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Die ersten Gedanken über das Nachfrageproblem und die ersten Theorien |
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Thomas R. Malthus: Das Nachfrageproblem als Überakkumulationsproblem |
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Die Produktionskräfte allein, mögen sie noch so groß sein, genügen nicht, um die Entwicklung eines verhältnismäßigen Reichtums zu sichern. Irgend etwas anderes scheint erforderlich zu sein, um diese Kräfte in volle Tätigkeit zu versetzen. Dieses Etwas ist eine wirksame und unbehinderte Nachfrage nach allen Produkten. Es muß somit eine zahlreiche Klasse von Menschen geben, die sowohl den Willen wie die Mittel haben, mehr materielle Güter zu verbrauchen, als sie produzieren, wenn die handeltreibenden Klassen dauernd mit Gewinn so viel mehr produzieren sollen, als sie verbrauchen. |
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Thomas R. Malthus, einer der wichtigsten Nachfragetheoretiker des 19. Jahrhunderts |
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Keynes konnte nie genug Lob für Malthus finden, für Marx gehörte er dagegen zu den erbärmlichsten und widerlichsten Geschöpfen, die es in der menschlichen Gattung je gab. „Aber Malthus! Ce misérable (Dieser Elende)“ - so eine der zahlreichen „Nettigkeiten“, die er ihm genüsslich nachgeschmissen hat. Alles was Malthus je überhaupt getan hätte, so Marx, bestünde darin: „aus den wissenschaftlich gegebenen (und von ihm stets gestohlenen) Vordersätzen nur solche Schlüsse zu ziehen, die der Aristokratie gegen die Bourgeoisie und beiden gegen das Proletariat „angenehm“ sind (nützen)“. Dieser Vorwurf wurde in allen erdenklichen Variationen wiederholt. Wer war nun dieser Mensch, der einerseits so viele begeisterte Anhänger und andererseits eine nicht kleinere Zahl von erbitterten Feinden hatte?
Thomas Robert Malthus (1766 - 1834) war ein britischer Sozialphilosoph und ein Nationalökonom. Er gehört zur ersten Generation der klassischen Nationalökonomen nach Smith. Beruflich betrachtet war er zuerst ein anglikanischer Pfarrer (1797) und ab 1806 der Inhaber des weltersten Lehrstuhls für politische Ökonomie, der gerade am College der East India Company im englischen Haileybury eingerichtet wurde. Bekannt wurde er zuerst als Sozialwissenschaftler durch seine quasi sozialdarwinistische Bevölkerungstheorie in An Essay on the Principle of Population (1798) und später durch seine Nachfragetheorie in Principles of Political Economy, die er im Jahre 1820 veröffentlichte. Heben wir gleich hervor, dass die Nouveaux Principes von Sismondi erst ein Jahr davor erschienen sind. Zu den allgemeinen Bemerkungen über Malthus als Denker und Wissenschaftler sollte noch unbedingt hinzugefügt werden, dass durch seine Werke sich ein Pessimismus als roter Faden schlängelt. Vor diesem pessimistischen Hintergrund ist es leicht zu verstehen, warum Malthus nur ziemlich bescheidene Ansprüche an die Wissenschaft stellte: Man sollte mir ihr schon zufrieden sein, wenn sie die Welt ein bisschen erträglicher machen würde. Eine weitreichende Vision zu entwerfen, wie es etwa Sismondi und Marx im Sinne hatten, war wirklich nicht sein Ding. Schon hier kann man eine gewisse Ahnung bekommen, warum Malthus ein Reizobjekt für Marx war.
Malthus - sowie Sismondi - gehörte in der erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zweifellos zu den wichtigsten Köpfen in der Kampagne gegen das Saysche „Gesetz“. War aber Malthus nur ein „eingeborener Plagiarius“ und eine „englische Karikatur“ von Sismondi? Waren die Principles of Political Economy „bloß die malthusianisierte Übersetzung von Sismondis Nouveaux Principes“, wie ihm Marx immer wieder vorwarf? Diesen Vorwurf zu entkräften wäre zu einfach und an sich nicht der Mühe wert. Die Frage der Originalität ist aber ein guter Ausgangspunkt, etwas über die Entwicklung der Nachfragetheorie nach Sismondi zu sagen.
Es kann als unbestritten betrachtet werden, dass sich alle wichtigsten theoretischen Ansätze der klassischen Nachfragetheorie - oder zumindest ihre rohen Anfänge - schon bei Sismondi finden lassen. Um dies nicht überzubewerten, sollte zugleich angemerkt werden, dass Sismondi selbst Anstöße von anderen aufgenommen hat. Aber wie dem auch sei, etwas wirklich Neues werden wir bei den Nachfragetheoretikern, die nach Sismondi gekommen sind, nicht finden. Sie haben ein Teil davon, was schon bei Sismondi zu finden war, übernommen - oder sind womöglich von selbst darauf gekommen - und weiter entwickelt. Das kann aber trotzdem eine hervorragende Leistung bedeuten, so dass ein Vorwurf des Plagiats eine maßlose Übertreibung wäre. Eine absolute Originalität gibt es nie. Dies gilt auch für Malthus.
Malthus ist später sogar zu einem wichtigen Kritiker von Sismondi geworden, wie wir schon gesehen haben. Er wollte auch von dessen dynamischer Periodenanalyse nie etwas wissen. Es war auch besser so für ihn, würde man heute sagen, da sie misslungen ist. Man kann in dieser Hinsicht zugunsten von Sismondi jedoch bemerken: immerhin traute er sich, die Angebotstheorie bzw. das Saysche „Gesetz“ mit einem völlig neuen analytischen bzw. methodischen Entwurf (Paradigma) frontal herauszufordern, den Nachfolgern fehlte dieser Mut. Sie alle suchten nach irgendwelchen offenen Flanken bei dem Sayschen „Gesetz“, um es in seinem Geltungsbereich so weit wie möglich zu beschränken. Man könnte von einer Guerillastrategie oder einem Partisanenkrieg sprechen. Aus solcher theoretisch minimalistischen Position sind alle Attacken gegen das Saysche „Gesetz“ ziemlich wirkungslos geblieben. Deshalb konnten die klassischen oder monetaristischen Nachfragetheorien erst dann Aufmerksamkeit erlangen, als die Marktwirtschaft in große praktischen Schwierigkeiten geriet, wie es bei der „säkularen Stagnation“ am Anfang des 19. Jahrhunderts, oder ein Jahrhundert später während der Großen Depression der Fall war. War aber die Gefahr vorüber, hat man die nachfrageorientierten Theorien und Ansätze wieder eingewickelt. So war es auch mit der erfolgreichsten Nachfragetheorie aller Zeiten, der von Keynes.
Das Scheitern der dynamischen Analyse von Sismondi war ein großer, sozusagen ein schicksalhafter theoretischer Rückschlag für alle spätere Nachfragetheorien. Weil sie auf eine eigene authentische analytische Grundlage verzichtet haben, fehlte ihnen eine theoretische Tiefe, mit der die Angebotstheorie so protzt. Die Nachfragetheorien wurden danach nicht nur argumentationsschwach, sondern sogar unglaubwürdig, und zwar mit Recht. Ihr Anspruch war nämlich sehr hoch, mit einer höheren Komplexität des Phänomens Marktwirtschaft zurecht zu kommen als die Angebotstheorien; von der theoretischen Substanz her betrachtet, waren sie aber weniger komplex als die letzteren. Wie kann so etwas gehen? Welcher Wissenschaft ist dies je gelungen? Keiner. Deshalb können die Nachfragetheorien einem analytisch interessierten Menschen nicht immer als ernst erscheinen. Allerdings können zumindest die wichtigsten Nachfragetheorien immer sagen, dass sie sich an den Tatsachen orientieren, so dass sich ein wissenschaftlich denkender Mensch doch für sie entscheiden muss. Nur Scharlatane und diejenigen, die sich bei der Wirtschaft geistig prostituierten, können die theoretische Ästhetik der Angebotstheorie, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat, bevorzugen.
Wenn eine Theorie wenig zu bieten hat, muss sie zumindest stark in der Kritik der Schwächen der gegnerischen Theorie sein. Eine solche Theorie lebt aber gefährlich. Sie kann durch zuviel Wagemut - oder Verzweiflung - ihre Kritik überziehen und dann erst recht ihre Glaubwürdigkeit einbüßen. Deshalb war es - meiner Meinung nach - keine besonders gute und glückliche Taktik der Nachfragetheoretiker, sich so gegen das Sayschen „Gesetz“ zu verschwören. Man kann natürlich mit Recht und Fug dem „Gesetze“ vorwerfen, es ginge bei ihm nur um Trivialitäten - wie es Marx immer wieder getan hat -, man kann aber nicht ernsthaft behaupten, es sei im Kern falsch. Seine zentrale Aussage ist bestimmt richtig, falsch ist „nur“, wenn man daraus „Ordungsprizipien“ herzaubert. Auch die Aussage, dass „die jährliche Produktion das gleiche ist wie das Einkommen“ ist kein Irrtum, wie Sismondi den Anhängern des Sayschen „Gesetzes“ vorwirft. Denn es ist so.
Malthus muss wohl sehr bewusst gewesen sein, dass das Saysche „Gesetz“ in einem sehr breiten Wirkungsbereich seine Gültigkeit erhält, so dass er meistens aus einer bequemen Entfernung von diesem Geltungsbereich gegen das „Gesetz“ argumentiert. Nur einmal wagt er eine sozusagen direkte Konfrontation mit ihm, wenn er das „Steigen des Tauschwertes“ als eine nachfrageschaffende Maßnahme vorschlägt. Diese These erinnert in der Tat sehr an die „Steigerung des Einkommens“ bei Sismondi, so dass sie verständlicherweise wie keine andere heftig diskutiert und attackiert wurde. Wir werden diese nachfrageschaffende Maßnahme erst zum Schluss erörtern und würdigen, weil hier Malthus den Rahmen der rein monetaristischen Argumentation verlässt.
Lässt man die These über das „Steigen des Tauschwertes“ beiseite, bildet die Nachfragetheorie von Malthus eine sehr gut durchdachte logische Einheit am Rande der Gültigkeit des Sayschen Gesetzes. In ihrem Zentrum steht die Überakkumulation, die alles bestimmt und dominiert. Die Überakkumulation haben wir schon bei Sismondi kennen gelernt. Malthus zeigt, was sich aus ihr theoretisch alles machen lässt. Weil die Akkumulation von Kapital in allen ökonomischen Theorien von großer Bedeutung ist, ist es angebracht, etwas mehr über sie zu sagen.
Das elende Leben des vom Akkumulationstrieb geplagten Kapitalisten
Der Sparer war schon bei Smith - eigentlich schon früher bei Anne R.-J. Turgot (1727-1781) - der wahre „Wohltäter“ der Gesellschaft, und zwar aus zwei Gründen. Wenn die Bevölkerung wächst und neue Arbeitsplätze geschaffen werden sollen, braucht man zweifellos zusätzliches Kapital. Außerdem, so Smith, mehr Kapital brauche man auch dann - er sagt: „in der Regel“, um dies zu relativieren - wenn man die Produktivität steigern wolle. Die empirischen Untersuchungen sagen uns, dass die Kapitalmenge pro Arbeiter noch anderthalb Jahrhunderte nach Smiths Tod „in der Regel“ gestiegen ist, woraus sich schließen lässt, dass die Produktivitätssteigerung kapitalintensiv war. Nach der Großen Depression ist jedoch die Produktivität auch ohne mehr Kapital pro Beschäftigten gestiegen, und zwar noch schneller als früher. Die Produktivität der Arbeit braucht also nicht immer mehr Kapital, und schon gar nicht stimmt die umgekehrte Schlussfolgerung: Mit mehr Kapital würde man die Produktivität beliebig steigern können. Diesen Irrtum hat Marx mit seiner berühmten Theorie über die Kapitalakkumulation (auf immer höherem organischen Niveau) zum Gesetz der kapitalistischen Entwicklung und zum Demiurgen der Geschichte hochstilisiert. Gerade deshalb heißt sein Hauptwerk Das Kapital. Der Kapitalismus, so die Kernaussage der Marxschen Analyse des Kapitals, würde durch seinen Hang zur Akkumulation die materielle Basis für die Lösung aller materiellen Probleme der Menschheit schaffen. Es wäre also an der Zeit - das schreibt Marx wohlbemerkt schon Mitte des 19. Jahrhunderts - diesen verhängnisvollen Hang zur Akkumulation zu stoppen und das Kapital sinnvoller zu beschäftigen. Dies werde aber erst nach der Revolution möglich sein. Danach würde man schlagartig die Produktion von Produktionsgütern verringern und die Produktion von Konsumgütern vergrößern können. Schon diese rein strukturelle Änderung sollte das Leben de Menschen in einem ungeahnten Maße verbessern. Würden sich die Menschen noch mehr Gebrauchsgüter wünschen, wäre dies dann auch kein Problem: Mit mehr Kapitalakkumulation ließe sich dies immer leicht realisieren.
Sismondi würde so etwas nie in den Sinn kommen. Malthus bezog eine Mittlere Stellung zwischen Smith und Marx. Er hielt die Kapitalakkumulation für nötig; von dem metaphysischen Unsinn, dass der Kapitalismus sozusagen in die Zukunft hinein akkumuliert, was man folglich nur gutheißen müsse, weil er damit im Verborgenen das Paradies auf Erden vorbereite, war er aber weit entfernt. Deshalb ging es bei ihm um ein optimales Verhältnis zwischen dem Sparen und dem Verbrauch.
„Keine ansehnliche und dauernde Zunahme des Reichtums kann jemals erreicht werden, ohne einen bestimmten Grad von Genügsamkeit, der jedes Jahr die Verwandlung gewisser Einkünfte in Kapital veranlasst und einen Überschuss des Ertrages über den Verbrauch schafft. Es ist aber ganz augenscheinlich, dass diese Sätze nicht in einem beliebigen Unfang richtig sind, und dass der Grundsatz des Sparens bis zum äußersten getrieben, jeden Beweggrund zur Produktion zerstören würde.“
Man kann nie oft genug hervorheben, dass die Akkumulation des Kapitals alleine das Saysche „Gesetz“ nicht richtig außer Kraft setzt. Malthus war sich dessen sehr wohl bewusst:
„Die produktiv arbeitenden Kapitalisten haben gewiß die Macht, ihre Gewinne oder die Einkünfte, die ihnen aus ihrem Kapital zufließen, zu verbrauchen ... Ein solcher Verbrauch gehört aber keineswegs zu den wirklichen Gewohnheiten der Masse der Kapitalisten. Ihr ganzer Lebenszweck besteht eben im Sparen.
Gilt dies durchschnittlich von den Kapitalisten als Klasse, so können sie offenbar bei ihren tatsächlichen Gewohnheiten nicht einen genügenden gegenseitigen Absatz durch Tausch ihrer verschiedenen Waren gewährleisten..“
Würden die Kapitalisten ein bisschen weniger sparen und investieren, und anstatt dessen ein bisschen mehr konsumieren, dann würde es keine Probleme mit der Nachfrage geben:
„Die beiden Extreme springen in die Augen; es folgt daraus, dass es einen mittleren Punkt geben muss.
Wenn jeder Mensch, der von seinem Einkommen spart, dadurch notwendigerweise ein Wohltäter seines Landes wird, so folgt daraus, daß diejenigen, die ihr ganzes Einkommen verbrauchen, ... nicht geradezu seine Feinde genannt werden dürfen.“
Es war offensichtlich nicht so sehr das Saysche „Gesetz“, gegen das Malthus zu Felde zog, sondern der Irrtum, dass es keine so große Menge von Kapital geben kann, die sich nicht produktiv sinnvoll anwenden ließe. Dieser Irrtum begann nach Smiths Tod zum Dogma der radikalliberalen Ökonomen zu werden. Als sich später herausstellte, dass die Produktivität und die Kapitalmenge pro Arbeiter in keinem festen und kausalen Zusammenhang stehen, hätte man sich von diesem Irrtum sofort und explizit distanzieren müssen, aber das hat die Angebotstheorie noch immer nicht getan. Es lässt sich leicht erraten warum. Das Sparen bzw. das Investieren ist das älteste angebotstheoretische Argument, warum die Löhne so niedrig wie möglich sein sollen. Nur durch niedrige Löhne würde angeblich der Kapitalist genug verdienen und sparen können, und damit neue Arbeitsplätze schaffen. Im Umkehrschluss: Die Arbeitslosigkeit wäre nach dieser Auffassung dann bzw. deshalb hoch, weil die Löhne hoch sind, die den Kapitalisten die Profite für mehr Investitionen wegfressen.
Diesen Anhängern des angebotstheoretischen Dogmas, dass es keine so große Menge von Kapital geben könne, die sich nicht produktiv sinnvoll anwenden ließe, wirft Malthus vor, dass sie das wichtigste vergessen. Die eingesparten Investitionen wären irgendwann fertig und sie würden neue Konsumgüter auf den Markt werfen. Diese müssten auch abgesetzt und verbraucht werden, sonst „besteht kein Anreiz mehr für eine weitere Produktionssteigerung", aber genau das könnte ausbleiben, wenn diejenigen, die konsumieren könnten, also die Kapitalisten, dies nicht tun würden, weil sie nichts lieber in ihrem Leben tun als zu sparen und zu investieren. Malthus versucht auch zu erklären, warum die Kapitalisten sozusagen Sparmonster sind.
„Ihr ganzer Lebenszweck besteht eben im Sparen, um ein Vermögen zu erwerben, einmal aus Pflichtgefühl, um für ihre Familie zu sorgen, dann, weil sie ihr Einkommen gar nicht mit Behagen ausgeben können, solange sie sieben bis acht Stunden täglich im Kontor sitzen müssen.“
Es ist interessant zu bemerken, dass Malthus, auch wenn er für eine Zeit Pfarrer war, keine religiöse Motivation der Reichen zum Sparen feststellt. Möglicherweise gerade deshalb, weil er Pfarrer war. Mit der religiösen Erklärung für den übertriebenen Hang der Kapitalisten zum Sparen gelang es erst viel später Max Weber (1864-1920), sich bei den wichtigsten Soziologen des 20. Jahrhunderts einzureihen. So ist es dem Unsinn über die Kapitalakkumulation gelungen, auch die Soziologie zu unterwandern.
Sollte es stimmen, dass die Kapitalisten Sparmonster sind, dann würde die Lösung der ökonomischen Probleme der Marktwirtschaft darin bestehen, dass man den Kapitalisten einen Teil des Einkommens wegnimmt, und zwar den Teil, den diese Klasse, durch den Akkumulationstrieb gepeitscht, unsinnig in die Produktion pumpt. Dieses Einkommen muss man dann denjenigen zukommen lassen, die willig sind es zu konsumieren. Wer aber sollte dies sein?
Malthus konnte sich in dieser Hinsicht vieles vorstellen, nur das nicht, was Sismondi vorgeschlagen hat: höhere Löhne. Es ist interessant genauer zu erfahren, warum eigentlich.
Malthus als Stammvater des ökonomischen Sozialdarwinismus?
Wie bereits am Anfang erwähnt, war es die sozialdarwinistische Bevölkerungstheorie in An Essay on the Principle of Population, durch die Malthus als Sozialphilosoph bekannt wurde. Nach der von ihm dort vertretenen Auffassung vermehrt sich der Mensch schneller als er die Produktion an den Nahrungsmitteln steigern könne, so dass die große Mehrheit der Bevölkerung immer an der Grenze der biologischen Existenz leben werde. Solch eine Auffassung war jedoch nie besonders gut empirisch begründet. Auch Adam Smith, einer der schärfsten Beobachter der Tatsachen, würde Malthus niemals zustimmen. Er würde weder dem Menschen einen so unbeherrschbaren Sexualtrieb unterstellen, noch würde er so skeptisch sein, was die Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung betrifft. Außerdem lässt sich gegen das Bevölkerungswachstum immer einiges tun. Das beste Beispiel liefern uns heute die Chinesen, mit ihrer Politik ein Kind pro Familie. Es ist schon bemerkenswert, dass es ausgerechnet den chinesischen Kommunisten eingefallen ist, dass es auch eine humanere Lösung gegen die Überbevölkerung gibt, als die im christlichen Abendland praktizierte, nämlich die Zahl der Armen durch Aushungern und Religionskriege in Grenzen zu halten. Malthus ist einer der prominentesten Schreibtischtäter für diese brutale und rücksichtslose Tradition. Er verteidigt sie zwar nicht unter dem Segen der christlichen Nächstenliebe, sondern im Namen der „Realität“, was man bei jemandem, der auch Pfarrer war, mit einem gewissen Erstaunen aufnehmen muss. Da hatte Marx in der Tat ein leichtes Opfer vor sich.
Bekanntlich haben Townsend und Anderson schon vor Malthus die Theorie über die Überbevölkerung vertreten. Bereits hier, meinte Marx, konnte man bei Malthus eine unverbesserliche Neigung zum Klau von fremden Ideen feststellen. Das wirklich Neue und Originelle, was Malthus dieser Theorie hinzugefügt hat, ist ihre mathematische Formulierung. Die Produktivität würde nach der arithmetischen Progression und die Bevölkerung nach der geometrischen Progression steigen, so diese Formulierung, durch die Malthus über Nacht berühmt wurde. Es ist in der Tat erstaunlich, wie viel diese bloße mathematische Neuformulierung zur Glaubwürdigkeit einer empirisch nicht besonders gut verifizierten Theorie beitragen konnte. Es macht in der Tat nachdenklich, wie viel Unheil die Mathematik in den Sozialwissenschaften immer wieder anrichten konnte. Die Ästhetik der mathematischen Sprache verursacht offensichtlich bei vielen Sozialwissenschaftlern eine Art der Denkblockade und lässt die ganze Welt der Tatsachen aus ihrem Bewusstsein verschwinden.
Vor dem Hintergrund der Überbevölkerungstheorie kann man sich schnell ausdenken, warum Malthus Löhne nie anheben würde. Die Arbeiter würden beim höheren Einkommen - das ihm etwa Sismondi geben würde -, sofort die „Produktion“ von Kindern ankurbeln, und diese würden nach kurzer Zeit genauso arm leben müssen wie früher. Warum aber mehr Arme dem lieben Gott nicht mehr gefallen sollen als wenige, hat uns der „Pfaffe“ Malthus, wie ihn Marx immer wieder beschimpfte, nicht verraten. Über Gottes Vorlieben müssen wir also weiterhin rätseln, was Malthus selbst lieber war, das wissen wir aber ganz genau: eine konstante Zahl von Armen und ein, nur nach der „arithmetischen Progression“ steigender Wohlstand bei wenigen sehr Reichen. Seien Sie herzlich willkommen im 21. Jahrhundert, Herr Malthus!
Malthus praktische Vorschläge für die Nachfragesteigerung
Wenn der Arme nur so viel von dem Volkseinkommen zurückerhalten darf als nötig, um Leib und Seele zusammenzuhalten, wer sollte dann zu den Auserwählten und Glücklichen gehören, die für mehr Verbrauch sorgen sollten? Lassen wir es uns von Malthus selbst sagen.
„Jede Gesellschaft bedarf einer Klasse in persönlichen Diensten verschiedener Art stehender Menschen. Außer den erforderlichen Dienstboten braucht sie Staatsmänner für die Regierung, Soldaten zur Verteidigung, Richter und Anwälte, um Recht zu sprechen und die Rechte der einzelnen Bürger zu schützen, ärzte zur Heilung von Krankheiten und Wunden, einen Klerus um die Unwissenden zu belehren und ihnen die Tröstungen der Religion zu vermitteln.“
Es lässt sich darüber streiten, ob die Dienstboten, die Malthus bei den unproductive consumers aufnehmen will, zu einer guten Gesellschaft gehören sollten. Was die anderen „unproduktiven“ Berufe betrifft, da sind wir nach der Erfahrung mit den sozialistischen und kommunistischen Ordnungen viel klüger geworden. Alle diese Berufe wird eine Gesellschaft, mit dem Menschen so wie er ist und noch lange sein wird, unbedingt brauchen. Man könnte hier Malthus höchstens vorwerfen, dass er uns mit nicht gerade besonders interessanten und originellen Überlegungen langweilt. Die Frage der Finanzierung dieser „dritten Personen“ ist auf jeden Fall theoretisch viel interessanter. Wie sollte man nämlich den sparbesessenen Kapitalisten das nötige Einkommen entwenden? Bei Simondi war dies keine besonders schwierige Angelegenheit. Man erhöht die Löhne und schon hat sich alles erledigt. Malthus musste sich da einiges einfallen lassen, und er war dabei sehr erfolgreich.
Das wertvollste an der Malthusschen Nachfragetheorie sind in der Tat seine Überlegungen, Empfehlungen und Lösungsvorschläge darüber, wie man das Einkommen für nicht produktive Berufe und die öffentlichen Ausgaben von der produktiven Bevölkerung wegnimmt. Erst hier beginnen wir Keynes richtig zu verstehen, wenn er sagte: „Wäre doch nur Malthus, statt Ricardo, die Stammwurzel der Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts geworden, ein wie viel weiserer und wohlhabenderer Platz wäre die Welt dann heute!“
Nach fast zwei Jahrhunderten könnte uns jedoch vieles davon, was Malthus sagt, zu einfach erscheinen, wenn man aber bedenkt, wie wenig man später dazu hinzufügen konnte, beginnt man die Leistung von Malthus richtig zu schätzen. Er hat, meiner Meinung nach, aus den dürftigen theoretischen Grundlagen der klassischen bzw. monetären Nachfragetheorie ziemlich alles herausgepresst, was möglich war. Dadurch konnte er seinen Ruf als großer Denker und Ökonom bequem rechtfertigen. Schon deshalb wäre es übertrieben, ihn als Plagiator zu brandmarken. Eine solche Zahl von sorgfältig analysierten pragmatischen Überlegungen und Vorschlägen lässt sich übrigens nicht in einem Jahr herausarbeiten.
Wenn Malthus seine nachfragesteigernden Maßnahmen diskutiert, will er ihre nicht erwünschten Nebenwirkung nicht verschweigen und weglassen. Das macht ihn manchmal unsicher und widersprüchlich. Deshalb werde ich jetzt seine Maßnahmen so kurz wie möglich, hauptsächlich stichwortartig, durchgehen. Die Seitenzahl in Klammern bezieht sich auf die Grundsätze der Politischen Ökonomie, die im Berliner Verlag R. L. Prager im Jahre 1910 erschienen sind.
Wie Sismondi, ist auch Malthus der Auffassung, dass mehr weniger Reiche für mehr Konsum sorgen können als wenige sehr Reiche. Deshalb macht er sich Gedanken über die „Teilung des Grundbesitzes“ (S. 488). Seine Bedenken diesbezüglich waren aber ziemlich groß. Auch eine größere Auswahl der Konsumgüter, meinte er, würde die Motivation zum Verbrauch stärken, wozu ein freier „Binnenhandel und Welthandel“ (S. 488) beitragen sollte. Allerdings könnte England einige der strategischen Güter, wie etwa „Korn selbst produzieren, es gäbe aber keinen durchschlagenden Grund, warum man etwa die „französischen Weine und Seidenwaren“ entbehren sollte“. (S. 555) Trotz aller Vorteile des Welthandels, sollte der Staat auf „eine so gerechte und ergiebige Einnahmequelle, wie die Zölle“ (S. 553) nicht verzichten. Dies konnte damals den radikalen Marktnarren, von dem Schlage der späteren Neoliberalen, nicht gefallen, und noch weniger das, was Malthus über höhere Steuern behauptet. Er ist sich nämlich sicher, dass die „plötzliche Aufhebung von Steuern, besonders bei den arbeitenden Klassen, oft ganz andere Wirkungen haben wird, als man bisher allgemein erwartet hat“, natürlich die positiven: Die zu „einem außerordentlichen, öffentlichen Verbrauch ... erforderliche Besteuerung“ würde „den Reichtum eines Landes in höherem Grade steigern, als er sonst steigen würde.“ (S. 564). Der öffentliche Verbrauch kann natürlich die Staatsschulden erhöhen, aber das nimmt Malthus im Kauf, weil „eine große Staatsschuld ... in vieler Hinsicht ein nützliches Mittel der Verteilung sein kann“, würde man dabei die eventuellen Nachteile nicht außer Acht lassen (S. 535). Was über das Papiergeld in den Prinzipien zu lesen ist, hat bis heute an Aktualität kaum etwas eingebüßt. So spricht Malthus über „den großen Vorteil, den der Nationalreichtum zweifellos zuweilen aus einem Sinken des Geldwertes ziehen kann“ (S. 558) Wenn das Geld an Wert verliert, sinkt nämlich die Lust, es zu horten. Mehr Papiergeld im Umlauf könnte nach Malthus aber noch keine zuverlässige Maßnahme zur Nachfragesteigerung sein. „Eine plötzliche Vermehrung des Umlaufgeldes wird ... dem Geschäftsleben unter Umständen eine vorübergehende Anregung geben, aber sie wird eben nur eine vorübergehende sein. Ohne einen bedeutenden Verbrauch von Seiten des Staates und eine häufige Umwandlung von Kapital in Einkommen müssen die großen von den Kapitalisten erworbenen Produktionskräfte, bei der abnehmenden Kaufkraft der Besitzer fester Einkommen, eine noch viel größere Überproduktion veranlassen, als sich jetzt schon fühlbar macht.“ (S. 559) Der Staat, so wie später bei Keynes, sollte also eine aktive Rolle bei den Staatsausgaben spielen. Er sollte ökonomisch aktiv sein, auf dem Bereich, wo das Privatkapital aus verschiedenen Gründen wenig oder gar nichts unternehmen würde.
„Ferner ist es wichtig, zu wissen, daß wir bei unseren Bemühungen, die arbeitenden Klassen in einer Zeit, wie die gegenwärtige es ist, zu unterstützen, am besten tun, sie mit solchen Arbeiten zu beschäftigen, deren Produkte nicht als verkäufliche Waren auf den Markt kommen, wie zum Beispiel beim Wegebau und anderen öffentlichen Anlagen. Daß man zu diesem Zwecke große Summen als Steuern erhebt und dadurch das auf produktive Arbeit gewendete Kapital verringert, ist kein triftiger Einwand, da dies ja in einem gewissen Umfange gerade das ist, was erforderlich ist.“
Diese Beschreibung der ökonomischen Aktivitäten des Staates im Rahmen der privaten Marktwirtschaft könnte man sozusagen als eine bis heute geltende Formel für die praktische Wirtschaftspolitik der Regierungen betrachten. Die einzige Anpassung an die neuen Umstände kann nur darin bestehen, dass man zu den Waren, die nicht „auf den Markt kommen“ sich einiges mehr einfallen lässt als nur den „Wegebau“, also die bauwirtschaftliche Infrastruktur.
Die Ansätze der realen Nachfragetheorie bei Malthus
Kaum eine der oben aufgezählten Maßnahmen, mit denen Malthus die Funktionsweise der Marktwirtschaft nachbessern will, würde der heutige neoliberale „Wirtschaftswissenschaftler“ unterstützen. Trotzdem lassen sich diese Maßnahmen mit bestimmten ad hoc Hypothesen im Einklang mit dem Sayschen „Gesetz“ bringen. Nur eine Maßnahme von Malthus, die er zwar nicht als Ökonom, sondern als Überbevölkerungstheoretiker empfiehlt, werden sie sogar mit Begeisterung begrüßen und beherzigen, die, wonach die Löhne der Arbeiter nie das Existenzminimum übersteigen dürfen. Es bleibt aber noch eine wichtige Maßnahme von Malthus, mit der er die Nachfrage schaffen will, die wir auch erwähnt, aber absichtlich außer Acht gelassen haben. Sie lässt sich auf keinerlei Weise mit dem Sayschen „Gesetz“ versöhnen, so dass sie wie keine andere für Aufregung sorgte. Ohne sie wäre Malthus als Ökonom voraussichtlich schon längst vergessen. Es geht um das „Steigen des Tauschwertes“. Vereinfacht gesagt, Malthus ist der Auffassung, dass die Steigerung der (nominalen) Preise zusätzliche Nachfrage schafft.
„Was wir ... brauchen, ist ein zunehmendes Nationaleinkommen, - ein Steigen des Tauschwertes des Gesamtertrages in Gold berechnet. Haben wir erst dies erreicht - und wir können es nur durch steigende und sichere Gewinne -, dann dürfen wir wieder anfangen, zu sparen; dann erst wird unsere Kapitalsanhäufung wirksam sein.
Wenn wir aber anstatt steigender Gewinne, durch Verminderung des Verbrauches sparen wollen ... so weisen uns alle allgemeinen Gesetze übereinstimmend nach, daß wir unsere Notlage verschlimmern, anstatt sie zu lindern.“
Malthus ließ sich auch einiges einfallen, wie sich der „Tauschwert“ oder die Preise steigern lassen, aber warum die Preissteigerung die Nachfrage schaffen würde, dafür hat er keine richtige Erklärung angeboten. Das hat später viele veranlasst, zu enträtseln, was Malthus wirklich im Sinne hatte. Die einzige schlüssige Erklärung, warum das „Steigen des Tauschwertes“ nützlich sein sollte, lässt sich bisher nur im Sinne der neoliberalen Theorie, durch Lohnniveau konstruieren. Durch diese Erklärung wäre Malthus wieder einmal das Opfer des von ihm abgelehnten Sayschen „Gesetzes“.
Bei dieser Erklärung geht es darum, dass der Markt bzw. das Angebot und die Nachfrage doch nicht ganz perfekt funktionieren. Wenn nämlich die Preise der Güter plötzlich steigen, und die Löhne, weil sie langfristig vereinbart und festgesetzt sind, dem nicht sofort folgen, steigen die Profite, so dass dies den weniger rentablen Unternehmen helfen kann sich zu stabilisieren und auf dem Mark zu verfestigen. Wenn umgekehrt die Preise der Güter plötzlich fallen, und die Löhne - die langfristiger geregelt sind - dem nicht sofort folgen, sinken die Profite oder noch schlimmer, die an der Grenze der Rentabilität arbeitenden Betriebe werden dann in Konkurs gehen.
Diese Erklärung beruht offensichtlich auf der Annahme, dass sich die Löhne nicht schnell genug der Preisänderungen anpassen können, so dass Malthus bei einigen seiner Interpreten als Theoretiker bezeichnet wird, der sich mit kurzfristigen Phänomenen beschäftigt. Außerdem wäre das „Steigen des Tauschwertes“ nur eine verschleierte Maßnahme der späteren neoliberalen Lohnsenkungsthese. War also Malthus ein Vordenker der neoliberalen Theorie? So etwas wäre wirklich eine ungerechte Unterstellung. Malthus war bestimmt nie ein Sozialdarwinist, der mit Begeisterung oder gar Leidenschaft das „unwerte“ Leben ausmerzen würde. Und schon gar nicht hat er diejenigen, die er selber auf das eine oder die andere Weise bevorzugt hat, für bessere Menschen gehalten, geschweige denn, er hätte ihnen eine besondere Leistungsfähigkeit bescheinigt. Er hat also in der Funktionsweise der Marktwirtschaft keinen evolutiven Prozess der positiven Selektion gesehen.
Aus noch einem Grund hätte Malthus in der Lohnsenkung keine vernünftige Wirtschaftspolitik gesehen. Er ist schon immer davon ausgegangen, dass die arbeitende Bevölkerung auf dem Existenzminimum lebt, so dass er keine Reserve für immer weitere Lohnsenkungen sehen konnte, von der die späteren Neoliberalen immer besessen worden waren. Aber wenn nicht die (reale) Lohnsenkung hinter dem „Steigen des Tauschwertes“ liegt, was dann? Möglicherweise ergibt sich die wahre Antwort auf diese Frage aus dem historischen Kontext.
Bekanntlich gehört es schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr zu dem guten Ruf eines zeitgenossischen Ökonomen, die alten Ökonomen im Original zu lesen und sich für die Diskussionen aus dieser „rückständigen“ oder netter gesagt „voranalytischen“ bzw. „vormathematischen“ Zeit zu interessieren. Sonst würde man schnell darauf kommen, dass diese Ökonomen eine für uns kaum fassbare Gewohnheit pflegten, die man heute für eine empirische Krankheit halten könnte: Sie haben nämlich von den empirischen Tatsachen etwas gehalten, ja sie haben sogar von dem Standpunkt der Tatsachen aus ihre theoretischen Auffassungen beurteilt. Ein mainstrem Ökonom würde sich heute fast schämen, dass seine Wirtschaftswissenschaft solche Vorgänger und Begründer hat. Er meint nämlich genau zu wissen, dass Tatsachen nicht beobachtet werden müssen, sondern man schafft sie - das haben doch schon vor geraumer Zeit die größten deutschen klassischen Philosophen ein für allemal nachgewiesen.
Was es der Wirtschaftswissenschaft wirklich gebracht hat, die Theorie über die Tatsachen zu erheben, haben wir schon untersucht. Aber lassen wir dies dahingestellt. Jetzt reicht es uns festzustellen, dass Malthus zu den vormathematischen Theoretikern gehörte. Als solcher hat er die empirischen Tatsachen aufmerksam beobachtet, und aus ihnen konnte er herleiten, dass die Marktwirtschaft bei mäßig steigenden Preisen viel besser funktioniert als bei stabilen und vor allem sinkenden Preisen. Mein allgemeiner Eindruck ist, dass er diese empirischen Erkenntnisse einfach zur These vom „Steigen des Tauschwertes“ umformulierte. Mehr war es nicht, aber auch nicht weniger.
Es ist hier noch anzumerken, dass die Korrelation zwischen dem Preisniveau und dem Konjunkturzyklus bereits am Anfang der kapitalistischen Entwicklung in Erscheinung getreten ist. Einige scharfsinnige Beobachter haben schon damals vermutet, dass die Inflation generell die wirtschaftliche Dynamik fördert. Von den Ökonomen war Pierre Boisguillebert (1646-1714) der erste, der hohe Preise explizit mit einer prosperierenden Wirtschaft in Verbindung gebracht hat. Danach ist viel Zeit vergangen, in der man dies nicht mehr wahr haben wollte, bis die moderne Statistik die Boisguillebertsche Einschätzung als richtig bestätigt hat. Der größten Bekanntschaft erfreuen sich bis heute die empirischen Untersuchungen von Arthur W. Phillips, die zeigen, dass es in Großbritannien während eines Zeitraums von etwa 100 Jahren eine starke umgekehrte Beziehung zwischen der Arbeitslosenquote und der Geldlohnsteigerung gab. „Negative Effekte treten nur auf, wenn die Inflation hoch ist“, so Lester C. Thurow neulich. „Man kann sogar argumentieren, daß Kapitalismus am besten bei einer Inflationsrate von ungefähr 2 Prozent pro Jahr funktioniert. Alles darunter führt zu Problemen.“
Die Erfahrungen mit der Inflation bestätigen somit die altbekannte Regel, wonach die fragwürdigen Dinge dieser Welt an ihrer eigenen Natur zu Grunde gehen, die guten jedoch an ihrer Übertreibung.
Der spätere neoliberale Ökonom brauchte diese Tatsachen nicht mehr wahr zu nehmen, weil er im Rahmen seiner Gleichgewichtstheorie „mathematisch streng“ nachgewiesen hat, dass das Preisniveau nie reale Effekte haben kann. So einfach ist es mittlerweile in der „Wirtschaftswissenschaft“ geworden, „Wissenschaft“ zu betreiben. Man bezeichnet diese Auffassung als Preisneutralität oder Geldneutralität. Damit wird gemeint, dass die Preisniveauänderung in Bezug auf die realen ökonomischen Größen (Produktion, Wachstum, Beschäftigung, ...) keinen Einfluss ausübt. Sie könnte lediglich kurzfristige Effekte verursachen, weil sie etwa, wie eben gezeigt, vorübergehend die Einkommensverteilung - zum Guten oder zum Schlechten - ändern. Langfristig sollten die Preisänderungen nichts bewirken und deshalb könnten sie auch keinen ökonomischen Sinn haben: Die Güter würden letztendlich andere Preiszahlen bekommen, die reale Kaufkraft der Einkünfte aller Wirtschaftsakteure und die relativen Preise (die Preisverhältnisse) würden auf den früheren Stand zurückkehren. So hat die ökonomische Theorie mit der Preisneutralität oder Geldneutralität noch einmal beeindruckend die Tatsachen besiegt.
Das Problem von Malthus bestand also darin, dass er die Tatsachen, die so klar für die nachfragetheoretischen Positionen sprechen, mit keiner Theorie untermauern konnte. So ist er auf halbem Wege stecken geblieben. Ich werde diese von Malthus unerledigte Aufgabe zum Abschluss bringen. Im Rahmen der realen Nachfragetheorie wird sich nachweisen lassen, dass sich durch das „Steigen des Tauschwertes“ wirklich die Nachfrage für das fehlende Angebot schaffen lässt. Somit wird diese wichtige und höchst umstrittene Aussage von Malthus - sowie noch einige, bereits besprochene nachfragetheoretische Aussagen von Sismondi - einen festen analytischen Unterbau bekommen.
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