen Vorstellungen der bürgerlichen Produktionsvertreter zu systematisieren, zu pedantisieren und als ewige Wahrheiten zu proklamieren“, konnte er nicht einmal ahnen, wie weit dies noch gehen würde. Was damals etwa Say vorexerzierte, war eigentlich ziemlich harmlos und klang sogar noch gewissermaßen plausibel, im Vergleich zu dem, was noch kommen sollte. So geriet die „bürgerliche Ökonomie“ bald nach Marx Tod wirklich in einen Zustand, der sich sehr treffend mit dem bekannten Witz über den Betrunkenen unter der Laterne veranschaulichen lässt:

Einem Passanten, der bei Nacht seinen Spaziergang im Park macht, fällt auf, dass ein offensichtlich betrunkener Mensch schon eine Weile um eine Laterne herumstreicht und etwas sucht. Haben Sie etwas verloren - fragt er ihn. Ja, meinen Schlüssel - erwidert er. Sind Sie sich sicher, dass Sie ihn hier verloren haben? - fragt der Passant höflich weiter. Nein, irgendwo dort auf der Bank - kommt die mürrische Antwort. Aber warum suchen Sie ihn dann hier? - wundert sich jetzt der Passant. Weil es hier viel heller ist - so die knappe Erklärung des Betrunkenen.

In dem Trend der Vereinfachung und der Verflachung der „bürgerlichen Ökonomie“ sah Marx einen ideologischen Versuch, die Exploitation der Arbeit durch das Kapital zu verschleiern. Hier entsinnt man sich, dass später George Orwell in seinem berühmten Roman „1984“ die Volksverdummung dieser Art zum wichtigsten Thema machte. Die künstlich modifizierte und vor allem stark vereinfachte Sprache, der „Neusprech“, sollte zur Sicherung der totalitären Herrschaft gehören. In der Realität hat aber kein autoritäres politisches System so etwas versucht. Wozu auch. Die meisten Menschen interessieren sich nämlich wenig oder gar nicht dafür, was die Politiker und Ideologen meinen und erzählen, so dass diese keine künstliche Sprache zur Volksverdummung nötig haben. Etwas anderes läst sich aber für die Gebildeten sagen. Man kann sich nämlich gut vorstellen, dass die Mathematisierung der „bürgerlichen Ökonomie“ vornehmlich mit einer gezielten Verdummung zu tun hat. Keiner kann doch bestreiten, dass schon mehrere Jahrzehnte die neoliberale Theorie keine soziale Gruppe - die Geld- und Kapitalbesitzer als ihre unmittelbaren Nutznießer lassen wir beiseite - so unterwandern und verblenden konnte wie die der Bildungsbürger. Es kann zwar auch damit zu tun haben, dass das neoliberale Modell der Wirtschaft nach dem Zusammenbruch des Kommunismus als das „einzige Spielzeug in der Stadt“ übrig geblieben ist, aber ein psychologischer Faktor spielt bestimmt auch eine wichtige Rolle. Anders gesagt, die Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler sind anders sozialisiert als etwa die Naturwissenschaftler.

Wenn sich jemand für ein Ökonomiestudium entschieden hat, geht er davon aus, dass er sich für eine der Sozialwissenschaften entschieden hat, also eine solche, die im Allgemeinen nicht viel mit der Mathematik zu tun haben sollte. Nun wird sich der Student der Ökonomie mit der Mathematik viel mehr „quälen“ müssen als ihm je lieb wäre, und da findet schleichend eine nicht wahrgenommene Verschiebung seiner Perspektive statt. Mathematisch überfordert übersieht er, dass er sich mit (fast) keinen ökonomischen Realitäten beschäftigt. Was er tut, ist eine mathematische Übung oder Gymnastik, die sich von den reinen mathematischen Übungen nur darin unterscheidet, dass man den Variablen nicht typisch mathematischen Namen (x, y, z, ...), sondern Namen von ökonomischen Begriffen zuweist. Wenn dann der Student nach langen Strapazen den Gipfel seiner Forschungsreise erklommen hat, also das allgemeine Gleichgewicht, kann er nicht mehr wahrnehmen, dass er nur gelernt hat, wie sich mathematische Gleichungssysteme lösen lassen. Darüber hinaus hat er sich auch abgewöhnt bzw. nie gelernt, wie man die Theorien mit den empirischen Tatsachen verbindet und testet. Also gerade das, was bei den mathematischen Naturwissenschaften am wichtigsten ist.

Damit soll nicht gesagt werden, dass Naturwissenschaftler völlig andere Menschen sind, und schon gar nicht, dass sie weniger von dem Zauber der Mathematik überwältigt sind als ihre Kollegen in den Wirtschaftswissenschaften. Es kommt nicht von ganz ungefähr, dass man immer wieder über die geistige Abwesenheit der Naturwissenschaftler spottet: über die „verrückten“ und „zerstreuten“ Wissenschaftler. Genauso wenig lässt sich sagen, die Naturwissenschaftler ließen sich durch bessere Argumente viel einfacher überzeugen. Die historische Erfahrung zeigt, dass es auch für sie immer schmerzhaft war, sich von alten Überzeugungen und Lieblingsstücken zu verabschieden. Bei den stärkeren theoretischen Umbrüchen bzw. Paradigmenwechseln waren es in der Regel auch nicht viele, die den Anschluss finden konnten. Max Planck, der vor einem Jahrhundert die neue Quantentheorie vor den Vertreter der klassischen Physik verteidigte, musste bestimmt wissen warum er sagte: „Die Wahrheit triumphiert nie, ihre Gegner sterben nur aus.“ Es ist aber trotzdem eine unbestrittene Tatsache, dass in den vorigen Jahrhunderten bei den Naturwissenschaften ein Fortschritt möglich war, und er setzt sich immer noch rasant fort. Das kann nur damit zu tun haben, dass in diesen Wissenschaften doch eine völlig andere geistige Haltung den empirischen Tatsachen gegenüber vorherrscht. Die Naturwissenschaften beugen sich den Tatsachen, nicht den Autoritäten. So war es auch damals, als man sich in der Physik von dem partikel-mechanischen Modell verabschieden musste. Als sich nicht mehr leugnen ließ, dass man mit ihm nicht voran kommt, unabhängig davon, dass auch die größten Denker wie etwa Kant bereits dem absoluten Raum und Zeit ihren Segen erteilt hatten, hat man sich trotzdem entschieden, völlig neu anzufangen. Die Frage ist nur, warum sich die Naturwissenschaften den Tatsachen beugen?

Die Antwort lautet: Es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Die Richtigkeit jeder naturwissenschaftlichen Theorie muss in den Produkten bewiesen werden. Lehnt ein Kunde eine Brücke, ein Haus, einen Kühlschrank, einen Wagen, einen Fernseher als nicht funktionstüchtig ab, hat er dem erfolglosen Wissenschaftler bzw. seinen Theorien eine Abfuhr erteilt. Die Sozialwissenschaften und vor allem die Wirtschaftswissenschaften haben dagegen nie etwas zu befürchten. Sie sind direkt oder indirekt Teil des politischen und ökonomischen Machtssystems, das sie schützt. Sie genießen folglich alle Freiheiten der Welt, sich beliebig lange zu irren ohne sich für etwas, was sie anrichten rechtfertigen zu müssen. Das ist die ewige Narrenfreiheit der Macht, die zu den wichtigsten Merkmalen jeder Klassenherrschaft gehört. Im Kapitalismus hat sich daran nichts geändert.

Auf den Punkt gebracht, die Naturwissenschaften und die Sozialwissenschaften sind aus dem gleichen Holz geschnitten. Nur die glücklichen und unglücklichen Umstände und Zufälle entscheiden, auf welcher Seite sich jemand persönlich befinden wird. Und wenn sich jemand in der Sozial- oder Wirtschaftswissenschaft wieder findet, muss er die ihm zugewiesene soziale Rolle spielen. Keiner hat es so treffend ausgedrückt wie Marx: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern, umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ Aber auch wenn dem so ist, gibt uns dies noch keinen Anlass, über die Missstände und Absurditäten in einem Forschungsbereich nicht offen zu reden und diejenigen, die dafür mitverantwortlich sind, mit irgendwelcher Rücksicht zu behandeln bzw. zu schonen. Wir müssen in aller Deutlichkeit sagen, dass sowohl die Überzeugungstäter als auch die Mitläufer des Neoliberalismus hoch ausgebildete Taugenichtse und Versager sind. Ihre sogenannte Wissenschaft ist gar keine Wissenschaft, sondern ein ideologisches Treiben, mit dem einzigen Zweck, die Propaganda der Machtelite bzw. des Kapitals mit Stichworten, Phrasen und Scheinargumenten zu versorgen. Die Neoliberalen sind also nichts als Pfaffen und Schreibtischtäter des Kapitals - gefühlskalte intellektuelle Menschenfresser. Der wichtigste deutsche Ordoliberale Walter Eucken musste doch wissen, warum er damals schrieb:

„Machtgruppen gewinnen dadurch wesentlich an Gewicht und Einfluß, daß sich ihnen Intellektuelle zur Verfügung stellen und Ideologien ausarbeiten. Die gesamte Geistesgeschichte der Menschheit ist von Versuchen erfüllt, Machtansprüche ideologisch zu sichern oder im Angriff zu unterstützen.“ ... >

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