Das Geld als Grundlage der Nachfragetheorie des 20. Jahrhunderts
  Die Staatsschulden als der letzte Rettungsversuch der Freiwirtschaftslehre
       
 
Ohne Einblick in das innere Wesen des Geldes ist es unmöglich, den Zins zu erklären. Die Lehre vom Zins kann nur von der Lehre vom Geld abgeleitet werden.
 
    Johann Silvio Gesell    

Die Verteufelung des Geldes hat bestimmt am meisten zur Popularität von Gesells Lehre beigetragen. Wer das Geld auf die Anklagebank setzt, kann sich sicher sein, dass ihm die einfachen Menschen und die naiven Moralisten stürmisch Beifall klatschen werden. Die Verteufelung des Geldes ist so alt wie falsch. Wie oft haben Sozialreformer das Geld schon beseitigen wollen? Letztendlich sollte auch im Kommunismus das Geld abgeschafft sein. Nun ist der Kommunismus für immer tot, so dass manche heimatlos gewordene Linke das Heil bei Gesell suchen. Diese, des Denkens nicht gewohnten, Gutmenschen wollen ihr Schicksal wieder einmal in die Hände eines Scharlatans legen, der unter anderem ein exzessiver Sozialdarwinist war. Über Gesells politische und ethische Vision werden wir später etwas mehr sagen. Jetzt wollen wir uns Gesells ökonomische Vision, oder besser gesagt seine ökonomische Utopie, näher anschauen.

Konkret bedeutet es, dass wir uns jetzt die „organische Reform des Geldes“ nach Gesells Vorstellung anschauen wollen. Sie ist, neben seiner Landreform - der wir hier keine Aufmerksamkeit schenken - schon alles, was man nach Gesells Überzeugung für eine perfekt funktionierende Marktwirtschaft braucht. Wie bereits gesagt, die ökonomische Markttheorie von Gesell ist äußerst einfach. Würde der Mensch nicht das Geld sinnlos horten wollen, würde der Markt alle Probleme des menschlichen Lebens zur vollsten Zufriedenheit und dazu noch von ganz alleine lösen. Das einzige, was man also tun muss, ist, das Geldhorten zu unterbinden. Und Gesell hat eine Idee. Das Problem soll eine Geldreform mit dem sogenannten „Schwundgeld“ für immer beseitigen. Man hat schon „Schwundgeld“ in einem kleinen Umfang praktisch ausprobiert, und es - so die treuesten Gesell-Jünger - hat den Test mit Bravour bestanden. Schauen wir und nun diese Innovation in Bereich des Geldes näher an.

Banknoten zum Stempeln und zum Aufkleben oder der negative Zins

Das Geld - laut Gesell - beginne aus dem wirtschaftlichen Kreislauf dann massenhaft abzufließen, wenn sich der Zins der Null nähert. Dann werden alle auf einmal zum Dagobert Duck. Die Nachfrage bricht zusammen, die Preise beginnen in Bodenlose zu fallen, Firmen gehen pleite, die Arbeitslosigkeit steigt, ... Um dies zu verhindern, muss man es dem Geld irgendwie unmöglich machen, dass es aus dem wirtschaftlichen Kreislauf abfließt. Aber wie?

Alles in der Natur unterliege dem rhythmischen Wechsel von Werden und Vergehen, nur das Geld scheine der Vergänglichkeit alles Irdischen entzogen, so Gesell. So etwas sei gegen die Natur bzw. die „natürliche Ordnung“, und man müsse es ändern. (Nebenbei gemerkt, alles wofür Gesell steht, wird in seinen Schriften als „natürlich“ bezeichnet und verstanden.) Das Geld in der Hand eines Geldbesitzers müsse folglich, wie alles in der Natur, mit der Zeit an Wert einbüßen, dann habe es auf dem Markt keine Vormachtstellung mehr. Man müsse also irgendwie erreichen, dass das Geld „rostet“ oder „verdirbt“. In der Fachsprache der Ökonomen würde man sagen, dass dem Geld ein negativer Zins aufgezwungen werden muss. So würde das Geld der Diener des Menschen und nicht deren Herrscher und Versklaver sein. Wie sollte eine „organische Reform des Geldes“ nach Gesells Vorstellung konkret aussehen?

Vor allem müsste das Geld ausschließlich aus Papier, also aus Banknoten bestehen, und seine Ausgabe sollte dem Staat vorbehalten sein. Stempeln oder Aufkleben wäre die einfachste technische Möglichkeit, diese Banknoten zu „rostenden Banknoten“ machen. Die Lösung ist in der Tat einfach. Nehmen wir als Beispiel eine 100 € Banknote. Damit sie „rostet“, müsste der Besitzer sie jeden Monat bei den Behörden stempeln, was z.B. 1 € kosten würde, oder monatlich eine 1 € Marke aufkleben. Nur so würde sie weiterhin ihren ursprünglichen Wert von 100 € behalten. Ist die Banknote irgendwann voll von Stempeln oder Marken, tauscht man sie einfach gegen eine aus, die noch blank ist. Wir merken sofort, dass wir hier - unabhängig von der verwendeten technischen Methode - einen 1% negativen Zins pro Monat haben. Man kann im Prinzip so lange ins Negative gehen, bis die Menschen kein Geld mehr horten würden. Ein solches Geld wäre bestimmt einem ständigen Weitergabedruck unterworfen. Jeder Geldbesitzer werde sein Geld wie heiße Kartoffeln weiter geben wollen: Er würde sich möglichst schnell Waren oder Dienstleistungen kaufen, laufende Rechnungen begleichen oder es ohne Zinsforderung verleihen, um so der Wertminderung zu entgehen.  

„Geld, da wie eine Zeitung veraltet, wie Kartoffeln fault, wie Eisen rostet, wie äther sich verflüchtigt, kann allein sich als Tauschmittel von Kartoffeln, Zeitungen, Eisen und äther bewähren. Denn solches Geld wird weder vom Käufer noch vom Verkäufer den Waren vorgezogen. Man gibt dann nur noch die eigene Ware gegen Geld her, weil man das Geld als Tauschmittel braucht, nicht, weil man vom Besitz des Geldes einen Vorteil erwartet.“ ... >

Wer wird dann überhaupt sparen wollen, damit die Unternehmen investieren können? Kein Problem, meint Gesell. Hier wird alles beim alten bleiben, allerdings beim Sparzins von 0%.

„Ich borge [der Sparkasse] 100 Mark, und sie verpflichtet sich, mir 100 Mark zurückzuerstatten. Und das kann die Sparkasse auch tun, denn auch sie gibt das Geld zu den gleichen Bedingungen wieder aus.“ ... >

Da drängt sich sofort die Frage auf: Wer wird den Banken ihre Kosten decken und Risiken begleichen? Aber gut. Nehmen wir an, auch dafür ließe sich irgendeine technische Lösung finden. (Allerdings kann man sich fragen, warum die islamischen Länder auf diese schon Jahrhunderte lang nicht gekommen sind.) Gesell versprach sich durch zinsfreie Geldkredite an die Wirtschaft ein enormes Anwachsen des Realkapitalstocks. Er wollte so „den Zins in einem Meer von Kapital ersäufen“, wie er sich ausdrückte. (Gerade das Gegenteil stellen wir aber bei islamischen Ländern seit Jahrhunderten fest.)

Gesell war zugleich überzeugt, dass der negative Sparzins von 1% und der Bankzins von 0% bei Investoren für konstante Preise sorgen werde. Hier entblößt sich seine Geldtheorie in ihrer vollen Naivität. Er hat sich einfach so in den Kopf gesetzt, dass man die Inflation von 0% unvergleichbar leichter steuern könne als die von 3 oder 5%. Es gibt kein einziges glaubwürdiges Argument dafür, und schon gar nicht lässt sich das empirisch untermauern. Dies ist nur eine seiner Milchmädchenrechungen. Er meinte voraussichtlich, wenn es keine Geldhortung gibt, ließe sich das Preisniveau viel einfacher steuern. (Erst dann würde die Quantitätsgleichung richtig funktionieren.) Aber das ist nicht das ganze Problem der Marktwirtschaft. Außerdem lässt uns die Erfahrung der letzten Jahrzehnte unmissverständlich wissen, dass die unabhängigen Banken - die deutschen kann man als das beste Beispiel dafür nehmen - sehr wohl den Zins und die Inflation in einem schmalen positiven Bereich halten können.

Die konstanten Preise bedeuten für Gesell eine heile Welt. Aber warum eigentlich? Warum ausgerechnet Null-Zinsen und Null-Inflation? Hat die Ziffer Null irgendeine mystische Attraktion für Freiheitsfanatiker? Warum sollten Zins nicht etwa 3 % und die Inflation 6% betragen? Dieses Verhältnis würde die sparsüchtigen Dagoberts mit einem realen Geldwertverlust von 3% bestrafen. Oder man gehe auf 12,68% Inflation pro Jahr, was der von Gesell vorgeschlagenen monatlichen Geldentwertung von 1% exakt entspricht. Dies Zahl 12,68 hätte man dann als eine „natürliche“ Zinsrate bezeichnen können, angesichts von Gesells Gewohnheit, alles, wofür er sich einsetzt, für „natürlich“ oder „frei“ zu halten. Deshalb bezeichnet Gesell das „Schwundgeld“ auch als „Freigeld“. (Diese alberne Gewohnheit, das Wort „frei“ überall dort einzusetzen, wo man einfach „gut“, „richtig“ oder „gerecht“ meint, war bei den älteren exzessiven Liberalen eigentlich weit verbreitet.)

Was das „Schwundgeld“ und die „organische Reform des Geldes“ betrifft, sollte noch etwas hinzugefügt werden. Man hat Gesell unzählige Male vorgeworfen, wenn man Geld stempeln oder bekleben müsste, wäre dies sehr umständlich und unpraktisch. Darauf kann man nur abwinken und sagen: Na und? Ein paar Minuten pro Monat wäre doch dem Bürger zumutbar, wenn die Idee wirklich gut wäre. Außerdem stehen heute Techniken zur Verfügung, welche wir der IT-Revolution zu verdanken haben, mit denen sich das „Rosten“ des Geldes - also die negativen Zinsen - viel eleganter und einfacher realisieren ließe. Deshalb liegt jede rein technische Kritik am Schwundgeld völlig daneben. Ich selber würde mich dieser Kritik nie anschließen - man kann sie nur als sinnlos ignorieren. Mein Standpunkt ist, dass das Schwund- oder Freigeld so überflüssig wie ein Kropf ist, weil man - wie eben geschildert - mit einer positiven Inflation und ein bisschen darunter liegendem Zins alles bewirken kann, was sich Gesell wünschte. Es ist weder neu noch selten, dass die Zinsen unter dem Inflationsniveau liegen, das hat jedoch keine Wunder bewirkt, wie Gesell sie sich ausgemalt hat, weil seine Krisen- und Konjunkturtheorie, die auf der Geldhortung fußt, einfach falsch ist.

Angesicht des pathologischen Hasses, den Gesell gegen den Staat hegte, ist es hier angebracht noch zu erwähnen, dass die „organische Reform des Geldes“ heuchlerisch ist. Die Ausgabe des Freigeldes sollte doch dem Staat anvertraut werden, der hierfür ein Währungsamt einzurichten hätte. Bei Inflationsgefahr sollte dieses Währungsamt Freigeld einziehen, bei Deflationsgefahr ausgeben. Da wird der Staat, den Gesell immer so genüsslich zum Teufel jagt und über seine universelle Inkompetenz entsetzt ist, durch die Hintertür auf die Szene zurückgeholt, und auf einmal wird seine Kompetenz nicht im Geringsten angezweifelt.

Das Experiment von Wörgl: Ein Wunder, das es nie gab

Die Gesellianer behaupten gern, die Wirksamkeit des Schwundgeldes habe man bereits praktisch endgültig nachgewiesen. Vor allem wird das Experiment im Jahre 1932 in Wörgl am Inn, in Tirol (Österreich) gelobt. Damals, während der Großen Depression, zählte die Ortschaft 4200 Einwohner, und im Frühjahr des betreffenden Jahres waren 420 von ihnen arbeitslos. Zu dieser Misere kamen noch 1,3 Mio. Schilling Schulden dazu, weil die Steuereinnahmen gesunken sind. Wörgl wurde von einem sozialdemokratischen Bürgermeister (Michael Unterguggenberger) regiert, der Gesell gelesen hatte. Nun machte er dem Gemeinderat den Vorschlag, eine Regionalwährung - ein Notgeld -, einzuführen, was im Juli 1932 auch getan wurde. Das Notgeld verlor jeden Monat 1% an Wert und musste von der Gemeinde gestempelt werden. Am Jahresende sollte das Geld gegen neues umgetauscht werden.

Die Gemeinde entlohnte ihre Angestellten und Arbeiter in Arbeitsbestätigungsscheinen. Daher konnten auch die Wörgler Geschäftsleute kaum anders, als die Notgeldscheine zu akzeptieren, obwohl ihnen Schilling lieber gewesen wären. Ihre Umsätze stiegen, obwohl sie sich ärgerten, weil der Umtausch von Notgeld in Schilling mit 2% Abzug „bestraft” wurde. Die Arbeitslosigkeit sank allerdings und die Einnahmen der Gemeinde stiegen, wenn auch in geringerem Umfang als erhofft. Die Zentralregierung in Wien verbot das Experiment im September 1932.

Das Experiment, das von Gesellianern als endgültiger Beweis dienen sollte, dass Freigeld funktioniert, hatte allerdings einige Mängel. Die Umstände, unter denen es stattgefunden hatte, entsprechen bei weitem nicht dem, wovon Gesell ausgegangen ist. Das Notgeld war in Wörgl keine richtige (Ersatz-)Währung, sondern lediglich eine Währung neben der (richtigen) Währung. Wer etwas zum Sparen hatte, konnte dies, wie gewohnt, in der richtigen Währung verlustfrei tun. Auch andere Erfolge des Experiments waren nicht so beeindruckend, wie manche es sehen wollen: die größten Mehreinnahmen nahm die Gemeinde Wörgl über Aufschläge auf Grund-, Gebäude-, Vergnügungs- und Hundesteuer ein.

Dass es bei den gesellianisch inspirierten Experimenten positive Effekte gab, beweist noch nicht, dass das Geldhorten für die konjunkturellen Einbrüche in der Marktwirtschaft verantwortlich wäre bzw. dass es ohne Geldhortung keine solchen Einbrüche gäbe, sondern nur, dass externe Nachfrage (das zusätzliche Geld) der Wirtschaft hilft. Das eine kann und muss von dem anderen getrennt betrachtet werden. Ich werde diesen Unterschied später genau erklären, wenn ich die reale Nachfragetheorie präsentiere. Dort werde ich nämlich den zyklischen Rückgang der Produktion und Beschäftigung durch Nachfragemangel erklären, der aber nichts mit Geld zu tun haben wird. Genauer gesagt, ich werde zeigen, dass der Nachfragemangel gar nicht durch menschliche Fehler verursacht ist, sondern er ist die Folge eines, dem Marktmechanismus „eingeborenen“ Defekts. Pointiert ausgedrückt: Der Markt ist der Schuldige, nicht der Mensch und schon gar nicht der Geld hortende Mensch. Das Geld bleibt aber trotzdem eine der besten Möglichkeiten, den Nachfragemangel zu verhindern oder zu beseitigen.

Die Erklärung des ökonomischen Zyklus ist also etwas anderes, als die Suche nach praktischen Maßnahmen, mit denen die Stagnation überwunden werden soll. Es spricht einiges dafür, dass auch Keynes das eine nicht für so wichtig betrachtet und sich umso mehr dem anderen gewidmet hat. Auf jeden Fall wollte er der Idee der Geldhortung - zumindest in der plumpen und naiven Form eines Gesell - nicht folgen. Deshalb hat er uns keine Theorie des ganzen ökonomischen Zyklus gelassen, sondern hat sich hauptsächlich auf die Erklärung der Stagnation beschränkt. Das Geld ist bei ihm vor allem ein praktisches Mittel, mit dem man als mit einer externen Nachfrage das stockende Wachstum anschiebt. In dieser Hinsicht schließe ich mich der monetären Nachfragetheorie von Keynes an, so dass ich mich - auch wenn ich jede monetaristische Erklärung des Nachfragemangels als nicht zutreffend ablehne - trotzdem als Keynesianer fühle und bezeichne.

Der angebliche Zinseszins: Eine mathematische Posse als Theorieersatz

Wenn es um Zinsen geht, muss man zuerst klar stellen, dass die Quelle, aus der sie sich speisen, die Erträge der Realwirtschaft, oder einfacher gesagt der Produktion sind. Dies ist schon längst bekannt und ist leicht zu verstehen. Geld schafft nichts, weil es auch nicht arbeiten kann. Zinsen fallen nur da an, wo Erträge erwartet werden, die natürlich größer sein müssen als die Zinsen. Die Zinsen können folglich nur ein Teil der Erträge sein, und so wie die Erträge nicht in den Himmel wachsen können, können es auch die Zinsen nicht. Das war spätestens seit Adam Smith klar, nur Gesell wollte dies nicht begreifen. Schlimmer noch. Er unterstellt den Ökonomen vor ihm, sie würden im Geld einen Wert an sich sehen; Marx gilt ihm als das beste Beispiel dafür - was natürlich ein Blödsinn ist. Er will die Metaphysik der Ökonomen ins Lächerliche ziehen, was zwar erforderlich ist, aber nicht durch solche infamen Unterstellungen. Außerdem gibt es keinen besseren und sichereren Weg zur Metaphysik, als über das innere Wesen einer Sache zu spekulieren, etwa über das „innere Wesen des Geldes“, wie es Gesell tut - siehe Motto.

Des Weiteren ist festzustellen, dass Leute und Institutionen, die Geld verleihen, dies deshalb tun, um mitzuverdienen. Der Zins als solcher ist nicht das Problem. Vielmehr geht es dabei um die Frage der Verteilung dessen, was real erwirtschaftet worden ist: Ein Teil der Wertschöpfung geht halt an die Arbeiter und Unternehmer, ein anderer Teil wird an die Kapitalgeber ausgeschüttet. Es ist im Prinzip auch richtig so, weil die Geldgeber ein Risiko tragen. (Es ist in dem heutigen Finanz- und Banksystem nur deshalb nicht so sichtbar, weil das Risiko gestreut wird.) Außerdem tun die Sparer etwas Gutes damit, dass sie ihren Konsum in die Zukunft verschieben, weil dadurch investiert werden kann. Wenn man sich über die Zinsen ärgert, so muss man sich genauso über den Gewinn des Unternehmers ärgern.

Was sollte nun das „innere Wesen des Geldes“ bedeuten? Etwa das, was die Geschichte mit dem Josephspfennig erzählt? Auf jeden Fall wird sie von Gesell-Jüngern immer wieder mit Stolz erzählt.

„Auf welchen Betrag wäre ein Pfennig (hätte es ihn zu Christi Geburt schon gegeben) angewachsen, wenn Joseph ihn zu 5% Zinseszins festverzinslich angelegt hätte und wenn es seither weder Inflation noch Währungsreform gegeben hätte und auch keine Erbschaft-, Vermögen- und Zinssteuer, keinen Diebstahl des Vermögens und auch keine Revolution und Enteignung? Dieser Pfennig wäre schon bis 1990 auf einen Betrag mit so vielen Nullen angewachsen, daß sich niemand diese Zahl mehr vorstellen kann. Deshalb hat sich einer die Mühe gemacht und die Geldsumme in Gold umgerechnet, zum Goldpreis an einem Stichtag 1990. Und wieviel Gold kam dabei heraus? Goldkugeln vom Gewicht der Erde! Aber nicht eine Goldkugel, sondern: Aus einem Pfennig zu Christi Geburt wären bei 5% Zinseszins bis 1990 134 Milliarden Goldkugeln vom Gewicht der Erde geworden!“ ... >

Die Geschichte ist ein ziemlicher Unfug. Man wird niemanden finden, der bereit wäre, sich einen Pfennig 2000 Jahre lang zu leihen und den Zinseszins dafür zu entrichten. Aber so buchstäblich wird der Josephspfennig bzw. Zinseszins auch nicht verstanden. Trotzdem ist er nichts anderes als eine Metapher oder besser gesagt, ein lustiges Wortspiel. Eine sinnvoll gestellte Frage kann nur heißen: ob Zinsen selbst Zinsen bringen können oder nicht. Sie können es nicht! Man kann ohne wenn und aber behaupten, dass es Zinsenszins gar nicht gibt. Es gibt nur Zinsen, alles andere ist nur eine mathematische Interpretation: eine wirre Konstruktion. Das lässt sich leicht verdeutlichen:

Nehmen wir an, ein kleines Unternehmen mit 100 Tausend Euro Schulden muss im ersten Jahr 5 Tausend Euro Zinsen zahlen. Seine Lage ändert sich nicht, so dass es auch im zweiten Jahr wieder 100 Tausend Euro braucht und wieder 5 Tausend Euro Zinsen zahlen muss, im dritten Jahr auch und so weiter. Das Unternehmen kann also jedes Jahr den Zinsendienst aus einem gleich großen Umsatz abzweigen. Bei ihm gibt es also keine Zinseszinsen. Sie lassen sich nur aus einer spezifischen Perspektive beim Geldgeber hineininterpretieren. Wenn nämlich ein und derselbe Geldgeber im zweiten Jahr sein Zinseinkommen von 5 Tausend Euro nicht verbraucht, sondern einem zweiten Unternehmer ausleiht, im dritten Jahr einem dritten Unternehmer und so weiter, wächst sein Einkommen in der Tat nach einer mathematischen Potenzfunktion, was man dann als Zinseszins bezeichnen kann.

Die Zinseszinsgeschichte ist nur eines der vielen traurigen Beispiele, wie es in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften möglich ist, eine Trivialität zu einem äußert spannenden Thema machen, indem man sie einfach in der mathematischen Sprache verfasst. Vor allem die Ökonomen neigen dazu, Trivialem ein mathematisches Gewand zu geben, und somit etwas, was am Stammtisch nur spät nach Mitternacht „diskussionswürdig“ wäre, zu einem wissenschaftlichen Hitthema zu machen. Vergessen wir also den Zinseszins. Am Zins gibt es nichts Mystisches und schon gar nichts Bedrohliches.

Nun hat sich nach der neoliberalen Konterrevolution eine gute Gelegenheit ergeben, den Zinsenzins zu retten. Der handfeste Beweis, so die Gesell-Jünger, dass es Zinseszinsen gibt und dass gerade sie es sind, die die Wirtschaften langsam aber sicher in den Ruin treiben, sind die mittlerweile explodierenden Staatschulden. Nein, das sind sie nicht. Da haben die Gesellianer wieder etwas missverstanden.

Die Staatsschulden bedeuten zwar Zinsknechtschaft aber keine Zinseszinsen

Staatsschulden und Staatsbankrott gab es bekanntlich, als es den Kapitalismus noch nicht gab, also schon lange bevor es eine richtige (kapitalistische) Geldwirtschaft gab. Auch alle alttestamentarischen Zinsverbote haben die Überschuldung nicht verhindern können. Wenn man also versucht, unsere heutigen Staatsschulden mit Geld bzw. mit Zins, oder wie es Gesellianer meinen, mit Zinseszinsen zu erklären, hat man ein großes Problem. Na ja, man kann sich dann auf den Kapitalismus beschränken. Seien wir großzügig und tun wir den Gesellianern diesen Gefallen. Trotzdem werden wir sehr schnell merken, dass unsere Staatsschulen nichts mit dem Zinseszins zu tun haben. Wie sind sie entstanden?

Die neoliberale Konterrevolution begann mit der Anklage, dass die Nachfragetheorie von Keynes der wahre Schuldenmacher wäre, so dass man sie gerade deshalb nicht mehr weiterführen könne. Als einzige Alternative wurde die Angebotstheorie angeboten. Was hat sie uns am Anfang alles versprochen! Mit den von ihr vorgeschlagenen Maßnahmen würde man unter anderem auch verhindern, dass sich der Staat weiter verschuldet oder gar, dass er die „keynesianisch“ verursachten Schulden tilgt. Wenn man dies heute hört, müssen schon auch diejenigen, die von der Ökonomie nicht viel verstehen, anfangen zu grinsen. Ja, die angebliche Alternativlosigkeit der neoliberalen Wende war schon immer nur eine raffinierte ideologische Strategie unserer Machteliten, die man mit der Hilfe von korrupten „Experten“ und „Wirtschaftswissenschaftlern“ als kalte Konterrevolution durchgesetzt hat. Schauen wir uns noch einmal kurz ihre Ergebnisse an, vor allem aber die Schulden, welche die Staaten in den drei letzten neoliberalen Jahrzehnten angehäuft haben. Vor allem interessiert uns, wie diese Schulden zustande gekommen sind - also ihre Ursache.

Die Zauberformel des Neoliberalismus heißt: Alles privatisieren und Steuern senken. Durch niedrigere Steuern würden angeblich neue Arbeitsplätze wie Pilze nach dem Regen aus dem Boden schießen. Aber nicht nur das. Gerade wenn man die Steuersätze senkt, würden die Steuereinahmen steigen (Laffer-Kurve): Je weniger der Staat dem einzelnem „nimmt“, desto mehr würde er ansammeln! Wenn man bedenkt, dass die Menschen in den westlichen Demokratien wirklich die Parteien gewählt haben, die einen solchen Unsinn verbreitet haben, wird man wirklich besorgt über die conditio humana. Allerdings kann man dies mit dem Umstand entschuldigen, dass die Wähler nicht das wählen, was sie selbst wollen, sondern nur auswählen können aus dem, was auf den Tisch kommt, was von den Köchen zubereitet wird, die von den Reichen und dem Kapital bezahlt werden. Die Steuersenkung mit all ihren Versprechungen war von Anfang an eine bewusste Lüge und ein Betrug. Die Reichen hätten nämlich spätestens seit Mandeville und Montesquieu wissen können, was passieren würde, wenn sie ihre Steuergeschenke in Arbeitsplätze investieren würden. Das würde ganz bestimmt zu höheren Löhnen führen - die Nachfrage erhöht nämlich die Preise -, so dass sich ihr relativer (die Profitquote) oder gar absoluter Anteil an dem Gesamteinkommen verringern würde. So etwas kann doch nie in ihrem Interesse liegen. Was tut man also, wenn man Geld wie Heu hat?

Eine Möglichkeit war, in den armen Ländern zu investieren, wo die Arbeitskräfte spottbillig sind. Das nennt man Globalisierung. Dem hätte man moralisch wenig entgegenhalten können, würde da im Hintergrund nicht die Absicht stehen, die Löhne im eigenen Land zu senken. Eine andere Strategie der Reichen, mit den Steuergeschenken zu verdienen ohne zu investieren, war noch viel böswilliger und fataler. Diese Strategie hätte sich damals natürlich auch mit den konservativen und liberalen Parteien realisieren lassen, mit den sozialdemokratischen ging es - wie wir erfahren konnten - viel einfacher. Die Frage ist nur, ob sich die sozialdemokratischen Parteien über den Tisch ziehen ließen, oder ob diese Parteien so degeneriert und korrumpiert sind, wie keine anderen. Aber dies braucht uns jetzt nicht zu interessieren. So oder so - dumm oder böse -, die sozialdemokratischen Parteien waren unser größtes Unglück der letzten Jahrzehnte.

Warum konnte man eine böse Strategie der Reichen gerade mit den sozialdemokratischen Parteien am besten realisieren? Erinnern wir uns zuerst daran, wie die sozialdemokratischen Parteien entstanden sind: als ein politischer Arm der Gewerkschaften. Sie wurden sozusagen aus der Unschuld geboren, und das haben die Menschen immer noch nicht vergessen. Leider - muss man sofort hinzufügen. Die „moderne“ Führungsschicht der Sozialdemokraten, die sich von der Arbeiterklasse schon längst „emanzipierte“, also die Karrieristen und Lobbyisten, die ihr Abgeordnetenmandat nur als Sprungbrett nutzen wollen, besaßen vor ein paar Jahrzehnten einen beachtlichen Vertrauensvorschuss bei den Bürgern. Diesen konnte man für einen schäbigen Verrat an den Interessen ihrer Wähler ausnutzen. So haben die Wähler nicht bemerkt, dass die sozialdemokratischen Manipulationen an der „Rettung“ der Sozialsysteme eine Subversion war. Die Strategie war einfach:

Nach den Steuersenkungen fehlte das Geld, das die sozialdemokratischen Regierungen den Reichen nachgeschmissen haben. Da haben die sozialdemokratischen Regierung heldenhaft erklärt, dass sie dafür sorgen würden, dass der Staat weiterhin den Alten die Renten auszahlt, die Staatsbeamten, Polizisten und Richter entlohnt, die Schulen baut und die übrige Infrastruktur funktionsfähig hält sowie einiges mehr. Das würde natürlich auch jede konservative Regierung machen müssen. Und sie würde dafür das Geld auf genau die gleiche Weise besorgen, wie die Sozialdemokraten.

Durch die Steuersenkungen ist das Geld nämlich nicht einfach verschwunden. Das Geld kann immer nur aus einer Tasche in die andere wandern. Nach den Steuersenkungen war das Geld nun in den Taschen der Reichen. Aber das passte doch bestens zusammen! Der Staat konnte sich also das fehlende Geld bei den Reichen ausleihen. Die Löcher in der Staatskasse, welche die Steuersenkungen gerissen haben, ließen sich also durch die Verschuldung des Staates bei den Reichen stopfen. Natürlich konnte man nicht erwarten, dass die Steuerbegünstigten ihr „hart verdientes“ Geld dem Staat unverzinst ausleihen würden. Aber das versteht sich von alleine. Das war das wahre Geheimnis der neoliberalen Steuersenkung und schließlich der Schuldenmache.

Dies alles war schon dermaßen satanisch ausgedacht, dass man kaum glauben würde, es könnte noch schlimmer kommen. Es kam aber noch viel schlimmer. Das wurde uns seit Herbst 2008 klar. Die Banken wurden nämlich pleite, nachdem sie das Geld - sehr viel Geld, die Reichen sind nach den Steuersenkungen im Geld gerade geschwommen - zu einem Teil ihren Finanzexperten und Managern für „besondere Verdienste“ ausbezahlt und zum andren Teil einfach verspekuliert haben. Und was kann man dann tun? Weil ohne kreditfähige Banken die reale Wirtschaft sofort zusammenbrechen würde, musste der Staat den Banken nolens volens ungeheuere Geldsummen einfach so nachschmeißen. Mit der Begründung, die Banken wären systemrelevant. Das sind sie auch, in einem System der institutionalisierten Räuberei, oder anders bezeichnet: im real existierenden Kommunismus der Reichen.

Und jetzt kommen wir auf unsere ursprüngliche Frage zurück, ob die explodierenden Staatschulden durch Zinseszinsen verursacht worden sind. Sind sie nicht! Die Zinsknechtschaft, in die wir sehenden Auges hineinfahren, ist einzig und allein das Ergebnis der neuen Umverteilung von unten nach oben, der zuliebe die Effizienz unserer Wirtschaft und der soziale Frieden zur Disposition gestellt worden ist. Es ist lächerlich nur anzunehmen, die negativen Zinsen würden ein solches Endergebnis verhindern können. Gerade der negative Zins würde die Lage der arbeitenden Bevölkerung verschlimmern, weil er diejenigen, die nicht reich sind, am meisten treffen würde. Die Menschen mit durchschnittlichem und erst recht mit unterdurchschnittlichem Einkommen geben ihr Geld großenteils aus. Sie brauchen also das Bargeld, von dem man negative Zinsen verlangen würde. Die Reichen dagegen würden ihre riesigen Geldüberschüsse den Banken anvertrauen, wo das Geld bei Nullzinsen und Nullinflation seinen realen Wert behalten würde. Die Umverteilung von unten nach oben würde immer weiter vor sich gehen.

Man könnte jetzt einen weiteren Schritt manchen und fragen: Wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, was würde die Geldreform von Gesell bringen? Unsere Staatschulden sind gigantisch geworden, was würde und die Geldreform nach Gesells Vorstellung bringen. Nichts. Sie würde die Zinsknechtschaft, die durch institutionell organisierte Plünderung der Gesellschaft mit Hilfe von Steuersenkungen, nur stabilisieren. Etwas dagegen zu tun, können wir am besten mit dem „alten, guten“ Geld. Gerade ein solches Geld macht es uns möglich, die Inflation über den Zinssatz anzuheben. Allerdings braucht man dazu den politischen Willen. Aber für die Geldreform nach der Auffassung von Gesell erst recht - abgesehen jetzt einmal davon, dass diese nicht funktionieren würde.

Was die „organische Reform des Geldes“ betrifft, für sie kann man abschließend nur sagen: Sie würde nichts bringen. Sie ist eine Innovation für die Lösung des Problems der Geldhortung, das es in der Marktwirtschaft nicht gibt, zumindest in dem Maße nicht, wie es Gesell behauptet hat. Mit einem Wort: Vergessen wir Gesell. Seinen Kampf gegen den Geldstandard können wir natürlich würdigen.

Was die Originalität der Idee des wertverlierenden Geldes selbst betrifft, ist vielleicht nicht uninteressant noch etwas zu erwähnen:

„Nicht nur die Theorie der „stinkenden“ und sich „abnutzenden“ Münzen, auch die Praxis des umtausch- und gebührenpflichtigen Papiergeldes ist nichts neues. ... Die Ming-Dynastie brachte in China 1375 Geldscheine in den Verkehr, die nur zwei Jahre gültig waren und dann gegen einen Abzug von 2 bzw. 3% ihre Nennwertes umgetauscht werden mußten. Auch diese geringe Besteuerung, die bis ins 15. Jahrhundert praktiziert wurde, verhinderte laut Pirenne die Geld-“Hortung“. Aber auch im europäischen Mittelalter ist eine ähnliche Technik der Geld-“Verrufung“ praktiziert worden, und zwar in Deutschland, Polen und österreich. Es war die Zeit der Brakteaten, jener Münzen, die ebenfalls regelmäßig umgetauscht werden mussten .“ ... >

Schließlich bleibt uns nur noch ein paar Worte über die allgemeine Weltanschauung von Gesell zu verlieren. Diese Mühe ist deshalb nicht überflüssig, weil - wie bereits hervorgehoben - die Gesell-Jünger bei den heimatlos gewordenen Linken hausieren gehen. Eine äußerst gefährliche Sache. Die Weltanschauung des Autodidakten und Krämers Gesell ist nämlich Laissez-faire vom Feinsten und dazu noch Sozialdarwinismus in letzter Konsequenz. Wenn das „links“ sein sollte!?

 
 
     
 
zu weiteren Beiträgen
werbung und    eBook