A - Schlüsselbegriffe und Grundannahmen der realen Nachfragentheorie
  War der Marxismus der Totengräber des bisherigen Sozialismus?
       
 
Seine Aufgabe sah Marx darin, die wirkliche Geschichte zu entdecken, ihr Geheimnis bloßzulegen: die Ökonomie. ... Der Kommunismus war für ihn nichts anderes als die Vollstreckung des ökonomischen Gesetzes der Geschichte.
 
    Heinz Abosch, ein Humanist, ein Mahner an das Vergangene und ein Warner vor den Irrtümern der Gegenwart    
       
 
Marx hat den modernen Sozialisten wenig oder gar nichts zu bieten, weder im Hinblick auf praktische politische Maßnahmen noch hinsichtlich der zutreffenden Analyse unserer Gesellschaft, ja nicht einmal in Bezug auf die richtigen Begriffswerkzeuge oder den geeigneten begrifflichen Rahmen.
 
    Anthony R. Crosland, ein britischer Politiker und sozialistischer Theoretiker    

Marx war überzeugt, dass die sozialistischen Auffassungen vor ihm nur gut gemeinte Schwärmereien waren. Und da hat er sich bestimmt nicht sehr geirrt. Die Vorschläge der sozialistischen Weltverbesserer und Reformer waren alle dermaßen realitätsuntauglich, dass sie den Utopie- und Voluntarismusvorwurf zweifellos verdient haben. Der typische Sozialist war schon immer ein Mensch, der davon ausgegangen ist, dass sich die menschliche Natur wesentlich verbessern kann. Im Hintergrund dieser Überzeugung steht ein romantischer säkularisierter Glaube, dass der Mensch ursprünglich gut war, dass er aber irgendwann aus irgendwelchen Gründen von den Lastern und Egoismen befallen und von ihnen bezwungen wurde. Die politische Aufgabe sollte schließlich darin bestehen, den Menschen auf den Weg der Tugend zurückzuführen.

Wenn man an die edle menschliche Natur glaubt - Jean-Jacques Rousseau ist ein gutes Beispiel dafür -, muss eine bessere Ordnung mit einer moralischen Umerziehung beginnen, bei der Menschen in einem Prozess der Selbsterkennung aufgefordert werden, ihre ursprüngliche Güte in sich wieder zu entdecken. Und wenn ihnen dies gelungen ist, wäre damit das Wichtigste schon erledigt. Nachdem sie ihre Laster und Egoismen abgeschüttelt haben - sozusagen moralisch neu geboren wurden -, würde sich alles andere sozusagen von alleine erledigen. Solche Menschen würden alles richtig machen. Sie würden sich nämlich spontan richtig organisieren und folglich niemanden brauchen, der sie kontrolliert, der bekanntlich immer zum Herrscher über sie geworden ist. Das Gute würde also sogar die Herrschaft überflüssig machen. Die Verwaltung der Dinge würde an die Stelle der Regierung der Menschen treten, wie es Auguste Comte (1798-1857) ausgedrückt hat, der Sozialforscher, dem die Soziologie ihren Namen verdankt.

Es ist eigentlich nur folgerichtig, dass sich die klassisch-sozialistischen Weltverbesserer fast keine Gedanken über etwas anderes als Moral und Werte gemacht haben. In einer Welt, in der keine motivierenden Anreize, keine hierarchische Organisation, keine Befehle und keine Kontrolle nötig wären, würde man auch kein systematisiertes Wissen über Gesellschaft und Wirtschaft benötigen. Man könnte dann auf Sozialwissenschaften völlig verzichten. Die Technikwissenschaften würden völlig ausreichen, aber sogar diese müsste man möglicherweise nicht mehr weiter entwickeln. Die Technik sorgt nämlich vor allem für die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse, die in der perfekten Welt der moralischen Weltverbesserer immer als falsch abgewertet wurden. Man brauchte kein ökonomisches Wachstum mehr, wie man es heute üblicherweise ausdrücken würde. Anstatt zu konsumieren, würde man Freude und Glück in Geselligkeit genießen und die geistigen Bedürfnisse könnte man durch Künste befriedigen.

Die utopischen Sozialisten waren natürlich nicht die ersten Gutmenschen der Geschichte. Es gab schon lange vor ihnen viele Schwärmer, die mit der Moral die Welt radikal verändern wollten und dazu auch Gelegenheit hatten. Vermutlich hat gerade diese Erfahrung die Redensart geschaffen, dass man über den Charakter eines Menschen nichts sagen kann, bevor man ihm nicht Macht gibt. Im Besitz der Macht, haben gerade die Menschen, die sich auf die höchsten Prinzipien der Moral berufen haben, immer versagt und Unheil angerichtet. Und das hat auch seine Logik. Diese Weltverbesserer mussten nämlich immer erfahren, dass sich die realen Menschen nicht moralisch so verbessern lassen, wie sie es sich vorgestellt haben, und dann, um die Macht nicht wieder zu verlieren, haben sie sich gezwungen gesehen, ihre Mitmenschen zu nötigen und zu tyrannisieren. Sie haben es sogar als einen gegen sie persönlich gerichteten Verrat begriffen, wenn die Menschen nicht so sein wollten, wie sie sich das in ihrer Phantasie vorgestellt hatten, und dann haben sie ohne Skrupel nach „gerechten Strafen“ gegriffen. Goethe abwandelnd können wir sagen, dass die moralische Weltverbesserung, an die alle utopischen Sozialisten geglaubt haben, „die Kraft ist, die stets das Gute will, und stets das Böse schafft“.

Marx war sich dieses Versagens der Moral offensichtlich sehr bewusst, so dass ihn die populären Märchen seiner Zeit, wie etwa die von dem edlen Wilden, der nach Rousseaus Auffassung in jedem Menschen schlummert, den man durch moralische Appelle und Projektionen wecken könnte, nicht ein bisschen beeindrucken konnte. Er hat richtig begriffen, dass die Ausbildung und Erziehung, mit der die Gutmenschen der Moderne die Welt verbessern wollten, nur eine Lebenslüge ist, wie etwa die Freiheit beim Bourgeois.

„Die Kommunisten machen weder den Egoismus gegen die Aufopferung noch die Aufopferung gegen den Egoismus geltend ... Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral ... Sie stellen nicht die moralische Forderung an die Menschen: Liebet Euch untereinander, seid keine Egoisten; sie wissen im Gegenteil sehr gut, daß der Egoismus ebenso wie die Aufopferung eine unter bestimmten Verhältnissen notwendige Form der Durchsetzung der Individuen ist. Die Kommunisten wollen also keineswegs ... den „Privatmenschen“ dem „allgemeinen“", dem aufopfernden Menschen zuliebe aufheben.“ ... >

Der Kommunismus sollte trotzdem eine Ordnung sein, welche die Verhältnisse zwischen den Menschen wesentlich verbessert. Auch er sollte einen großen sozialen Fortschritt herbeiführen und bessere Bedingungen für individuelle Verwirklichung schaffen. Wenn aber der Weg dazu nicht über die moralische Aufklärung und Überredung führen soll, wie denn dann? Die Antwort von Marx war noch viel einfacher als die der Moral predigenden utopischen Sozialsten, aber zugleich auch viel grandioser. Laut der neuen Lehre, die Marx stolz als wissenschaftlichen Sozialismus bezeichnete, sollte die Menschheit eine perfekte Ordnung geschenkt bekommen. Das Reich unserer Wünsche und Träume - das sind natürlich nicht Worte von Marx, aber sie sind hier nicht falsch - sollte angeblich schon längst in dem Plan der Geschichte stehen. Weil aber die Geschichte nicht allmächtig ist, kann sie ihr eigenes Ziel nicht direkt und sofort verwirklichen, sondern nur in einem langen dialektischen Prozess. Die Geschichte musste also schrittweise vorgehen. Zuerst musste sie die objektiven Voraussetzungen für die Verwirklichung der von ihr selbst gestellten Ziele schaffen, was laut Marx bedeutet, die Produktivkräfte (materielle Basis) zu entwickeln, oder noch konkreter gesagt: eine bestimmte Menge an Kapital akkumulieren. Der Prozess der Kapitalakkumulation hat sich im Kapitalismus immer weiter beschleunigt, so dass es dem Kapitalismus zu verdanken ist, dass die Voraussetzungen für eine neue Ordnung, also den Kommunismus, geschaffen worden sind. Schließlich wird die neue Klasse der Proletarier bei der Geburt der neuen Gesellschaft nur kurz Hand anlegen müssen, und damit wäre schon ziemlich alles getan, was die Geschichte von uns Menschen erwartet. Mit der Entbindung der neuen Gesellschaft aus dem Schoß des Kapitalismus ist natürlich die soziale Revolution gemeint. Nach der letzten aller sozialen Revolutionen, der proletarischen, wird sich auch unser Bewusstsein radikal ändern.

Der Unterschied zwischen Marx und den utopischen Sozialsten fällt sofort ins Auge. Bei Marx ist nicht die moralische Aufklärung und Überredung, sondern die geschichtliche Entwicklung der Produktivkräfte die wahre und einzige Kraft, die ein neues Bewusstsein herbeiführen kann und wird. Diese Idee hat Marx am griffigsten im Vorwort Zur Kritik der Politischen Ökonomie formuliert, so dass diese Stelle unzählige Male zitiert wurde.

„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“

Marx hat aber nie konkret etwas darüber gesagt, wie der soziale, politische und geistige Überbau der Zukunft aussehen wird, und auch nichts darüber, was für ein Bewusstsein es sein wird, das sich nach der letzten sozialen Revolution entwickeln würde. Da konnte er sich bequem hinter seiner dialektischen Methode verstecken, wonach die Eule der Minerva - die antike Göttin der Weisheit - ihren Flug erst in der Abenddämmerung beginnt, wie es schon Hegel formulierte. Mit dieser blumigen Sprache wird suggeriert, dass sich in der geschichtlichen Entwicklung nichts vorhersagen lässt. Damit ist - heben wir es hervor - eines der wichtigsten Merkmale der dialektischen Methode zum Ausdruck gebracht, auf der auch der ganze „wissenschaftliche Sozialismus“ beruht. Marx erklärt also die zukünftige Entwicklung mit einer Methode, nach der jede Vorhersage überhaupt nicht möglich ist. Um dieser Absurdität die Krone aufzusetzen, rühmt sich die dialektische Methode - die in verschiedenen Variationen der Hauptpfeiler der ganzen deutschen Philosophie ist - die höchste aller wissenschaftlichen Methoden zu sein. Aber das lassen wir jetzt.

Über den geistigen Überbau nach der Revolution hat Marx also nichts gesagt - was völlig im Einklang mit der dialektischen Methode ist -, aber über die materielle Basis schon ein wenig schon. Eigentlich war es gar nicht so wenig, es wurde nur nicht in der strengen Form von Empfehlungen oder Anweisungen präsentiert. Es gibt nämlich einige Schlussfolgerungen, die Marx aus seiner ökonomischen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise (der „materiellen Basis“) gezogen hat, die für ihn den Status von universellen und zeitlosen Gesetzmäßigkeiten haben sollten und die folglich auch für die neue ökonomische Ordnung gelten müssten. Dazu gehört vor allem die Aufhebung des Privatkapitals, das „Wertegesetz“ und natürlich die permanente Akkumulation des Kapitals. Theoretisch haben wir diese Gesetzmäßigkeiten ausreichend erörtert, jetzt wollen wir etwas über ihre Anwendung in der kommunistischen Praxis sagen und sie damit - aus einem bequemen historischen Abstand - kritisch beurteilen.

Das neue Bewusstsein als Folge der Negation (Aufhebung) des privaten Kapitals

Das Kapital zu akkumulieren bedeutete für Marx dasselbe wie die Produktivität zu steigern, und genau darum geht es angeblich bei der ganzen geschichtlichen Entwicklung. Auf ihrem Weg des ständigen Fortschritts musste die Menschheit angeblich zuerst Wohlstand schaffen, und zwar aus einem gewichtigen Grund: Die universelle Verwirklichung der Individuen, die am Ende der Geschichte stehen sollte (perfectibilité de l´homme), wäre nach Marx nie in der Armut, in der die Menschen Jahrtausende lang leben mussten, möglich. Dass die wahre Geschichte der Menschheit die Geschichte der Armut ist, da hat Marx natürlich Recht. Es gab natürlich immer eine kleine Zahl von Menschen an der Spitze der Herrschaftspyramide, die - wenn es zufällig keine Kriege, Naturkatastrophen und Seuchen gab - keine materiellen Nöte kannten, es waren aber nie viele. Nach Marx muss man aber alle Menschen von existenziellen Sorgen befreien, damit man sie wirklich befreien kann. Wie es Adorno griffig zusammenfasste, „es gibt kein gutes Leben im Schlechten“. Marx wirft immer wieder den idealistischen Philosophen vor, dies nicht begriffen zu haben, ja dies nicht begreifen zu können:

„Wir werden uns natürlich nicht die Mühe geben, unsere weisen Philosophen darüber aufzuklären, ... daß es nicht möglich ist, eine wirkliche Befreiung anders als in der wirklichen Welt; mit wirklichen Mitteln durchzusetzen, daß man die Sklaverei nicht aufheben kann ohne die Dampfmaschine; die Leibeigenschaft nicht ohne verbesserten Ackerbau, daß man überhaupt die Menschen nicht befreien kann, solange sie nicht im Stande sind, sich Essen, Trinken, Wohnung, Kleidung in vollständiger Qualität und Quantität zu verschaffen. Die „Befreiung“ ist eine geschichtliche That, keine Gedankenthat.
Wir müssen ... damit anfangen, daß wir die erste Voraussetzung aller menschlichen Existenz, also auch aller Geschichte constatiren, nämlich die Voraussetzung, daß die Menschen im Stande sein müssen zu leben, um „Geschichte machen“ zu können. Zum Leben aber gehört vor allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere. Die erste geschichtliche That ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst.“ ... >

Ohne die Knappheit zu überwinden, wie man es heute sagen würde, war für Marx keine humane Ordnung vorstellbar. Man muss zuerst essen und erst dann philosophieren, war der beliebte Spruch von ihm. Wenn aber der Wohlstand die Kapitalakkumulation voraussetzt, dann müsste schließlich die Geschichte dafür sorgen, dass akkumuliert wird. Gerade zu diesem Zweck sind aus den solidarischen Stammesgesellschaften die unmenschlichen Klassengesellschaften entstanden, so Marx. Nur auf diese Weise, also durch eine Entsolidarisierung und Enthumanisierung des gesellschaftlichen Lebens, konnte eine kleine Gruppe die große Mehrheit zwingen, so viel wie möglich zu arbeiten, damit das Kapital akkumuliert werden kann. Der Kapitalismus hat diesen Prozess der Akkumulation immer weiter beschleunigt, sozusagen perfektioniert, so dass auch die Ausbeutung die brutalste und mörderischste geworden ist. Aber dadurch hat er die Menschheit an die Schwelle der endgültigen Lösung gebracht, also die Voraussetzungen für ein neues Zeitalter geschaffen.

Im Kontext einer solchen geschichtlichen Entwicklung lässt sich schnell herausfinden, warum Marx gegenüber den Kapitalisten nicht nachtragend war. Wenn man ihn liest, bekommt man in der Tat nirgendwo den Eindruck, dass der Kapitalist für ihn ein moralisch verkommenes Wesen wäre. Er ist für Marx in Wahrheit nur der Vollstrecker des Willens der Geschichte. Der Kapitalist raubt zwar seinen Beschäftigten den Mehrwert, aber er muss das vor allem deshalb tun, um das Kapital akkumulieren zu können. Marx meinte auch herausgefunden zu haben, wie es die Geschichte eingerichtet hat, den Kapitalisten - zum Zweck der Akkumulation - raffgierig, rücksichtslos und räuberisch zu machen, auch wenn er von seiner wahren menschlichen Natur her gar nicht so sein will: durch Privateigentum.

„Das Privateigenthum, soweit es, innerhalb der Arbeit, der Arbeit gegenübertritt, entwickelt sich aus der Nothwendigkeit der Akkumulation.“ ... >

Mit dem Privateigentum ließen sich die niedrigsten Motive des Menschen, wie etwa Habgier, Egoismus, Prahlerei, Eitelkeit, Machtsucht, ... ungemein mobilisieren und verstärken und damit der Trieb zur Kapitalakkumulation anstacheln. So wurde aus dem Bösen letztendlich etwas Gutes, was im Sinne der dialektischen Methode ist. Hegel würde so etwas als „List der Geschichte“ bezeichnen. Dieser Prozess der Akkumulation darf natürlich nicht verlangsamt, und schon gar nicht unterbrochen werden, bevor das endgültige Ziel erreicht ist. Aber die Geschichte hat auch dafür gesorgt. Sie ließ die privaten Unternehmen untereinander konkurrieren. Auch die freie Konkurrenz, oder anders gesagt die private Marktwirtschaft, könnte man also auch als eine List der Geschichte verstehen. Der Kapitalist, als ein Mitglied der privilegierten und herrschenden Klasse, ist folglich nicht nur Täter, sondern zugleich auch Opfer. Im Endergebnis ist der Kapitalismus also eine Ordnung, in der jeder gegen jeden kämpft, so wie es schon Hobbes, der erste ökonomische Liberale, gesehen hat: bellum omnium contra omnes!

Im auslaufenden 19. Jahrhundert, da war sich Marx sicher - ohne es genauer zu erklären -, wird die Kapitalakkumulation die Produktivität auf ein Niveau gehoben haben, auf der die Menschheit die hierarchischen und ausbeuterischen Klassenordnungen nicht mehr ertragen werden muss. Dies würde bedeuten, dass das Privateigentum und die vernichtende Konkurrenz endlich aufgehoben werden sollten. Und dann wird sich laut Marx alles schlagartig ändern. Die im Schoße des Kapitalismus bereits weit entwickelte materielle Basis würde einen völlig neuen geistigen Überbau hervorbringen. Die Entfremdung zwischen den Menschen würde verschwinden und der freien Entfaltung jedes Einzelnen würde nichts mehr im Wege stehen:

„Die positive Aufhebung des Privateigentums als die Aneignung des menschlichen Lebens, ist daher die positive Aufhebung aller Entfremdung, also die Rückkehr des Menschen aus Religion, Familie, Staat etc. in sein menschliches d.h. gesellschaftliches Dasein. ... Die Aufhebung des Privateigentums ist daher die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften.“ ... >

Ist es aber wirklich so, dass mit der Beseitigung des Privateigentums auf einen Schlag alle wichtigen Quellen der Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit beseitigt werden können? Es stimmt zwar, dass das Eigentum an Produktionsmitteln enorme Macht in die Hände des Einzelnen zusammenlegen kann, mit der die Menschen drangsaliert, ausgebeutet und erpresst werden können. Wenn man diese Quelle der Macht beseitigt, kann sich aber die Macht immer noch aus andern Quellen nähren und Unheil anrichten. Hannah Arendt (1906-1975), die politische Philosophin, die sich durch die Emigration in die USA vor den deutschen Nazis rettete und sich lebenslang mit den Untaten des Faschismus beschäftigte, sprach sogar von der Banalität des Bösen.

Anders gesagt, es gibt unzählige Gründe, warum wir dem Nächsten „Böses“ antun. Sogar deshalb, weil wir es nur gut gemeint haben. Und sogar dies geschieht gar nicht so selten, im Gegenteil. Die Macht, welche aus dem Privateigentum stammt, für das ganze Unheil der Menschheit verantwortlich zu machen, ist ein ordentlicher Unsinn. Alle bisherigen Erfahrungen sagen, dass die Enteignung des Privateigentums nur dann sinnvoll ist, wenn die sozialen Unterschiede so groß sind, dass die Privatbesitzer buchstäblich alles machen können, was ihnen gefällt. Wenn man aber die Enteignung weiter vorantreibt, wiegen die Vorteile die Nachteile nicht auf. Aber Halt! Welche Nachteile?

Dass die Abschaffung des Privateigentums überhaupt Nachteile haben kann, dies kam Marx nie in denn Sinn. Das überrascht sehr, da er ein exzellenter Kenner der klassischen ökonomischen Theorie war. Er hat sogar Adam Smith sehr geschätzt und gelobt, der jedoch das Privateigentum nie in Frage gestellt hat, im Gegenteil. Er war der festen Überzeugung, dass die Produktionsmittel jemand gehören müssen und ihm auch Gewinn bringen sollen, damit er Sorge für ihre richtige Anwendung trägt und damit ihren Wert schützt. Smith hat dafür gewichtige und großartige Argumente geliefert, aber das haben wir anderswo diskutiert. Jetzt wollen wir nicht in die theoretische Breite der frühliberalen Auffassung vom Privateigentum gehen, sondern die Problematik nur praktisch verdeutlichen.

In der privaten Marktwirtschaft wurde bekanntlich nie verboten, dass die Beschäftigten die Produktionsmittel kollektiv besitzen. Wenn man bedenkt, dass diese dann niemandem einen Profit zu zahlen brauchen, könnte man daraus schließen, dass dies ein großer Vorteil beim Wettbewerb sein müsste. Es hat sich aber herausgestellt, dass solche Unternehmen trotzdem nie erfolgreich waren. Die Verfechter des Privateigentums haben diese unbestrittenen Tatsachen schon immer als Argument gegen jede Art des nicht privaten Eigentums benutzt, aber die sozialistischen Weltverbesserer und Reformer wollten davon lange nichts wissen. Erst der sozialdemokratische Theoretiker und Politiker Eduard Bernstein (1850 - 1932) begann in einer Artikelserie „Probleme des Sozialismus“ darauf aufmerksam zu machen. Später hat er seine Schlussfolgerungen in einem Buch Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie systematisch dargestellt, das zum roten Tuch für alle Marxisten und Kommunisten geworden ist. Der endgültige Bruch zwischen den Marxisten bzw. Kommunisten und Sozialdemokraten folgte bald. Die moderne Fabrik, schreibt Bernstein in seinem Buch, erzeuge keine größere Disposition für die genossenschaftliche Arbeit, sondern umgekehrt:

„Man greife, welche Geschichte des Genossenschaftswesens man will, heraus, und man will überall finden, dass sich die selbstregierende genossenschaftliche Fabrik als unlösbares Problem herausgestellt hat, dass sie, wenn alles übrige passabel ging, am Mangel an Disziplin scheiterte. ... Für die Aufgaben, welche die Leitung eines Fabrikunternehmens mit sich bringt, wo Tag für Tag und Stunde für Stunde prosaische Bestimmungen zu treffen sind und immer Gelegenheit zu Reibereien gegeben ist, da geht es einfach nicht, dass der Leiter der Angestellte der Geleiteten, in seiner Stellung von ihrer Gunst und ihrer üblen Laune abhängig sein soll. Noch immer hat sich das auf die Dauer als unhaltbar erwiesen und zur Veränderung der Formen der genossenschaftlichen Fabrik geführt. Kurz, wenn die technologische Entwicklung der Fabrik auch die Körper für die kollektivistische Produktion geliefert hat, so hat sie die Seelen keineswegs in gleichem Maße dem genossenschaftlichen Betrieb nähergeführt. Der Drang zur übernahme der Unternehmungen in genossenschaftlichen Betrieb mit entsprechender Verantwortung und Risiko steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Größe. Die Schwierigkeiten aber wachsen mit ihr in steigender Proportion. ... Die Reibungen zwischen den verschiedenen Abteilungen und den so verschiedenen gearteten Kategorien von Angestellten würden kein Ende nehmen. Dann würde sich aufs Klarste zeigen, was Cunow bestreitet, dass das Solidaritätsgefühl zwischen den verschiedenen, nach Bildungsgrad, Lebensweise etc. unterschiedenen Berufsgruppen nur ein sehr mäßiges ist.
ähnlich die Erfahrungen der kommunistische Kolonien. Diese letzteren gedeihen in faktischer oder moralischer Einsiedelei oft längere Zeit unter den denkbar ungünstigsten Umständen. Sobald sie aber zu einem größeren Wohlstand gelangen und mit der Außenwelt in intimeren Verkehr treten, verfallen sie schnell. Nur ein starkes religiöses Band oder sonstiges, eine trennende Wand zwischen ihnen und der umgebenden Welt aufrichtendes Sektierertum hält diese Kolonien auch dann noch zusammen, wenn sie zu Reichtum gelangt sind. Dass es dessen aber bedarf, dass die Menschen in irgendeiner Art versimpeln müssen, um sich in solchen Kolonien wohl zu fühlen, beweist, dass sie nie die allgemeine Form genossenschaftlicher Arbeit werden können.“ ... >

Auch nach der proletarischen Revolution hat sich diesbezüglich nichts geändert: es ist kein Wunder geschehen. Was schon im Kapitalismus vereinzelt nie funktioniert hat, wollte auch im Kommunismus nicht funktionieren. Nach misslungenen Versuchen mit den Räten, also mit dem Modell der selbst verwalteten Betriebe, das Lenin kurz vor der Oktoberrevolution in Staat und Revolution entworfen hat, blieb  den Kommunisten nichts anderes übrig, als es der zentralisierten Administration zu überlassen, für den Erhalt des Kapitals zu sorgen. Das private Kapital wurde nicht gesellschaftlich, sondern staatlich.

Wenn man über das Buch Staat und Revolution nachdenkt, fragt man sich vielleicht, warum Lenin nichts davon wissen wollte, was Bernstein (Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie) gegen die genossenschaftliche Arbeit in den industriell entwickelten Wirtschaften vorgebracht hat. War er einfach nur naiv? Wie viele Revolutionäre hat auch er zwar nie eine Produktionshalle von innen gesehen, aber das kann zumindest nicht die ganze Erklärung sein. Die Schlussfolgerungen von Bernstein waren nämlich nicht über jeden Zweifel erhaben. Lenin hätte das Versagen der gemeinschaftlich verwalteten Geschäftsbetriebe mit der kapitalistischen Umgebung erklären können. Solche Erklärung wäre nicht unlogisch und schon gar nicht realitätsfremd. Es bleibt unbestritten, dass die genossenschaftlichen Betriebe von privaten Unternehmen bedrängt oder gar bekämpft wurden. Möglicherweise hat Lenin diesen Faktor weit überbewertet, so dass er sich gut vorstellen konnte, dass in einer Wirtschaft ohne private Firmen die genossenschaftlich verwalteten Geschäftsbetriebe erfolgreich funktionieren werden. Wir wissen natürlich nicht, ob er wirklich so gedacht hat, aber ihm nur eine ideologische und dogmatische Voreingenommenheit vorzuwerfen, wäre noch weniger glaubhaft. Er war bekanntlich ein sehr pragmatischer Mensch, der folglich keine Probleme hatte, sein Experiment mit den Räten zu beenden, als es ihm klar wurde, dass die laissez-faire Wirtschaft ohne Privatkapital - wie man die Marxsche Vorstellung über die kommunistische Wirtschaft am Ehesten bezeichnen könnte - auch nicht überlebensfähig ist.

Ein weiterer Versuch mit den selbstverwalteten Betrieben (und der direkten Demokratie) haben später die jugoslawischen Kommunisten unternommen, und sie sind ebenfalls gescheitert. Dieser Versuch ist zugleich ein Beweis, dass der Kommunismus keine Probleme mit den privaten Freiheiten haben musste, und was die Demokratie bzw. die direkte Demokratie betrifft, da konnte dieser „selbstverwaltete Sozialismus“ den Kapitalismus sogar um Längen schlagen. Was jedoch die Effizienz der nichtprivaten kollektiv verwalteten Betriebe angeht, hat der Kommunismus auch hier versagt. Die ganze Erfahrung des Kommunismus hat also die ökonomischen Einwände, die Bernstein gegen Marx vorgebracht hat, überzeugend bestätigt. Um es aber richtig zu stellen, soll gleich hinzugefügt werden, dass die Verdienste von Bernstein nicht in einer originellen Argumentation zu suchen sind, sondern dass es ihm gelungen ist, das Eigentum zum Thema zu machen. In der Arbeiterbewegung und bei den sozialistischen Denkern wurde über das Eigentum nie ernsthaft diskutiert. Man war sich sicher, dass man es abschaffen muss, was dann passieren sollte, darüber hat man sich nie Gedanken gemacht. Das war auch bei Marx der Fall, was ein bisschen seltsam ist. Er war vor allem ein Philosoph, so dass ihm die gewichtigen Argumente gegen das kollektive Eigentum, die noch Aristoteles in seiner Auseinandersetzung mit Platon vorgebracht hat, bekannt sein mussten. Und er war natürlich auch Ökonom, der die Frühliberalen gut kannte. Von ihnen hätte er wissen können, dass das private Eigentum weder ein Klau noch ein Verdienst ist, sondern es ist der Preis oder die Strafe - wie man es nimmt -, die wir für unsere menschlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten zahlen müssen. Die Frühliberalen haben auch einiges über die Pflichten des Eigentums, über seine Beschränkung und über die Bedingungen des Erwerbs des Eigentums gesagt, was immer noch sehr aktuell ist, aber das ist nicht hier das Thema.

Zur Frage des Eigentums - damit aus dem Gesagten nicht falsche Vermutungen entstehen - soll noch etwas hinzugefügt werden. Der Leser sollte aus dem bereits Gesagten nicht annehmen, dass dank Bernstein die sozialdemokratischen Denker und Ökonomen eine fruchtbare Debatte über das Eigentum begonnen hätten. Die Ablehnung des kollektiven Eigentums war wirklich alles, was der Sozialdemokratie über das Eigentum je eingefallen ist. Es gab auch später keine interessanten, geschweige fruchtbaren Überlegungen über das Eigentum, so dass die Sozialdemokratie weit unter das theoretische Niveau der Frühliberalen gefallen ist. Als dann in den letzen Jahrzehnten die Sozialdemokraten an die Macht gekommen sind, sind aus ihnen blinde ideologische Verfechter des bedingungslosen und uneingeschränkten Privateigentums geworden. Zugleich haben sie im Namen der ökonomischen Effizienz - so wie es die neoliberale Theorie schon immer verlangte - auf alle Werte verzichtet. Die alten Vorwürfe der Kommunisten, die Sozialdemokraten hätten die Arbeiterbewegung verraten, haben sich tatsächlich bewahrheitet. So ist die Sozialdemokratie zum Inbegriff der theoretischen und ethischen Leere geworden. Der dümmste Spruch der ganzen Geschichte der Arbeiterbewegung, wer eine Vision hat, der sollte den Arzt besuchen, stammt gar nicht zufällig von einem prominenten Sozialdemokraten und eignet sich wirklich wie kein anderer, die historische Rolle der ganzen Bewegung zu kennzeichnen. 

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