Die ersten Gedanken über das Nachfrageproblem und die ersten Theorien
  J.-C.-L. Sismondi: Das Nachfrageproblem als (Phasen-)Verschiebung des Einkommens
       
 
Der Verbrauch einer reichen Pächterfamilie zusammen mit dem Verbrauch von fünfzig Familien ärmster Tagelöhner wiegt für die Nation nicht den Verbrauch der früheren fünfzig Bauernfamilien auf, von der zwar keine reich war, aber doch in bescheidenem Wohlstand lebte. Ebenso verhält es sich in den Städten; denn der Verbrauch eines Industriemillionärs, der tausend Arbeiter für sich arbeiten läßt, die gerade das Existenzminimum verdienen, bringt der Nation nicht so viel wie der Verbrauch von hundert weitaus weniger reichen Fabrikanten, von denen jeder zehn viel weniger arme Arbeiter beschäftigt.
 
    J. C. L. Simonde de Sismondi, Neue Grundsätze der politischen Ökonomie    

Es gibt laut Sismondi zwei allgemein und immer wirkende Gründe, warum der Reiche weniger verbraucht, als es die ihm zur Verfügung stehenden Einkünfte erlauben würden und als es makroökonomisch notwendig wäre. Den ersten Grund haben wir schon bei Mandeville und Montesquieu kennen gelernt. Das Einkommen des Reichen sei angeblich so groß, dass er gar nicht im Stande wäre, es vollständig zu verbrauchen. Man spricht in diesem Zusammenhang von Unterkonsumption. Sie äußert sich als Geldhortung. Ein anderer Grund, der den Reichen objektiv hindert, nicht genug von seinem Einkommen zu konsumieren, ist sein Sparen zum Zweck, in die Produktion zu investieren. Auch dies sei laut Sismondi ein großes Problem der kapitalistischen Wirtschaftsordnung.

Der Kapitalist sei geradezu besessen vom Geldverdienen, so dass das ganze System durch überzogene Investitionen, man sagt dazu auch Überakkumulation, ständig gefährdet ist. Eine Zeit lang geht es gut, wenn Investitionen getätigt werden, weil der Bau von Maschinen und Anlagen viel Arbeit und Beschäftigung bringt. Das ist vor allem nach Naturkatastrophen und Kriegen der Fall, wenn die Produktionskapazitäten vernichtet worden sind und alles  neu aufgebaut werden muss. Das sind bekanntlich immer die besten Zeiten für die arbeitende Bevölkerung, so dass der Zyniker nicht zu Unrecht bemerkt, dass der Kapitalismus ständig Kriege benötige, um gut zu funktionieren. Aber irgendwann sind auch die umfangreichsten Produktionsstätten fertiggestellt und beginnen zu produzieren. Wenn dann aber die sparsamen Kapitalisten ihr Verhalten nicht völlig ändern, bleiben die zahlungsfähigen Abnehmer weg und die Wirtschaft bricht zusammen. Sismondi im Wortlaut:

„Wenn plötzlich alle Angehörigen der reichen Klasse den Entschluß fassen, wie die ärmsten von ihrer eigenen Arbeit zu leben und ihr gesamtes Einkommen dem Kapital zuzuschlagen, dann wären die Arbeiter, die auf den Austausch dieses Einkommens angewiesen sind, um leben zu können, der Verzweiflung und dem Hungertode preisgegeben. Alle diejenigen, die zu einer unbegrenzten Produktion ermutigen, ... stoßen ein Land ins Verderben, anstatt, wie sie glauben, ihm den Weg zum Reichtum zu weisen.
Es ist ein großer Irrtum, in den die meisten modernen Ökonomen verfielen, zu glauben, daß der Verbrauch eine Macht ohne Grenzen sei, die jederzeit eine unbeschränkte Produktion verschlingen kann. Diese Ökonomen hören nicht auf, die Völker zu ermutigen, mehr zu erzeugen, neue Maschinen zu erfinden und die Arbeiten zu vervollkommnen, damit die Arbeitsmenge des laufenden Jahres stets diejenige des vergangenen Jahres übersteigt. Sie betrüben sich dann über die zunehmende Zahl unproduktiver Arbeiter, sie setzen die Müßigen der allgemeinen Entrüstung aus; und schließlich wünschen sie, daß ... jeder zum Arbeiter wird und arbeiten muß, um überhaupt leben zu können.“ ... >

Wenn die Reichen nicht willig sind, genug zu konsumieren, liegt der Gedanke nahe, man sollte von ihrem Einkommen etwas nehmen und denen geben, die konsumieren können und wollen. Wer wäre aber ein besserer Konsument als die Reichen? Möglichkeiten gibt es genug, wie wir noch bei den anderen Nachfragetheoretikern sehen werden. Sismondi hat sich für die lohnabhängigen Arbeiter entschieden. Man kann in der Tat nicht im Geringsten daran zweifeln, dass diejenigen, die nur mit Mühe Leib und Seele zusammenhalten, ganz bestimmt ihr Einkommen vollständig ausgeben würden. Nachdem man sich für Lohnabhängige als „bessere Verbraucher“ entschieden hat, bleibt noch die Frage zu beantworten, wie  man den Kapitalisten einen Teil des Einkommens wegnimmt. Man sollte einfach die Löhne erhöhen, so Sismondi. Dadurch werden die bei den Reichen und den Kapitalisten stillgelegten Einkünfte dem Kreislauf der Wirtschaft wieder zurückgegeben und der Reproduktionsprozess könnte störungsfrei weiter laufen.

Höhere Löhne als Lösung des Nachfrageproblems

Man kann sich gut vorstellen, dass Sismondi sofort die Gewerkschaften überzeugt hat. Seine Empfehlung, die Nachfrage durch höhere Löhne zu steigern, ist seitdem zum wichtigsten Argument bei den Lohnverhandlungen zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgebern geworden. So wird es bis heute von der Seite der Gewerkschaften immer wieder behauptet, dass ausreichende Löhne der beste Schutz vor Konjunktureinbrüchen und Depressionen seien. Die andere Seite, die Arbeitgeber, wollen natürlich von einem solchen „populistischen Unsinn“ nichts wissen. Es heißt für sie immer: Die Produktionskosten bestimmen das Angebot, und dieses schafft sich seine Nachfrage automatisch. Deshalb sollte gerade die Lohnsenkung die Zauberformel für die Beseitigung von jedem Problem sein, das es in der Marktwirtschaft geben kann. Anders gesagt, wären die Löhne manchmal bzw. immer wieder nicht zu hoch gewesen, hätte es in einer freien Wirtschaft nie zu irgendwelchen Problemen kommen können. Dass die Auffassung angeblich richtig ist, hat sich die neoliberale Theorie vorgenommen nachzuweisen, die man deshalb auch als Angebotstheorie bezeichnet. Hier lässt sich in aller Deutlichkeit erkennen, wie die Nachfragetheorie sowohl im ideologischen als auch im analytischen Sinne ein völlig anderer gedanklicher Ansatz (Paradigma) ist, als die Angebotstheorie. Damit soll aber nicht gesagt werden, dass jeder Nachfragetheoretiker so viel von der Löhnerhöhung hält wie Sismondi, aber zumindest eine Lohnsenkung würde keiner von ihnen befürworten.

Auch die Frühliberalen wollten von einer Lohnsenkung nie etwas wissen. Genauer gesagt, sie haben sich von der Marktwirtschaft eine ständige Verbesserung der ökonomischen Lage der Arbeiter erhofft und dies zum Ziel gesetzt. In dieser Hinsicht ist die Nachfragetheorie der wahre Nachfolger der frühliberalen Theorie. Die Angebotstheorie, die sich über das Saysche „Gesetz“ zum Neoliberalismus hin entwickelte, ist dagegen ihr kompletter Verrat, was nicht oft genug wiederholt werden kann. Stimmt es aber wirklich, dass sich die Probleme der Marktwirtschaft immer so einfach lösen ließen, indem man nur höhere Löhne zu zahlen bräuchte? Vor dem Hintergrund des Sayschen „Gesetzes“ denkt man über die Lohnerhöhung wie folgt nach:

Was man dem Kapitalisten von seinem  Einkommen (Profit) wegnimmt und dem Lohnempfänger gibt, ist quantitativ betrachtet immer noch dieselbe Größe. Die Umverteilung zugunsten der Löhne kann also an der gesamten Nachfrage der Wirtschaft quantitativ gar nichts ändern. Sie würde nur gewisse strukturelle Änderungen hervorrufen: Die Nachfrage nach den einfachen Konsumgütern der Arbeiterklasse wird sich erhöhen und die Nachfrage nach den Luxusgütern der Kapitalisten vermindern. Der Autobauer Volkswagen würde z.B. mehr und Porsche weniger produzieren. Für die Belegschaft in Wolfsburg wird dies gut, für die in Zuffenhausen schlecht sein, für Deutschland als Ganzes wird sich aber nichts ändern.

So denkt ein Anhänger des Sayschen Gesetzes und so dachte auch Marx. Er hielt von höheren Löhnen nichts. Ihn jetzt zu erwähnen ist deshalb angebracht, weil auch er ein überzeugter Gegner des Sayschen Gesetzes war. Noch etwas ließ Marx daran zweifeln, dass die Lohnerhöhung eine effektive Maßnahme gegen konjunkturelle Einbrüche und ökonomische Krisen wäre. Er hat nämlich die Lohnentwicklung innerhalb des ökonomischen Zyklus beobachtet und eine Regelmäßigkeit festgestellt. Wenn man sagt, so Marx, ...

„ ... die Arbeiterklasse erhalte einen zu geringen Teil ihres eignen Produkts, und dem übelstand werde mithin abgeholfen, sobald sie größeren Anteil davon empfängt, so ist nur zu bemerken, daß die Krisen jedes Mal gerade vorbereitet werden durch eine Periode, worin der Arbeitslohn allgemein steigt und die Arbeiterklasse größeren Anteil an dem für Konsumtion bestimmten Teil des jährlichen Produkts erhält. Jene Periode müßte - von dem Gesichtspunkt dieser Ritter vom gesunden und einfachen Menschenverstand - die Krise entfernen.“ ... >

Marx schätzte zwar Sismondi sehr, aus den Gründen, die wir jetzt noch kurz ansprechen werden, aber nicht als einen Nachfragetheoretiker. Seltsamerweise kann man aus dem, was Marx über ihn schreibt, nicht einmal erahnen, dass er in ihm überhaupt einen Nachfragetheoretiker gesehen hat. Der Grund ist einfach. Marx hielt nie etwas von nachfragetheoretischen Argumenten. Und um ehrlich zu sein, sie alle stehen auf schwachen Füßen. Die Annahme, die Reichen würden bei sich zu Hause viel Geld bunkern, ist empirisch alles andere als gut begründet. Dieses „vergrabene“ Geld hat man noch nie nachweisen können. Hier ist die monetäre Nachfragetheorie sehr wohl angreifbar. Das ist ihre Achillesferse, und zwar des Beines auf dem sie steht. Weil aber für Sismondi die Geldhortung doch nicht das Hauptproblem des Nachfragemangels ist, sondern die zeitliche (Phasen-)Verschiebung des Einkommens - wie noch zu zeigen sein wird -, werden wir die Problematik der Geldhortung in anderen Beiträgen genauer untersuchen.

Es ist in der Tat übertrieben zu behaupten, dass große Einkünfte bei Reichen bzw. niedrige Löhne bei den Armen für die Gleichgewichtsprobleme (Konjunkturzyklen und Depressionen) und den allgemeinen Nachfragemangel verantwortlich sind. Trotzdem: Was die höheren Löhne betrifft, so klar und einfach, wie es sich die Angebotstheoretiker - und Marx - vorgestellt haben, ist es auch nicht. Wenn höhere Löhne verhindern, dass die (nominalen) Preise sinken, und vor allem dann, wenn sie die Preise steigen lassen - Malthus würde dies als „Steigerung des Tauschwertes“ bezeichnen - schafft die Lohnerhöhung doch neue Nachfrage. Das werde ich noch genau nachweisen, im Rahmen meiner realen Nachfragetheorie. Es gibt also rein ökonomische Gründe, warum die Löhne, wie man es heute zu sagen pflegt, proportional zum Produktivitätswachstum steigen sollen bzw. warum die Lohnquote unverändert - und zwar auf einem hohen Niveau - bleiben soll.

Aber höhere Löhne muss man nicht nur deshalb befürworten, weil sie mehr Nachfrage schaffen. Manche Gründe dafür, warum die arbeitenden Menschen anständige Löhne bekommen sollen, sind auch Sismondi eingefallen, so dass er mehr als ein Ökonom war. Er hat sich vor allem als Kämpfer für mehr Gleichheit einen guten Ruf erworben, und insofern könnte man ihn als Vorkämpfer für eine gerechte Marktwirtschaft betrachten - als einen, der die humanistischen Ansätze der frühliberalen Theorie weiter entwickelt hat.

Die soziale Politik und die staatliche Lenkung der Wirtschaft

Durch seine Lohnsteigerungstheorie wurde Sismondi zum Vertreter der Interessen der gerade neu entstandenen Klasse der Lohnabhängigen: des modernen Proletariats. Sismondi kritisierte heftig die Lage dieser juristisch freien, aber ökonomisch total abhängigen Menschen. Er machte auch Vorschläge, wie die Marktwirtschaft gerechter und humaner gestaltet werden sollte, so dass er zu einem der wichtigsten Vorläufer der späteren Sozialpolitik wurde. Einige seiner Empfehlungen - beispielsweise der Vorschlag, dass die Arbeitgeber ihren Arbeitern Schutz gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Not im Alter gewähren sollten - gehören bestimmt zu den originellen Beiträgen zur Sozialpolitik.

Außerdem hat Sismondi richtig beobachtet, dass die freie Wirtschaft ihre Versprechungen nie erfüllen wird. Anstatt eine stabile Ordnung zu sein, neigte sie schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts dazu, periodisch zusammenzubrechen. Die neuen Privilegierten, also die Kapitalisten und die sich bei ihnen prostituierenden Bildungseliten, machten für das neue Elend und die Armut die Verderbtheit der menschlichen Natur im Allgemeinen und die Faulheit und Dummheit der Arbeitenden im Besonderen verantwortlich. Das war schon immer das Weltbild der Konservativen. Deshalb wollten sie nie etwas ändern. Sismondi schon. Er lehnte ein neues ungerechtes und unmenschliches System ab. Einer, der behauptet, dass der eigentliche Gegenstand der Wirtschaftswissenschaft nicht der Reichtum, sondern die Menschen seien, konnte sicher sein, dass er bei jedem, der sich uneingeschränkt für das Prinzip des Laissez-faire einsetzte, auf ablehnende Kritik stoßen würde und dass ihm die andere Seite viel Beifall klatschen würde. So wuchs der Ruhm Sismondis als dem Kritiker der ökonomischen laissez-faire-Ordnung ständig. So konnte auch Marx bei ihm einiges vorfinden, was er später in seine eigene ökonomische Theorie einbaute. Unter anderem konnte er bei ihm fast die fertige Mehrwertstheorie vorfinden. Es geht dabei um die folgende Überlegung:

„Der Gewinn eines Unternehmers stellt nur einen Raub an dem von ihm beschäftigten Arbeiter dar. Denn der Unternehmer verdient nicht etwa, weil sein Betrieb viel mehr produziert als er ihn kostet, sondern weil er nicht alles das bezahlt, was er ihn wirklich kostet, da er dem Arbeiter nicht die hinlängliche Belohnung für seine Arbeit gewährt.“ ... >

Hiermit hat Sismondi auf eine sehr deutliche Weise die Funktionsweise der Ausbeutung der Arbeiter durch die Kapitalbesitzer beschrieben. Ihm wurde nämlich klar, dass der angeblich freiwillige Vertrag zwischen dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine pure Heuchelei ist, die nur legalisierte erpresserische Verhältnisse verschleiert:

„Da die Tagelöhner gezwungen sind, von jenen, die sie beschäftigen, ihren Lebensunterhalt zu erkämpfen, sind sie kräftemäßig von vornherein die Unterlegenen. Es stimmt zwar, daß die Fabrikanten und die Arbeiter sich gegenseitig benötigen; aber diese Notwendigkeit zwingt den Arbeiter jeden Tag von neuem, während der Fabrikant durchaus zu warten in der Lage ist. Der erstere muß arbeiten, um überhaupt leben zu können; letzterer kann warten und immer noch leben, selbst ohne arbeiten zu lassen.
Wer wird nicht schmerzlich berührt, wenn er sieht, wie sich die Arbeiter mit allen Entbehrungen abfinden, in der Hoffnung, endlich den Widerstand des Produzenten zu überwinden, während der Produzent gleichzeitig damit kalkuliert, daß jeder neue Tag das kleine Kapital einer unglücklichen Familie zerstört? Wenn einer solchen Familie bereits Hunger und Kälte drohen, der Fabrikant verspürt nach Jahren der Produktionsunterbrechung noch nicht einmal den geringsten Mangel. Während diese Unglücklichen um einen Lohn kämpfen, von dem ihr Leben und das Leben ihrer Kinder abhängt, und in ihrer Verzweiflung eine Ordnung respektieren, die sie vernichtet, werden sie von Soldaten und Häschern bewacht. Diese warten ungeduldig auf den geringsten Zwischenfall, um die Arbeiter den Tribunalen auszuliefern, von denen sie schwer bestraft werden. Wer weiß, ob sich nicht sogar einige Verräter unter die Arbeiter mischen, um sie zum Verbrechen anzustiften, dessen Bestrafung man mit Ungeduld herbeisehnt?“ ... >

Trotzdem war Sismondi nicht für die Aufhebung des Privatkapitals. Seine Vorstellung war eine private Marktwirtschaft mit kleinen Unternehmen. Dies war im Grunde nichts anderes als die frühliberale atomistische Wirtschaftsordnung, aber mit viel mehr Staat.

„Die Erfahrung lehrte uns auch, daß das Eingreifen des Staates, auf das wir uns berufen, unbedingt nötig ist; es soll verhindern, daß Menschen der Reichtumszunahme geopfert werden, aus welcher ihnen nicht der geringste Vorteil erwächst. Allein die Regierung kann sich über die materiellen Berechnungen des einzelnen erheben und diesen die Absicht zur Erhöhung der Genüsse und des Wohlergehens aller - das Ziel der Nationen - gegenüberstellen.
Wir betrachten den Staat als den Beschützer des Schwachen gegen den Starken, als den Verteidiger der Menschen, die sich in keiner Weise selbst verteidigen können, und als den Vertreter des kontinuierlichen, aber gemäßigten Interesses aller gegen das vorübergehende, aber heftige Interesse des einzelnen.“ ... >

Und als sozusagen die Schlussfolgerung:

„Der Staat ist geschaffen worden, um jeden einzelnen mit den Kräften aller gegen die Angriffe des anderen zu schützen. Er stellt das öffentliche Interesse allen Privatinteressen entgegen.“ ... >

Eine solche Vorstellung, dass der Kapitalismus reformierbar sei, dass er mit bestimmten Maßnahmen immer menschlicher und sozial gerechter sein könnte, konnte Marx gar nicht gefallen. Und schon gar nicht war für den exzessiven Individualisten und Freiheitskämpfer Marx denkbar, dass gerade der Staat der Beschützer der unteren Klassen sein könnte. Heute wissen wir, dass die individualistisch besessenen Freiheitsnarren und Staatsfeinde in der Praxis zuerst die Freiheit und dann die Gesellschaft und die Natur zerstören. Eine nachhaltig ökonomisch effiziente und gewissermaßen humane Wirtschaft und Gesellschaft lässt sich nur mit der Hilfe des Staates bzw. durch Institutionen schaffen. Nur der Staat kann der erpresserischen und ausbeuterischen Macht des Kapitals Einhalt gebieten. Das war im Grunde die Vision der Marktwirtschaft von Sismondi. In Anspielung auf Keynes könnte man sagen: „Wäre doch nur Sismondi statt Marx der Stammvater der Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts geworden, wie viel weiser und wohlhabender wäre die Welt dann heute!“

Die Geschichte hat sich leider anders entschieden. Sie ließ Marx gewinnen, der eigentlich nie ein richtiger Gegner des Sayschen „Gesetzes“ war. Ja, für ihn war Say immer nur ein „fader Say“, ein Schwachkopf und ein Hampelmann, der sich mit lächerlichen Trivialitäten wichtig machen wollte. Er hat in ihm die letzte Stufe der Vulgarisierung der liberalen Theorie nach Smith gesehen. Aber dies alles sind noch keine sachlichen Argumente gegen das „Gesetz“ selbst. Bessere sind ihm aber nicht eingefallen. So ist er im Grunde immer ein Angebotstheoretiker im strengsten Sinne des Wortes geblieben. Auch hier schwamm er in der Mitte des mainstreams der geistigen Ideen seiner Zeit, Seite an Seite mit den ökonomischen Größen wie Ricardo und Mill. Sismondi hatte sich dagegen vorgenommen, die Funktionsweise der Marktwirtschaft mit „neuen Prinzipien“ - wie es schon der Titel seines Buches verrät - zu erklären und im Rahmen dieses neuen analytischen Modells auch die Möglichkeit des Nachfragemangels endgültig zu beweisen. Damit kommen wir zu dem theoretisch interessantesten, aber zugleich auch dem umstrittensten Teil seiner Theorie.

Die dynamische Analyse von Sismondi und die angebliche Phasenverschiebung des Einkommens

Jean-Charles-Léonard Simonde (1773 - 1842), der sich selbst „de Sismondi“ nannte, war praktischer Landwirt und Amateurpolitiker, in erster Linie aber laizistischer Intellektueller und zwar Ökonom und Historiker. Als Historiker konnte ihm nicht verborgen bleiben, dass die empirische Erfahrung nicht im Geringsten bestätigt, dass der freie Markt zu einer spontanen Ordnung führt. Zugleich musste ihm klar sein, dass sich für jeden konjunkturellen Einbruch und die ökonomische Krise unzählige Faktoren finden lassen, die man als ihre Ursachen verstehen kann. Aus der Überzahl dieser Faktoren lässt sich auch schließen, dass die Marktwirtschaft eine im Grunde anarchische Wirtschaftsordnung ist, so dass sich bei ihr nichts verbessern lässt. Man sprach früher in diesem Zusammenhang von Disproportionalitäten, heute von strukturellen Verwerfungen oder Anpassungen. Damit ist gemeint, dass Güter bestimmter Art in zu großen Mengen hergestellt werden, so dass es zu Mangel an Gütern anderer Art kommt. Auch die Angebotstheoretiker waren immer bereit, von solchen Problemen der Marktwirtschaft zu sprechen. Bevor sich die mathematische Theorie des Gleichgewichts durchgesetzt hat, haben sie die Disproportionalitäten bzw. die strukturellen Anpassungen für die einzige Ursache der Störungen gehalten. Erst nachdem die mathematische Gleichgewichtstheorie herausgefunden und „nachgewiesen“ hat, dass die allerletzte Ursache eigentlich die zu hohen Löhne sein sollten, ist für die Angebotstheoretiker die Lohnsenkung das, was für den Betrunkenen die Laterne.

Es war aber schon immer alles andere als unproblematisch, die ökonomischen Krisen als Folge der Disproportionalitäten oder strukturellen Störungen zu deuten. Bei den ökonomischen Krisen sind es nämlich nie nur bestimmte Güter, die sich schwer verkaufen lassen, sondern es gibt Absatzprobleme bei Gütern jeder Art. Deshalb bekommt man immer den Eindruck, dass irgendwie überall zu viel produziert wird. Man sprach in dieser Hinsicht auch von allgemeiner Überproduktion (general glut). Während der Großen Depression stachen die Absatzprobleme in Form von schwer absetzbaren Gütern aller Art so sehr ins Auge, wie es vorher noch nie der Fall gewesen war. „Wo sind während einer Geschäftsstockung die in zu geringer Menge produzierten Waren aufzufinden? Wird das Sinken der Warenpreise, welches jede Krisis aufweist, durch das Steigen der Preise einiger anderer Waren begleitet?“ - fragte damals John A. Hobson provokativ.( Hobson, J. A.: The Problem of the Unemployed, p.VIII, IX.) In der Tat, weder damals noch heute hat jemand während der ökonomischen Krisen und Depressionen parallel zur Überproduktion irgendwelche Güter gefunden, die in zu geringen Mengen hergestellt worden wären. Diese wären dann ein glaubwürdiger Beleg für die berühmten strukturellen Disproportionalitäten der Wirtschaft - ein Beweis für die Existenz des enigmatischen „verzerrten Produktionsvektors“. Welche Güter könnten etwa heute fehlen, fragen wir, wenn man überall auf nicht ausgelastete Produktionskapazitäten stößt und Lager von Autos, Elektrogeräten, Textilien, Nahrungsmitteln und allen anderen Gütern überquellen? Es ist immer dasselbe vertraute Bild der marktwirtschaftlichen Krisen und Depressionen: Die Produktion wird gedrosselt, aber der Verbrauch geht noch stärker zurück, weshalb sich überall unverkaufte Güter jeglicher Art stapeln.

Gerade als Historiker, als ein Mensch, der sich insbesondere mit Tatsachen auskennt, konnte Sismondi als Ökonom nicht an Disproportionalitäten glauben. Die einzige Schlussfolgerung, die für ihn einen Sinn ergab, war, dass nicht zu viel produziert, sondern zu wenig nachgefragt wird. Die nicht ausreichende Nachfrage konnteseiner Meinung nach nur bedeuten, dass der Gesamtwert der Einkünfte kleiner als der Gesamtwert der angebotenen Güter ist. Dies ist eigentlich der Kern der ganzen Nachfragetheorie von Sismondi. Wie kann aber das Einkommen fehlen?

Zwei Möglichkeiten haben wir schon erwähnt. Der Reiche, der zwar verbrauchen könnte - weil er genug Einkünfte dafür hat -, tut dies nicht, weil er (1) zuviel investiert oder (2) weil er das Geld hortet. Diese zwei Ansätze der Erklärung des Einkommens- bzw. Nachfragemangels beschränken aber nur die Gültigkeit das Sayschen „Gesetzes“, ohne es wirklich zu widerlegen. Sie wurden später von Malthus und Gesell weiter entwickelt. Auch bei Sismondi sind diese beiden Erklärungen nicht unwichtig, er suchte aber nach einer überzeugenderen Erklärung des Einkommensmangels, die das Saysche „Gesetz“ grundsätzlich in Frage stellen würde. Er wollte dieses „Gesetz“ vollständig durch seine dynamische Periodenanalyse ersetzen.So viel Mut zeigte kein Nachfragetheoretiker nach ihm.

Die Erklärung des Nachfrage- bzw. Einkommensmangels im Rahmen der dynamischen Periodenanalyse von Sismondi ist auch deshalb einzigartig, weil sie nicht auf einem falschen Verhalten der Marktakteure beruht. Auch Geld steht bei ihr nicht im Vordergrund. Trotzdem behält diese Analyse den monetären Charakter, weil sie davon ausgeht, dass Verkauf und Kauf, bzw. Produktion und Verbrauch voneinander zeitlich getrennt sind. Gäbe es kein Geld, wäre dies nicht möglich. Wie soll man aber konkret verstehen, dass die Produktion und der Verbrauch getrennt sind? Es ist schwierig, weil Sismondi selbst keine klaren Gedanken über die Phasenverschiebung des Einkommens hat. Ich versuche es trotzdem.   

Jede reale Wirtschaft ist ein Prozess, der zeitlich voranschreitet. Er läuft aber nicht kontinuierlich ab, sondern verschiedene Ereignisse und Entscheidungen gruppieren sich. Deshalb lässt sich der Wirtschaftsprozess als eine Folge von Perioden begreifen. Diese Perioden sind zugleich voneinander abhängig. Jede Periode ist durch die vorhergehende Periode bedingt, und jede wiederum bedingt die ihr folgende Periode. Es liegt folglich auf der Hand, dass es dann auch Übergangsprobleme geben muss. Diese würde natürlich auch kein Angebotstheoretiker bestreiten. Er würde sich aber weigern, sie als ein Symptom für den anarchischen Charakter der Marktwirtschaft zu verstehen. Für ihn handelt es sich immer um vorübergehende strukturelle Anpassungen. Solche strukturellen Verwerfungen sind auch nach Sismondi nicht das wichtigste Problem der Marktwirtschaft. Konjunkturelle Einbrüche und ökonomische Krisen werden nach seiner Auffassung durch Übergangsprobleme einer völlig anderen Art verursacht, nämlich durch die Anpassung des Einkommens an die Produktion:

„Der Irrtum jener, die zu einer unbegrenzten Produktion ermuntern, besteht darin, daß sie das Einkommen der Vergangenheit mit dem Einkommen der Zukunft verwechseln.
Der Irrtum, in den sie verfallen sind, liegt ganz und gar in der falschen Annahme begründet, daß nämlich ... die jährliche Produktion das gleiche ist wie das Einkommen.“ ... >

In Wahrheit ist es so, behauptet Sismondi, dass das Einkommen sozusagen um eine Periode in die Zukunft verschoben ist.

„Stets muß das Einkommen des vergangenen Jahres die Produktion des laufenden Jahres bezahlen.“ ... >

Wie kann man sich überhaupt vorstellen, dass die Produktionsgüter einer Periode aus den Einkünften der vorigen Periode gekauft werden? Eine genauere Erklärung hat uns Sismondi nicht hinterlassen. Es bleibt uns also nichts andres übrig, als dass wir uns selber etwas einfallen lassen. Versuchen wir uns die zeitliche Verschiebung des Einkommens nach vorne etwa auf folgende Weise vorstellen:

Die Lohnempfänger werden am Ende einer Periode ausbezahlt, so dass sie mit ihren Löhnen das kaufen, was in der nächsten Periode hergestellt wird.

Einen solchen Fall könnte man sich in einer hypothetischen Stunde Null einer Wirtschaft vorstellen, während der allerersten Periode ihres Entstehens. Aber eine reale Wirtschaft entsteht nicht auf eine solche Weise. Außerdem gibt es auch Banken- und Kreditsysteme, die es ermöglichen, das Einkommen zu verbrauchen, das noch nicht ausbezahlt oder gar noch nicht erarbeitet ist. Man kann sich aber trotzdem gut vorstellen, dass doch nicht alle, die an der Produktion während einer Periode teilnehmen, ihre Einkünfte in derselben Periode auch realisieren können oder wollen. Natürlich, dies betrifft vor allem die Reichen. Der Wert der gesamten Produktion, welche das Angebot bildet, würde dann doch größer als der Wert der verfügbaren Einkünfte sein. Die effektive Nachfrage würde dann nicht dem effektiven Angebot entsprechen, um mit Keynes zu sprechen. Will man die auf diese Weise entstandene Nachfragelücke zur wirklichen Ursache der konjunkturellen Schwächen oder gar der ökonomischen Krisen erklären, bekommt man ein gewichtiges logisches Problem, das schon dem Nachfragetheoretiker Malthus, Sismondis Kollegen, ins Auge fiel:

„Sismondi bemerkt folgendes über die Grenzen der Kapitalsanhäufung: „Nach allem diesen muß man sagen, daß es niemals möglich ist, die Gesamtheit der Erzeugung des Jahres, gegen die Gesamtheit des vorhergehenden Jahres auszutauschen.“ Wenn dies wirklich zuträfe, so wäre es schwer zu erklären, wie der Wert des nationalen Einkommens überhaupt je steigen könnte.“ ... >

Ganz hilflos ist man auch diesem Einwand nicht ausgeliefert. Man könnte nämlich sagen, dass das Gleichgewicht im Prinzip doch möglich ist, weil die Nachfragelücke auch klein sein könnte, so dass eine richtig gefährliche Lage erst dann entstünde, wenn diese Lücke zu groß wäre. Wollte man sich dieser Krücke bedienen, dann müsste man aber erklären können, wann die Nachfragelücke klein und wann groß ist. Aber die dynamische Periodenanalyse von Sismondi bietet keine Methode an, dies herauszufinden. Sie war folglich schutzlos den Anhängern des Sayschen „Gesetzes“ ausgeliefert. Sie brauchten sie nicht einmal ganz ernst zu nehmen.

Vor allem ist die dynamische Analyse unglaubwürdig bei ihrer Erklärung der Probleme des technischen Fortschritts. Sismondi nahm nämlich als selbstverständlich an, dass die Kostensenkungen bei den produktionstechnischen Nachbesserungen das Einkommen verringern und damit zum Nachfrageausfall führen. Hier konnte man ihm besonders leicht widersprechen. Wenn ein Unternehmen Produktionskosten eingespart hat, merkte neben anderen auch Malthus,

„... wird ein Teil des Einkommens zum Kauf neuer Waren verfügbar, und die darauf beruhende Nachfrage wäre ohne Zweifel dadurch von größtem Wert, daß sie zur Verwertung des untätigen Kapitals in anderen Richtungen ermutigt.“ ... >

Da hilft es wenig, wenn man sagen würde, die produktionstechnischen Kostenersparnisse würden zur Senkung der Preise ohne zeitliche Verzögerung führen. Das stimmt ganz bestimmt nicht - die kostenverursachte Senkung der Preise geschieht allmählich -, aber gerade wenn dem so wäre, würde dies gar nicht ins Argumentationsmuster der dynamischen Analyse von Sismondi passen. Gerade bei der sofortigen Preissenkung gäbe es nämlich die von ihm gewünschte Phasenverschiebung des Einkommens nicht. Man kann nämlich die Kostenersparnisse an den Kunden erst beim Verkauf der Güter weitergeben; also genau in dem Augenblick, in dem das Einkommen gesunken ist, hat sich auch das Angebot um genau den gleichen Wert verringert. Beides, die effektive Nachfrage und das effektive Angebot sind gleichzeitig und um denselben Wert gesunken.

Sismondi ist sogar überzeugt, dass jede Preissenkung zur Verminderung des Einkommens und damit auch der Nachfrage in den folgenden Perioden führt.

„Der Überflüß an Produkten führt zunächst, wegen der gesenkten Preise, einen höheren Verbrauch herbei. ... Die Reichen glauben, als Verbraucher verdient zu haben, indem sie Waren billiger erwarben, die sie ursprünglich gar nicht hätten kaufen wollen. Unter den Reichen allerdings gibt es auch Produzenten, und als Produzenten verlieren sie dann mehr als sie gewinnen. ... Da der Verlust also das Einkommen vermindert, sinkt infolgedessen der Verbrauch des kommenden Jahres. Durch die Verringerung des Kapitals wird die Nachfrage nach der Arbeit der Armen eingeschränkt, was bedeutet, daß auch ihr Einkommen in allen folgenden Jahren ständig geringer wird.“ ... >

Aber auch hier lässt sich dasselbe einwenden wie bei den Preissenkungen durch produktionstechnisch bedingte Kosteneinsparungen. Das Einkommen kann nicht in die Zukunft hinein schrumpfen.

Wir können also feststellen, die These von der Verschiebung des Einkommens in die Zukunft beim Übergang der Wirtschaft von einer in die nächste Periode lässt sich nicht zufriedenstellend erklären und schon gar nicht beweisen. Weil es sich um Quantitäten handelt, wäre es sinnvoll, die Übergansproblematik mathematisch zu formulieren und nachzuweisen. Das hatte Sismondi aber nie vor. Man kann also nichts anderes schlussfolgern, als dass seine dynamische Analyse ein erfolgsloser Ansatz war. Deshalb ist es ein bisschen verwunderlich, dass sie gerade von einem Angebotstheoretiker, gemeint ist jetzt kein geringerer als Schumpeter, trotzdem so viel Anerkennung findet:

„Sismondis großes Verdienst besteht darin, daß er systematisch und explizite ein Periodenschema einführte, d. h. daß er der erste war, der die spezifisch dynamische Methode anwandte, die als Periodenanalyse bezeichnet wird. ... Dies ist seine einzige große analytische Leistung. Aber er handhabte sein eigenes Werkzeug - wie auch andere seiner Ideen - so ungeschickt, daß er dessen Nützlichkeit ernstlich in Frage stellte. Auch alle anderen Argumente, die er gegen das ricardianische System ins Feld führte, wie auch die Lehrsätze, die er an Stelle dieses Systems setzen wollte, waren technisch so unzulänglich, daß es für die Ricardianer nicht schwierig war, sie zu entkräften oder sogar ihn selbst nicht ganz ernst zu nehmen.“ ... >

Man kann Sismondi natürlich nicht vorwerfen, dass es ihm nie einfiel, seine dynamische Periodenanalyse mathematisch zu formulieren; die ökonomische Theorie war nämlich damals noch nicht mathematisiert. Viel relevanter für die endgültige Beurteilung seiner dynamischen Periodenanalyse ist aber die Tatsache, dass es auch später keinen Ökonomen gab, der diese von Sismondi nicht erledigte Aufgabe in Angriff genommen hat. Man muss heute also endgültig davon ausgehen, dass dies nicht möglich ist.

Ansätze der realen Nachfragetheorie bei Sismondi

Würde man heute die Theorie von Sismondi von dem Gesichtspunkt der einzig siegreichen monetären Nachfragetheorie aus urteilen, der von Keynes, könnte man ihr keine großen Verdienste bescheinigen. Sie war in der Tat keine überzeugende monetäre Theorie, aber das wollte sie auch nicht sein. Die Geldabflüsse aus dem System, die bei Keynes eine entscheidende Rolle spielen, waren bei Sismondi nur von untergeordneter Bedeutung. Es gibt aber trotzdem etwas, wofür sich alle monetären Nachfragetheoretiker bei Sismondi bedanken müssten. Er hat ihren Theorien den Weg geöffnet, weil ihm als erstem richtig bewusst geworden ist, dass das Geld den Verkauf vom Kauf trennt, woraus monetäre Nachfrageprobleme entstehen können.

Ich werde aber zeigen, dass die wichtigsten Schlussfolgerungen Sismondis, jene, die nicht nur die Angebotstheoretiker, sondern auch die monetären Nachfragetheoretiker nicht verstehen und würdigen können, richtig sind. Allerdings, ihre Richtigkeit lässt sich nicht im Rahmen der dynamischen Periodenanalyse analytisch zufriedenstellend nachweisen. Die These von der zeitlichen Verlagerung der Einkünfte ist nämlich unbrauchbar und damit auch die ganze dynamische Periodenanalyse von Sismondi. Im Rahmen des von mir herausgearbeiteten Kreislaufmodells, in dem sich Nachfragemangel real - also ohne dass man das Geld in Betracht zieht - nachweisen lässt, wird sich herausstellen, dass Sismondi in folgenden Punkten Recht hatte:

1) Es gibt wirklich Übergansprobleme, die den Nachfragemangel verursachen, und zwar wenn die Wirtschaft von einem stationären Zustand in den nächsten wechselt oder wenn „zuviel“ investiert wird. In solchen Fällen können die vorhandenen Einkünfte tatsächlich nicht ausreichen, alle (in der betrachteten Periode) angebotenen Konsumgüter zu kaufen. Was „zuviel“ bedeutet, wird sich mit dem von mir konzipierten Kreislaufmodell mathematisch genau bestimmen lassen.

2) Mit diesem Modell wird sich erklären lassen, warum sinkende Preise auch dazu führen können, dass die Einkünfte nicht ausreichen, um alle bereits hergestellten Konsumgüter zu kaufen bzw. zu verbrauchen.

3) Auch Kostenersparnisse, wenn sie die Arbeit wegrationalisieren und sofort durch sinkende Preise weitergegeben werden, können manchmal zur Verringerung der Einkommen führen, so dass eine Nachfragelücke entsteht. Was aber den technischen Fortschritt betrifft, behält Sismondi nur zum Teil Recht. Die kapitalsparenden Innovationen können die Nachfrage nicht nur verringern, sondern genauso auch erhöhen, so dass unter Umständen erst durch sie ein Prozess des Sparens und des Investierens in Gang gesetzt werden kann. Beides wird sich mit Hilfe des Kreislaufmodells mathematisch genau untersuchen lassen.

 
 
     
 
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