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   Teil 2:  
    Wissenschaftliche Revolution versus „normale“ Wissenschaft  
     

Man nimmt heute nur ungern und selten zur Kenntnis, dass sich die Wirtschaftswissenschaft bei ihrem Entstehen gleichermaßen wie die Naturwissenschaften den empirischen Tatsachen verpflichtet gesehen hat, danach aber mit ihrem neoliberalen Ansatz diesen Standpunkt in einem scharfen Schwenk verlassen hat und zur Spiegelung ihrer selbst geworden ist. Die Skurrilität dieser Entwicklung lässt sich in der Tat schwer begreifen. Dass dazu auch verschiedene politische und ideologische Umstände beigetragen haben, lässt sich sicherlich nicht leugnen, aber wir lassen sie jetzt einmal bei Seite. Sie alleine erklären nicht alles. Die wichtigsten Ökonomen, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts um den neuen (dritten) theoretischen Ansatz der liberalen Theorie verdient gemacht haben, standen bestimmt nicht in einer direkten Abhängigkeit von partikulären Interessen irgendwelcher sozialen Gruppen. Sie waren nicht die Gefangenen der wirtschaftlichen Interessen, sondern eher Opfer der naiven rationalistischen Philosophie, mit der die europäische Moderne begonnen hat.

Dieser Rationalismus hat sich zweifellos große Verdienste um die gesamte kulturelle Entwicklung der westlichen Gesellschaften erworben - wer will das bestreiten -, aber nicht weniger sicher ist auch, dass er dabei so manchen Irrtum der Metaphysik der letzten zwei Jahrtausende mit sich geschleppt hat. Er hat vor allem das logische und mathematische Denken, mit dem die neu entstandenen modernen Naturwissenschaften ihre großen Erfolge erzielt haben, verabsolutiert und damit eine falsche Vorstellung in die Welt gesetzt: die Naturwissenschaften würden mit ihren logischen und mathematischen Methoden den Tatsachen auf den Grund ihres „Seins“ oder „So-Seins“ gehen. Das tun sie aber nicht. Ihre wahre Aufgabe und ihre einzige Fähigkeit besteht darin, Tatsachen vorherzusagen und zu verwirklichen, und das ist etwas völlig anderes. Ein Wissenschaftler ist jemand, der weiß, was unter bestimmten Umständen geschehen wird, nicht aber auf welche Weise die Wirklichkeit an sich aufgebaut ist, und schon gar nicht ist er derjenige, der enträtselt hat, zu welchem „inneren“ Sinne und „letztem“ Zweck die Wirklichkeit existiert. Die heroische Vorstellung, die den überzeugten Rationalisten am Anfang der Moderne vor Augen schwebten, man würde mit Hilfe der Ratio die Beschaffenheit, die Funktionsweise und sogar den Sinn der Wirklichkeit enträtseln, hat sich als ein großer Irrtum erwiesen. Zu tief wollen wir jetzt in diese erkenntnistheoretische Problematik aber nicht einsteigen. Sie ist nicht unser eigentliches Thema. Wir gehen nur so weit, dass wir einige für uns wichtige erkenntnistheoretischen Konsequenzen aus den Irrtümern der alten Rationalisten offen legen, die für die ökonomische Theorie, insbesondere für die neoliberale Gleichgewichtstheorie, relevant sind. Wir beginnen damit, dass wir uns von den bedeutendsten Vertretern des Rationalismus der frühen Neuzeit sagen lassen, welche Ansprüche sie an die Ratio gestellt haben.

Aus dem philosophischen System von René Descartes (1596-1650) lässt sich deutlich erkennen, auf was es am Anfang der Moderne beim Rationalismus ankam. Descartes kennt keinen Erklärungspluralismus und verlangt eine bedingungslose Ausschaltung aller individuellen, psychologischen, sozialen und historischen Einflüsse. Das sichere Wissen ist für ihn ein in göttlicher Vernunft voll entwickeltes System, das eine für alle Ewigkeit vollendete und vorgeformte logische Einheit darstellt. Erkenntnis ist damit auf keinerlei Weise ein menschlicher Beitrag oder eine menschliche Schöpfung. Sie offenbart sich spontan und intuitiv, sobald sich die verhüllenden Schleier der Gutdünken und Vorurteile gelichtet haben, do dass sich der lernende und erkennende Mensch folglich nur damit beschäftigen soll, die Hindernisse für die Entstehung neuer Erkenntnisse zu beseitigen. Hat er seinen Geist von diesem Ballast befreit, wird das wahre Wissen in seiner Vernunft Platz greifen, so wie das Licht der Sonne, wenn diese plötzlich hinter den vom Wind verscheuchten Wolken hervorbricht. Die so gewonnene Wissenschaft als lineares Fortschreiten vom Einfachen zum Komplizierten, von Evidenz zu Evidenz und von Gewissheit zu Gewissheit spiegelt die vollkommene göttliche Vernunft wieder, so wie es Gottes Gnade zulässt. Wäre die Wirklichkeit nicht ein abgeschlossenes logisches Ganzes, also „das, was in sich ist und durch sich begriffen wird“, folgert ein anderer der abendländischen Heroen der Vernunft Baruch de Spinoza“ (1632-1677), so wäre nicht einmal die Existenz der Wirklichkeit selbst möglich. Die Auffassung von der Identität von Sein und Denken hat später Georg W. F. Hegel (1770-1831), einer der fantasiereichsten abendländischen Konstrukteure rationalistischer Systeme mit universalistischem Anspruch, unmissverständlich mit seinem berühmt-berüchtigten Satz zum Ausdruck gebracht: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“.... > Gottfried W. Leibniz (1646-1716) bemühte sich sogar nachzuweisen, dass sich auch alle moralischen Phänomene formallogisch erschließen und klären lassen. Er hatte sich sogar vorgenommen, mit Hilfe der Ratio das alte theologische Problem der Theodizee zu lösen: wie sich nämlich der Glaube an einen allwissenden, allgütigen und allmächtigen Gott mit dem Vorhandensein des Übels und des Bösen in der Welt vereinbaren lässt. Gottes Absicht sei gewesen, so meinte Leibniz es genau zu wissen, die vollkommenste aller Welten zu schaffen, und dies wäre dann eine Welt, in der die größte Vielfalt, also die größtmögliche Menge von Tatsachen, auf die einfachstmögliche Weise hervorgerufen worden wäre. Gott lag es am Herzen, sozusagen die logischste aller möglichen Welten zu schaffen. Dies ist ihm nach Leibniz’ Ansicht auch gelungen, und weil in einer so rationalen Welt das Übel und das Böse keinen Platz haben können, sind sie nur Abwesenheit des Guten und damit real gar nicht existent.

Mag man diese monumentalen spekulativen Systeme immer noch bewundern, ihre Berechtigung die Realität zu deuten haben sie schon längst verloren. Der uneingeschränkte Glaube an die Ratio der Spätrenaissance bzw. der frühen Neuzeit hat nur zu metaphysischen Leerformeln und realitätsfremden Spekulationen geführt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir auf die Ratio verzichten können; wir müssen uns nur von den alten Irrtümern des Rationalismus befreien, von denen sich zwei als besonders verhängnisvoll erwiesen haben, vor allem für die ökonomische Theorie.

Der ontologische Irrtum des alten Rationalismus

Der Glaube der Rationalisten, dass der logische Aufbau unseres Denkens mit der Wirklichkeit „so wie sie ist“ gleichzusetzen wäre, also die Ontologisierung des Denkens, konnte auch deshalb die Köpfe der großen Denker am Anfang der Moderne so vollständig erobern, weil der Zeitgeist von den Erfolgen der klassischen Physik fasziniert war. Weil diese Theorie empirisch so erfolgreich war, wie keine Erfindung des menschlichen Geistes davor, hat man nicht der Versuchung widerstanden, in ihr die „wahren“ Codes und Muster zu sehen, nach denen die Wirklichkeit „von innen“ aufgebaut sei. Damit wurde aus der Weltanschauung der klassischen Physik ein partikel-mechanischer Ontologismus. Auch später dienten die Erfolge der Naturwissenschaften als Inspiration für neue Ontologismen. Deshalb wird manchmal sogar behauptet, dass die Philosophie ihre Fortschritte nie dem eigenen Verdienst zu verdanken habe, sondern dass „die großen Systeme in der Geschichte der Philosophie ... alle aus der Reflexion über die wissenschaftlichen Entdeckungen ihrer Autoren oder über eine wissenschaftliche Revolution in ihrer oder der dieser unmittelbar vorausgehenden Epoche hervorgegangen sind“.... > Aber schon damals, als der Rationalismus noch die uneingeschränkte Unterstützung der Physik genossen hatte, wie es später nie mehr der Fall sein sollte, haben einige vorsichtige Denker Einspruch erhoben. Somit haben sie sich um eine Philosophie bzw. um eine Erkenntnistheorie verdient gemacht, die uns richtige Antworten bietet, was eine Wissenschaft ist, und wie sie erfolgreich sein kann.

Diesem anmaßenden Rationalismus, der „in Gegenstände einzudringen sucht, die dem Verstand durchaus unzugänglich sind“, hat schon David Hume (1711-1776) mit seinem Skeptizismus eine Absage erteilt. Immanuel Kant (1724-1804) hat sich von den scharfsinnigen Argumenten dieses Skeptizismus überzeugen lassen und versuchte herauszufinden, wo dann die Grenzen der Erkenntnis liegen. Wenn es unserem Denken unmöglich sei, zur Wirklichkeit durchzudringen, meinte er, würden wir „besser fortkommen, wenn wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten“und nicht umgekehrt (Kritik der reinen Vernunft). Daraus folgt unmittelbar, dass Tatsachen nicht als objektiv und unabhängig vom Subjekt gegeben sein können. Die Tatsachen, die sich im üblichen Sinne des Wortes entdecken ließen, wie etwa bei der Entdeckung eines Steinpilzes bei beiseite geschobenem Laub, kann es also nicht geben. Die Sinneseindrücke fügen sich nicht spontan und automatisch zu Tatsachen. Wenn man Sinneseindrücke sortiert, organisiert und interpretiert, verwendet man explizit oder implizit bestimmte Muster, die nicht aus der Realität selbst, sondern aus uns stammen: aus der Art und Weise wie wir denken. Der denkende Mensch ist schließlich derjenige, durch den die Tatsachen sozusagen in die Natur herangetragen bzw. hineingelegt werden, und zwar in einer bestimmten Reihenfolge: „Zuerst ein Widerstandsaviso im chaotischen anfänglichen Denken, dann ein bestimmter Denkzwang, schließlich eine unmittelbare wahrzunehmende Gestalt.“... > Was wir für die Tatsachen halten, ist ein Ergebnis unserer Suche nach einer Lösung, unserer Entscheidung wie wir Sinneseindrücke begrifflich erfassen und logisch ordnen; wie wir aus dem, was William James die „rasende brausende“ Realität nennt, die unsere Sinne ununterbrochen irritiert, sozusagen Grenzen (differentia specifica) setzen. „Jede Grenze ist vielleicht nur ein willkürlicher Einschnitt in ein unendlich bewegliches Ganzes“... > und es ist unsere Entscheidung, wie wir bestimmte Sinnesreize aus ihrer konkreten Verbundenheit zu Tatsachen verfestigen. Jede unserer Tatsachen schließt immer eine theoretische Deutung in sich ein, sie ist sozusagen theoretisch imprägniert, wobei unsere theoretische Freiheit beschränkt ist, weil „die Umwelt gleichwohl ein gewisses Minimum an Richtigkeit erzwingt, bei Strafe des Untergangs.“... > Mag also eine wissenschaftliche Theorie praktisch auch noch so erfolgreich sein, sind ihre analytischen Begriffe und Relationen trotzdem keine Wahrheiten über die „eigentliche“ Beschaffenheit der Wirklichkeit. Die Wahrnehmung der Welt ohne irgendeine Art von theoretischer Brille ist nicht möglich. Tatsachen und Theorien sind miteinander verschlungen.

Die Auffassung, wonach Kenntnisse und Tatsachen nur Formen sind, die aus uns stammen, hat später der Kantianer Hans Vaihinger (1852-1933) weiter entwickelt. Er hat gezeigt, dass es eine Wirklichkeit des Gegebenen gar nicht geben kann, sondern nur eine Wirklichkeit des „Als-Ob“. „Wir müssen einen wirklichen Bruch zwischen der sinnlichen und der wissenschaftlichen Erkenntnis hinnehmen“,... > also zwischen dem, was wir über die Tatsachen wissen und ihrem autonomen (ontologischen) Status, den wir nie erkennen werden. Folglich sind die für die Deutung der Realität erfolgreichen Theorien keine Offenbarungen durch die Vernunft, sondern vielmehr Erfindungen, Konstruktionen, also Phantasieprodukte: sie seien nur Fiktionen. Indem sie den lebenspraktischen Zwecken erfolgreich dienten, indem sie uns das Wie unseres Handelns erklärten, sollten wir mit ihnen zufrieden sein, auch wenn sie die Wirklichkeit nicht so wiedergeben würden, wie sie „an sich“ sei, sondern nur so, wie sie sich unseren Sinnen zeige. Dies ist zweifellos der Standpunkt der heutigen Naturwissenschaften. Das logische Folgern, im Gegensatz zu dem, was die abendländische philosophische Tradition seit der Antike nahe legt, ist also kein Treppenhaus, in dem man zu den theoretischen „Tiefen“ der speziellen Wissenschaften hinunterklettern kann - zu den letzten Ursachen des „Seins“ oder des „So-Seins“. „Die Sätze der Logik sind Tautologien ... sagen also Nichts ... [sie sind nur] die formalen - logischen - Eigenschaften der Sprache“.... > Es war aber ein langer Weg zu dieser undogmatischen Einstellung. „Die Suche nach Gewißheit mußte sich erst in den philosophischen Systemen der Vergangenheit ausleben, eher wir in der Lage waren, eine Auffassung von Erkenntnis anzunehmen, die alle Ansprüche auf ewige Wahrheit aufgibt.“... > Die heftigen Vorwürfe, die sich rationalistische Philosophen von Anfang an von Irrationalisten anhören mussten, dass sie fälschlicherweise „Wörter für Begriffe, und Begriffe für die Dinge selbst“ genommen hätten (Johann Georg Hamann, 1730-1788), haben sich damit weitgehend als richtig erwiesen.

Besonders peinlich für die neuen Liberalen Walras, Jevons und Menger ist die Tatsache, dass sie die Wirtschaftswissenschaft auf den naiven Weg des partikel-mechanischen Ontologismus geführt haben, als die Naturwissenschaften schon begonnen haben diesen Ontologismus endgültig zu verlassen. Vor allem Menger, dessen Erkenntnistheorie stark an eine merkwürdige Mischung von Mathematik und Mystik der antiken Philosophie von Pythagoras erinnert, wiederholt alle Fehler der alten Metaphysik in derart naiver Weise, dass sich seine Auffassung als ein Vorbild dafür studieren lässt, was die ökonomische Theorie nicht sein darf. Der Philosoph Karl R. Popper (1902-1994) spricht völlig zu Recht über die verhängnisvolle Vorliebe für die ontologischen Denkweisen („essentialistischen Methoden“) in den Sozialwissenschaften, welche die Naturwissenschaften schon längst überwunden haben. Und er folgert: „Dies ist meiner Meinung nach einer der Hauptgründe ihrer Rückständigkeit. Aber viele Denker, die diese Situation bemerkt haben, fällen ein anderes Urteil. Sie halten den Unterschied der Methoden für notwendig, und sie glauben, daß er eine Šwesentliche‹ Verschiedenheit zwischen den ŠNaturen‹ dieser beiden Untersuchungsfelder widerspiegle.“... > Damit nehmen sie sich das Recht, nicht die „Oberfläche“ der Wirklichkeit untersuchen zu müssen, also die Tatsachen zu beachten, sondern ihre innere Beschaffenheit, die so genannte an sich oder a priori Natur. Es heißt, man müsse gerade auf diese Weise verfahren, weil man damit nach dem forscht, was die Tatsachen trägt (universalia ante res). Aber man kommt auf diesem Holzweg nirgendwo hin. „Die Metamorphosen, die Listen und die Strategien des Objekts übersteigen den Verstand des Subjekts. Das Objekt ist weder das Double, noch das Verdrängte des Subjekts, es ist weder sein Phantasma, noch seine Halluzination, weder sein Spiegel, noch sein Reflex, sondern es verfügt über seine eigene Strategie, es ist im Besitz einer Spielregel, die dem Subjekt unzugänglich ist.“... >

Das Endergebnis der neoklassischen ökonomischen Theorie, die so selbstbewusst und hochmütig ihre abstrakten Konstrukte für die inneren Bausteine der Wirklichkeit hält, bleibt daher eine in praktischer Hinsicht sterile und autistische Theorie, die sich in abstrakter Symbolik verloren hat und die, wenn sie über die Realität redet, nicht über sie informiert, sondern nur Aussagen trifft, die keinen praktischen Informationsgehalt haben. Solche Theorien begründen immer weniger immer besser, bis sie schließlich nichts begründen - das allerdings ganz sicher. Man erkauft sich „Unwiderlegbarkeit“ auf Kosten der praktischen Relevanz. Über solches „Wissen“ hat bereits der erste große empirische Philosoph Francis Bacon (1561-1626) heftig gespottet und es als „Professorenweisheit“ (sapientia professoralis) bezeichnet: „Worte müßiger Greise für unerfahrene Jünglinge. ... Zum Schwätzen bereit, aber zum Zeugen unfähig; denn ihre Weisheit ist zwar reich an Worten, aber arm an Werken“.

Der universalistische Irrtum des alten Rationalismus

Ohne Mathematik gäbe es auch keine Naturwissenschaften, wird immer wieder gesagt, und dies zu Recht. Damit ist aber nicht gemeint, dass die Mathematik eine völlig abstrakte und selbstständige geistige Tätigkeit ist, die den Wissenschaften immer vorausgeht. Die Mathematik und die Wissenschaften bedingen sich gegenseitig und oft haben beide durch gemeinsame Anstrengungen Fortschritte gemacht. Erinnern wir uns daran, dass die Entwicklung der modernen Mathematik im Schoße der neuen Naturwissenschaften begonnen hat. Newton erfand zum Beispiel für seine physikalischen Theorien die dazu passende Mathematik (etwa die Differenzialrechnung) noch selber. Auch später haben Naturwissenschaftler nicht gerade selten wichtige Entdeckungen in der Mathematik gemacht. Der Gedanke, dass zwischen den als erfolgreich geltenden mathematischen Konstruktionen und der Realität ein direkter und eindeutiger Zusammenhang bestehe, dass die Mathematik also etwas über zu Grunde liegende reale Gegebenheiten der Wirklichkeit aussage, war in der Tat sehr verlockend. Diese Rationalisten haben die bekannte Metapher des großen Empirikers Galileo Galilei (1564-1642), dass „das Buch der Natur“ in mathematischen Lettern geschrieben sei, buchstäblich genommen. Und weil die Mathematik im Gegensatz zu anderen Denkweisen, bei denen auf Schritt und Tritt sprachliche Unklarheiten und begriffliche Mehrdeutigkeiten zu finden sind, eine eindeutige Konsistenz aufweist, schien manchen die Folgerung zwingend, die Mathematik müsse die letzte und sicherste Grundlage für eine Einheitswissenschaft (mathesis universalis) sein. Die Wissenschaftler sollten folglich nur Mathematik studieren und uns von ihr führen lassen.

Wenn man sich in die Zeit dieser unangefochtenen Mathematikgläubigkeit hineinversetzt, kann man gut verstehen, dass sich auch die ökonomische Theorie gerade diesem Rationalismus, der auf der Mathematisierung der Welt beruht, nicht hätte entziehen können. Völlig unverständlich ist dagegen, warum sich die Nachfolger von Walras, Jevons und Menger immer noch von ihm nicht befreien können. Ein bisschen merkwürdig dabei ist die Tatsache, dass „die Ökonomie keinen einzigen Beitrag zur reinen Mathematik geleistet hat ... Alle in der Ökonomie angewandten mathematischen Hilfsmittel wurden von Mathematikern und nicht von Ökonomen entwickelt“.... >

Die Entwicklung der modernen Mathematik wurde zwar zuerst in den Naturwissenschaften und von den Naturwissenschaftlern vorangetrieben, im Laufe der Zeit hat sich dies aber geändert. Allmählich und immer deutlicher hat sich die Mathematik von der dienenden Rolle in der klassischen Physik emanzipiert und sich als ein eigenständiges, rein logisches und symbolisches System etabliert. Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde diese Entwicklung von einer zuvor nie gekannten Dynamik vorangetrieben. Es stellte sich dabei heraus, dass sich auch in der Mathematik mit gleicher analytischer Strenge abgeleitete Schlussfolgerungen, die abhängig von im Voraus angenommenen Axiomen sind, untereinander widersprechen können. Erinnern wir uns nur an das bekannte Beispiel, dass nach der klassischen euklidischen Geometrie die Winkelsumme im Dreieck exakt 180 Grad beträgt, was in der nicht-euklidischen Geometrie keineswegs der Fall sein muss. Und das, obwohl jede dieser Geometrien für sich genommen, ein widerspruchsfreies und zusammenhängendes logisches System ist: ein System innerhalb dessen es keine Mittel gibt, sowohl eine Aussage als auch ihre Negation zu beweisen. Daraus folgt, dass der Mensch nicht nur auf eine einzige Weise logisch streng und schlüssig (konsistent) denken kann, nicht einmal in der Mathematik. Auch mathematische Begriffe und Relationen sind also keine letzten Instanzen der Erkenntnis und führen nicht zur letzten Begründung (fundamentum inconcussum).

Dass uns gerade die Mathematik diese erkenntnistheoretische Lektion erteilen würde, hätte sich kein abendländischer Denker - sofern er sich der rationalistischen und empirischen Philosophie verpflichtet sah - je vorstellen können, geschweige denn, dass er es gewagt hätte, es vorauszusagen. Spätestens nach der Entdeckung der Paradoxien der Mengenlehre (Kurt Gödel, Alfred Tarski, Bertrand Russell) hat man sich jedoch endgültig von dem liebgewordenen Dogma verabschieden müssen, die Mathematik sei die letzte Provinz der Universalität - ein in sich geschlossenes System. Die Vorstellung von Rationalität als deduktives Schließen von gesicherten Fundamenten aus ist undurchführbar. Die Fatale Unvollkommenheit der scheinbar in sich geschlossenen logischen Systeme besteht also darin, dass sie ihre eigene Geschlossenheit und Widerspruchsfreiheit nicht aus sich selbst heraus beweisen können. Auch in dieser Hinsicht muss man anerkennen, dass David Hume dies zumindest geahnt hat. Er hat zum Beispiel bestritten, dass „Geometrie eine hinreichend exakte Wissenschaft ist“ (Abriss eines neuen Buches). Später schreibt Einstein: „Wenn man seine Bücher liest, wundert man sich, daß nach ihm viele und zum Teil hochgeachtete Philosophen so viel Verschwommenes haben schreiben und dankbare Leser finden können“ (Mein Weltbild). Aber auch Hume konnte sich nicht konkret eine andere Geometrie oder Logik vorstellen, als die seiner Zeit. Kein Wunder, dass Kant später in die alte Denkweise zurück gefallen ist und die zu jener Zeit einzig vorstellbare Geometrie und Logik zu einer absoluten Erkenntnisform hochstilisierte, die das Subjekt schon vor aller Erfahrung (a priori) besitzen würde.

Wie enttäuschend es auch sein mag, wir müssen uns also heute bescheiden und zugeben, dass unser Wissen keine einheitliche Basis hat und dass unser logisches Denken nicht nur auf eine einzige Art und Weise möglich ist. Eine unité de doctrine, ein einziges logisches System allgemeiner Relationen, in das sich jedes Element unserer Erfahrung, dessen wir uns als Erlebnis, Wahrnehmung, Wille oder Gedanke bewusst sind, hineininterpretieren lässt, gibt es nicht. „Die traditionelle Lehre von der absoluten und unveränderlichen Vernunft stellt nur eine Philosophie dar, und diese Philosophie ist überholt.“... > Der Rationalismus vom Anfang der Moderne erwies sich damit als ein säkularisierter Antipode der christlichen monotheistischen Religion: Weil Gott einer ist, soll auch die logische Wahrheit nur eine sein dürfen, sie soll in sich geschlossen und allverbindlich sein. Diesen rationalistischen Glauben an die Große Weltformel hat Gaston Bachelard (1884-1962) treffend als „geschlossener Rationalismus“ bezeichnet. Man kann ihn auch als Monologizismus bezeichnen.

Der offene Rationalismus des neuen wissenschaftlichen Geistes

Es klingt fast wie Hohn, dass der Rationalismus der Moderne, der die logische Einheit des Universums dadurch nachzuweisen glaubte, indem er Denken und Mathematik gleichsetzte, gerade von der Mathematik im Stich gelassen worden ist. Für die Mathematik selbst war aber diese Emanzipation von der Realität der klassischen Mechanik ein großer Schritt nach vorne. Dadurch haben sich ihr völlig neue, bis dahin ungeahnte Wege geöffnet. Erst danach ist klar geworden, wie weit die Welt der Abstraktionen die Welt der sinnlichen Erfahrungen an Ausdehnung und Vielfalt übertreffen kann, und wie offen das rationale Denken ist. „Logik, statt wie früher die Schranke für Möglichkeiten zu sein, ist der große Befreier der Einbildungskraft geworden, indem sie zahllose Möglichkeiten bot, die dem unkritischen gesunden Menschenverstand verschlossen waren.“... > So hat sich das Verhältnis zwischen dem Logischen und dem Wirklichen grundlegend verändert. Dort, wo früher nur eine einzige richtige Alternative postuliert wurde, tauchen nun immer weitere, in gleichem Maße gut durchdachte, oder wenn man so will „analytisch strenge“ Alternativen auf. Dies ist eben der offene Rationalismus des neuen wissenschaftlichen Geistes, der vom Standpunkt „warum nicht“ (Gaston Bachelard) oder sogar „anything goes“ (Paul Feyerabend) ausgeht, im Gegensatz zu dem alten geschlossenen Rationalismus, der sich lebenslang auf autoritären Dogmatismus und auf voreilige Abstraktionen seiner vorlauten Jugend beruft.

Im Lichte dieser Erkenntnis war der rationalistische Glaube der Moderne, nach dem die Realität mit Hilfe einer bestimmten Zahl universal geltender logisch-mathematischen Muster in jedem ihrer Details zu reflektieren und zu erklären ist, nicht mehr zu retten. Die Auffassung, die Zahlen- und Symbolstruktur der Mathematik liefere das vollständige Abbild der Realität, hat sich buchstäblich in nichts aufgelöst. Es gibt mehrere gewichtige Konsequenzen, die sich aus dieser erkenntnistheoretischen Schlussfolgerung ergeben.

1/  Nachdem das Denken in mehrere Systeme zerfallen ist, die logisch miteinander nicht vereinbar sind, muss in jeder Wissenschaft allein der Erfahrung die Aufgabe zugewiesen werden, zwischen den verschiedenen zur Auswahl stehenden künstlichen oder virtuellen logischen Welten zu entscheiden. „Erst durch die Zuordnung von Erlebnissen zu den Symbolen werden die Verknüpfungsregeln zwischen den Symbolen zu Aussagen über die wirkliche Welt, die man als 'wahr'‹ oder 'falsch' bezeichnen kann.“... > Für die wissenschaftliche Wahrheit reicht es folglich nicht aus zu zeigen, dass sie eine Schlussfolgerung darstellt, die in das konkret angewandte (bevorzugte) formal-logische Denksystem passt. „Die Begriffe sind hinsichtlich ihrer Beziehung zur Natur nicht scharf definiert - trotz ihrer scharfen Definition in Bezug auf die möglichen Verknüpfungen. Die Grenzen für die Anwendbarkeit der Begriffe müssen also empirisch gefunden werden.“... > Man kann es auch so fassen: Ein nicht handelndes Wesen kann die Realität nichts erkennen. Man hat keine Erfahrung, sondern man macht eine Erfahrung. Der Streit um eine wissenschaftliche Wahrheit wird folglich erst entschieden, indem man die „praktischen Konsequenzen untersucht. ... Soll ein Streit wirklich von ernster Bedeutung sein, so müssen wir imstande sein, irgendeinen praktischen Unterschied aufzuzeigen, der sich ergibt, je nachdem die eine oder die andere Partei recht hat“.... > Sind wir nicht im Stande bestimmte Tatsachen vorherzusehen oder sie zu erschaffen, besitzen wir überhaupt keine wissenschaftlicheErkenntnis oder Wahrheit. Deshalb kann man zu Recht sagen, dass die wissenschaftliche „Wahrheit gleichbedeutend mit der Lösung des Problems ist“... > und dass die Wissenschaft eine Sammlung von „Erfolgsrezepten“ darstellt.

Wissenschaftliche Erkenntnisse, wenn sie dies wirklich sind, bedeuten also nichts anderes als das empirische Können einer Wissenschaft. Wenn sich unlängst der postmoderne Philosoph Jean Baudrillard in einer schonungslosen Kritik der rationalistischen abendländischen Denkweise von der ontologischen Wahrheit, vom Wert und vom Sinn verabschiedet und, die Hoffnung „nur noch im Reiche der Erscheinungen“ suchend, trotzig erklärt: „Ich glaube an die Unsterblichkeit der Erscheinungen“, können wir ihn also gut verstehen. Eine richtig verstandene Wissenschaft hat die Aufgabe herauszufinden, wie die Tatsachen entstehen und nicht aus welchem Grund die Wirklichkeit entstanden ist oder warum sie nur so existieren kann, wie jemand meint, dass sie anhand seiner analytischen Schlussfolgerungen existieren müsste. Am Ende des 20. Jahrhunderts ist die Wut auf die Metaphysik der absoluten Wahrheit und der objektiven Erkenntnis sehr berechtigt. Besonders berechtigt ist sie vor allem, wenn es um die (neo-)liberale ökonomische Theorie geht, die sich immer noch dem allgemeinen Trend der Wissenschaften der letzten hundert Jahre erfolgreich widersetzt und den Tatsachen trotzt. Für diese recht paradoxe Situation, dass sich eine Wissenschaft an der Realität vorbei zu einer trockenen rhetorischen Übung in mathematischer Sprache hin entwickeln konnte und dies, obwohl schon bei den klassischen liberalen Ökonomen die Tatsachen im Vordergrund standen, werden wir noch Gründe suchen.

2/  Der offene Rationalismus des neuen wissenschaftlichen Geistes hat es den speziellen Wissenschaften ermöglicht - zumindest in den naturwissenschaftlichen Bereichen - bis dahin ungeahnte Fortschritte zu machen. Die Anzahl der Tatsachen, für die man herausgefunden hat, wie sie vorhergesagt oder verwirklicht werden können, hat sich in einem bis dahin kaum vorstellbaren Maße vergrößert, und ihre Anzahl wächst weiter. Damit ist die Macht des Menschen über die Natur immer weiter gewachsen. Die Hoffnung, die man früher in den geschlossenen Rationalismus setzte, konnte erst der offene Rationalismus in vollem Umfang erfüllen. Aber eine andere Hoffnung des geschlossenen Rationalismus wird für immer unerfüllt bleiben.

Eine analytisch streng aufgebaute Wissenschaft lässt uns zwar wissen, welche Tatsachen benötigt werden, um bestimmte, andere Tatsachen zu realisieren, aber all die realisierbaren Tatsachen lassen sich nicht zeitgleich und in beliebigen Kombinationen realisieren. Und einige Tatsachen lassen sich gar nicht mehr realisieren, wenn man davor bestimmte andere realisiert hat. Dies ist ein großes praktisches Problem. Deshalb muss immer im Voraus die Entscheidung getroffen werden, welche Tatsachen für uns wichtig sind bzw. auf welche wir verzichten können. Dieser „Einbruch der Entscheidung in den Bereich der Erkenntnis als eine Entdeckung, nach der Šhinter‹ aller Erkenntnis letzten Endes Entscheidungen stehen, die an vielen Stellen ungefähr gleichzeitig gemacht wurden“,... > ist auch eine der neueren Entdeckungen der Erkenntnistheorie. Aber wie soll man sich entscheiden? Im alten Rationalismus ist man einfach davon ausgegangen, dass „die Menschen, insofern sie nach der Leitung der Vernunft leben, von Natur aus immer notwendig übereinstimmen“ müssen.... > Die menschliche Freiheit lässt sich dann als die Einsicht in die der Notwendigkeit verstehen. Wenn es aber verschiedene Systeme der Logik gibt, und daran lässt sich heute nicht im Geringsten zweifeln, ist das ursprünglich rationalistische Entscheidungsprogramm als deduktives Schließen von gesicherten Fundamenten aus undurchführbar. Um zu entscheiden und „um zu beweisen, muß man ein logisches System voraussetzen; nun gibt es aber viele solcher Systeme. Welches soll gewählt werden? ... Dies ist ein ganz neues Problem. Die alte Methodologie kannte es nicht und konnte es auch nicht kennen, weil die ältere Logik - vor 1921 - nicht mehrere Systeme anbot. ... Heute haben wir Dutzende von verschiedenen Systemen zur Verfügung, und zwar ist der Unterschied zwischen ihnen recht groß.“... >

Wenn verschiedene logische Systeme zur Verfügung stehen, die aber zu verschiedenen möglichen Realitäten führen, besteht dann die einzige Möglichkeit eine Entscheidung herbeizuführen, darin, nach Kriterien zu greifen, die sich anthropologisch und kulturell begründen und rechtfertigen lassen. Im Grunde bedeutet dies, dass „der Mensch das Maß aller Dinge“ ist, wie es schon Protagoras erklärt hat und dass die früheren Entscheidungen - die Geschichte - mitentscheidet. Die „wertneutrale“ Wissenschaft ist also eine Einbildung naiver Vereinfacherer - terribles simplificateurs. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass die Tatsachen „nicht so ganz“ real sind. Sie sind real. Es geht allein darum, dass es keine höhere Instanz der Vernunft gibt, die von sich aus die Wichtigkeit und die Dringlichkeit der Probleme bestimmen kann und die folglich den Wissenschaften vorschreiben kann, was sie für Tatsachen halten sollen und auf welche Tatsachen sie sich stützen sollen. Die Tatsachen enden nicht bei der Vernunft, sondern bei den anthropologisch und kulturell bedingten Werten. Anders gesagt, logisch korrekte Folgerungen können Werte nicht ersetzen. Wenn wir über die Wirklichkeit denken, und insbesondere über das menschliche Leben, „wird man immer auf nicht weiter auflösbare Normen stoßen, auf eine Weltanschauung (vision du monde), die nicht rationale Wünsche und Werte ausdrückt“.... > Werte entscheiden ob etwas, auch wenn es logisch einwandfrei konstruiert ist, für uns sinnvoll ist oder nicht. Es gibt folglich „keine Wissenschaft, die absolut voraussetzungslos ist“... > - die Wirtschaftswissenschaft sicher am wenigsten.

Als der klassische Rationalismus die ersten großen Erfolge seiner Jugend feierte, war es denkbar schwierig, sich zur Erkenntnis durchzuringen, dass zwischen der formalen (analytischen) Richtigkeit einer These und der Zustimmung zu ihr zu trennen ist. Auguste Comte, der Sozialforscher, dem die Soziologie ihren Namen verdankt, liefert mit seiner persönlichen Erfahrung ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Er hat zuerst entschlossen die Auffassung vertreten, nur die Tatsachenbeobachtung könne Quelle und Grundlage jeder objektiven („positiven“), also wertfreien Wissenschaft sein. Als er aber erfahren musste, dass jede Beobachtung auf eine so überwältigende Menge von Tatsachen (Sinneseindrücke) stößt, dass man nicht ohne weiteres mit ihnen etwas anfangen konnte, wollte Comte von einem reinen empirischen Anfang der Wissenschaft nichts mehr wissen. Danach vertrat er vehement die entgegensetzte Auffassung, dass die Wissenschaft die Moral nicht ersetzen könne, da die Moral die Wertgrundlage darstelle, welche die Richtung und den Umfang eines jeden Forschungsprogramms bestimme. „Es gibt keine schlechthin Šobjektive‹ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder der 'sozialen Erscheinungen' unabhängig von speziellen und 'einseitigen' Gesichtspunkten“, schreibt Max Weber später, weil alles „was für uns Bedeutung hat, durch keine Švoraussetzungslose‹ Untersuchung zu erschließen ist“.... > Der große Klassiker der Sozialwissenschaften hat richtig gefolgert, dass wir aus den „stets unendlich mannigfaltigen Einzelerscheinungen“, aus dem Strom des unermesslichen Geschehens, der sich endlos der Ewigkeit entgegen wälzt, nur einen Teil berücksichtigen können, wollen wir das Chaos in unseren Köpfen und in unserem Tun verhindern. Nur was für uns Bedeutung hat und was mit unseren Wertideen verknüpft ist, sei wissenswert. „Werte sind schon in der Auswahl unserer Probleme enthalten, ferner in gewissen zentralen Begriffen, die wir bei der Kennzeichnung dieser Probleme benutzen, und sie beeinflussen auch unsere Lösungsversuche.“... > Deshalb kann man mit einiger Berechtigung sagen, dass die ökonomische Theorie „ein Spezialfall der Soziologie ist“,... > ja der Moralphilosophie oder der Anthropologie.

Das unbestrittene Faktum, dass jede wissenschaftliche Theorie - vor allem in Bereich der Sozialwissenschaften - immer auf Werte angewiesen ist, braucht man nicht als Nachteil zu betrachten. Und schon gar nicht darf man daraus folgern, dass die Sozialwissenschaften deshalb weniger zuverlässig und präzise, also weniger exakt sein müssen. Allerdings darf man Werte nicht mit Tugenden verwechseln, mit abstrakten Wunschvorstellungen, mit denen eine bessere Moral gepredigt wird. Die als Tugenden verstandenen Werte, welche die Philosophen in der Transzendenz entwerfen, vermitteln zwar den Eindruck, dass sie allgemeingültig und zeitlos sind, und sie sind es in der Tat, aber nur deshalb, weil sie inhaltsleer sind. Als solche sind sie unendlich interpretierbar und manipulierbar, so dass sich mit ihnen alle individuellen Standpunkte moralisch verteidigen lassen. Dies ist im Wesentlichen auch der Grund, warum sie sich einer so großen Beliebtheit erfreuen. Für die praktische Gestaltung der Gesellschaft sind aber alle solche abstrakten oder a priori Werte, die angeblich „nichts Empirisches, aber doch Allgemeingeltendes“ (Immanuel Kant) bedeuten, nutzlos - ja, sogar gefährlich. Diese Werte, mag man auch so viel Gelehrsamkeit in sie hineinzwängen, sind nur Heilsgüter und Offenbarungen von Wahrsagern und Sehern, deren zur Herrschaft gelangte Gefolgschaft „besonders leicht in eine ganz gewöhnliche Pfründnerschicht zu entarten pflegt“.... > Das werden wir noch später, an den Werten der neoliberalen Theorie, genauer erörtern.

Die Werte müssen also immer konkrete Aspekte der Praxis mit einschließen und damit in einem festen Bezug zu den Tatsachen stehen, an denen sich der moralische und soziale Fortschritt messen lässt. Man kann sie dann als mit menschlichem Willen begründete Zielsetzungen bezeichnen, die an vorhersehbare und verwirklichbare Tatsachen gebunden sind. Alleine die Werte, die ein konkretes Vorhaben bestimmen und wiedergeben, dessen Gelingen bzw. Misslingen empirisch eindeutig feststellbar oder gar quantifizierbar ist, können für sich einen wissenschaftlichen Status beanspruchen. Und allein mit diesen Werten ist eine „Ethik der Verantwortung“ (Max Weber) möglich.

3/  Die dritte wichtige Konsequenz, die sich sozusagen aus der Inflation der formalen (logischen oder mathematischen) Systeme ergibt, betrifft die Art und Weise, wie wissenschaftlicher Fortschritt möglich ist. Nach wie vor bleibt es zwar unbestritten, dass neue Erkenntnisse nur durch die Expansion von logisch-mathematischer und damit von symbolischer Substanz möglich sind, aber im Gegensatz zum früheren Selbstverständnis der Wissenschaft wissen wir heute, dass sich unsere Erkenntnisse nicht linear und kumulativ aus einem festen und gemeinsamen Punkt entwickeln. Die Erfahrung hat immer wieder bestätigt, dass sich der Fortschritt der „Wissenschaft nicht etwa in stetig fortschreitender Entwicklung vollzieht, entsprechend einer allmählichen Vertiefung und Verfeinerung unserer Kenntnisse, sondern daß er ruckweise, explosionsartig vor sich geht.“... > Wie so oft waren es die Naturwissenschaftler, die sich als erste der Tatsache bewusst geworden sind, dass alle wissenschaftlichen Erklärungssysteme, mit ihren Prämissen, Prinzipien, Axiomen, Hypothesen, Methoden und Modellen sterblich sind. Werner Heisenberg, einer der Begründer der modernen Atomphysik, fasst damals dieses Erkenntnis so zusammen: „Das Gebäude der exakten Naturwissenschaft kann also kaum in dem früher erhofften, naiven Sinne eine zusammenhängende Einheit werden, so daß man von einem Punkte in ihm einfach durch die Verfolgung des vorgeschriebenen Weges in alle anderen Räume des Gebäudes kommen kann ... Der Schritt von seinen schon vollendeten Teilen zu einem neu entdeckten oder neu zu errichtenden erfordert stets einen geistigen Akt, der nicht durch das bloße Fortentwickeln des Bestehenden vollzogen werden kann“,... > im Sinne einer bloßen Vermehrung des Umfanges durch Nebeneinandersetzen. Abstrakte Erklärungssysteme, weil sie als in sich abgeschlossene, holistische und endliche logische Systeme aufgebaut sind, trennt ein Abgrund, der „nicht durch formales Schließen überbrückt werden kann“.... > Sie sind voneinander deduktiv abgesondert und schließlich untereinander nicht vergleichbar oder kommensurabel, so dass es nicht einmal falsch ist zu sagen, dass jeder Fortschritt „seinen Ursprung jenseits aller Logik hat“,... > genauer gesagt jenseits der Logik, der sich die Mainstream-Spezialisten zu gegebener Zeit bedienen und die ihr ganzer Stolz ist. Die Beherrschung einer ausgedienten Logik, die immer nur eine Logik der Routine ist, wäre diese auch noch so anspruchsvoll, mag zwar mental fit machen, für neue Siege braucht man aber mehr: eine schöpferische Phantasie, die eine neue Art des Denkens hervorbringt. Neue Realitätsbereiche werden nur durch neue Denkweisen oder, wie man heute sagt, Paradigmen erschlossen. Da ein neues Paradigma eine deduktive Trennung innerhalb einer Wissenschaft herbeiführt, kann ein Übergang von einem altem zu einem neuen Paradigma nicht Schritt für Schritt vor sich gehen, sondern nur auf einmal, durch einen plötzlichen revolutionären Bruch: durch einen Paradigmenwechsel. Was den Bereich der Tatsachen betrifft, ist ein Paradigmenwechsel natürlich kein Bruch, weil wir davon ausgehen müssen, das es nur eine einzige Wirklichkeit gibt, die - wie auch immer wir sie begreifen - mit sich eins sein muss.

Ein neues Paradigma bedeutet zwar eine vollständige Veränderung der ganzen Sicht auf die Welt, sie denkt und spricht anders als das alte, das bedeutet jedoch nicht, dass das alte Paradigma falsch war. Im rein logischen Sinne war es bestimmt nicht. Deshalb entscheidet man sich für ein neues Paradigma nicht aus irgendwelchen logischen Gründen, sondern weil es empirisch mehr leistet. Dies bestätigt auch die Tatsache, dass sich neue Paradigmen ursprünglich nicht unbedingt gegen die alten Theorien richten. Nicht selten geht es bei ihnen - zumindest am Anfang - nur darum, für bestimmte Probleme oder Anomalien der alten Theorie Lösungen zu finden. Erwähnen wir als Beispiel Kopernikus, der den ersten spektakulären Paradigmenwechsel der neueren Geschichte statuierte. Er verwarf dabei nichtdie bereits bewährten Methoden und entdeckten Tatsachen seiner Vorgänger, noch verbrannten seine Anhänger später, nach erfolgreich vollzogenem Wechsel, die alten Schriften, geschweige denn haben sie als Revolutionäre irgendwann alte Observatorien verwüstetet. Was theoretisch noch brauchbar war, holten sie - wenn es nicht anders ging - mit Ad-hoc-Hypothesen zurück ins System. Kopernikus’ „destruktive“ Absichten waren lediglich auf die damals geltende Sicht auf die Welt ausgerichtet, gegen das „Monstrum“, wie er in der Vorrede zu De revolutionibus schrieb, das die damalige astronomische Tradition geschaffen hatte. Mit seiner konzeptionell neuen analytischen Grundstruktur hat er dann dieses „Monstrum“ abgeschafft und ein neues Weltbild statuiert, in dem auch das Wissen der Vorgänger, das brauchbar war, seinen Platz fand. Deshalb erscheint nach einem vollzogenen Paradigmenwechsel das überholte Paradigma weniger als falsch, sondern eher als belanglos und unvollständig. Die alten Paradigmen „sind überholt worden, nicht weil sie falsch waren, sondern weil sich das Denken entwickelt“.... > Bei einem Paradigmenwechsel geht es also weniger um Widerlegen, sondern vielmehr um Ersetzen.

Als es aus den Erfahrungen der Naturwissenschaften deutlich wurde, dass der wissenschaftliche Durchbruch nur durch einen Paradigmenwechsel zustande kommt, bedeutete dies das klägliche Ende der selbstherrlichen, akribischen und verschlafenen Welt der Spezialisten und Routiniers, der von Popper über den grünen Klee gelobten „Stückwerk-Techniker“. Sie haben ihre gehobene Stellung als Hüter der sicheren und universellen Wahrheiten eingebüßt. Zwar sind die „Stückwerk-Techniker“ für jeden Fortschritt wichtig, ja sogar unverzichtbar, jedoch nur eine Zeit lang nach dem Paradigmenwechsel. Am Anfang besteht nämlich ein neues Paradigma nicht viel mehr als aus einem neuen analytischen Unterbau, oder mathematisch gesprochen aus einer axiomatischen Basis. Sie bedeutet nicht mehr als eine neue formale Sprache mit neuen Begriffen und Relationen, die zuerst nur als Leerformen einer möglicher Wissenschaft aufzufassen sind, die man dann aber in eine allgemein brauchbare Form hochziehen und in die Wirklichkeit hinein interpretieren muss. Die Spezialisten und Routiniers übernehmen dann diese Aufgaben („puzzle solving“), und nach einer gewissen Zeit, wenn sie dabei erfolgreich gewesen sind, ist ihr Endergebnis ein neues vollendetes Paradigma oder - um mit Thomas Kuhn zu sprechen - eine „normale Wissenschaft“. Mit dieser Wissenschaft lässt sich nun eine bestimmte Menge bis dahin unvermittelbarer und unbekannter Tatsachen erklären, danach tritt eine Stagnation ein. Man hat irgendwann die Systemfähigkeit aller verfügbaren Begriffe überprüft und ihre empirischen Grenzen abgetastet, so dass es nichts bringt an denselben wissenschaftlichen Grundlagen verbissen immer weiter zu arbeiten. „Der Weg verliert sich in die Dämmerung. Das Licht der großen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu blicken. Sie zieht jenen Gestirnen nach, welche allein ihrer Arbeit Sinn und Richtung zu weisen vermögen“.... > Sie steuert - wieder einmal - auf ein neues Paradigma zu. Dieses neue Paradigma ist dann die Verwirklichung dessen, was in dem alten für eine Utopie gehalten wurde.

In der ökonomischen Theorie war es John M. Keynes (1883-1946), der während der Großen Depression in den 30er Jahren die Forderung erhob, die herrschende Theorie der spontanen Ordnung in der Marktwirtschaft nicht einfach nachzubessern, sondern sie zu ersetzen. Er ist also schon damals davon ausgegangen, dass ökonomische Analyse kein Spiel mit immer gleichen Regeln ist, sondern eine Denkweise, die ihr theoretisches Rüstzeug ständig ändert, um auf die Probleme einer sich verändernden Welt stets neue Antworten zu finden. Als Keynes seine Forderung nach einem Umdenken stellte, sprach man in der Erkenntnistheorie noch nicht von einem Paradigma, und auch der sensationelle Paradigmenwechsel in der modernen Physik stand noch bevor. Aber das Keynessche Brandmarken einer Denkrichtung der Markttheorie, die von Smith über Ricardo zur Neoklassik führte, als ein „disaster for the progress of economics“ und sein Verlangen nach vollkommen neuen Grundlagen, ist nichts anderes, als eine Absage an eine kontinuierliche Fortschreibung der Theorie und damit eine Aufforderung zum Paradigmenwechsel. Keynes hat dazu auch einen Vorschlag gemacht. Er knüpfte an Malthus an, nach dessen Auffassung „die Produktionskräfte allein ... nicht genügen, um die Entwicklung eines verhältnismäßigen Reichtums zu sichern. Irgendetwas anderes scheint erforderlich zu sein, um diese Kräfte in volle Tätigkeit zu versetzen. Dieses Etwas ist eine wirksame und unbehinderte Nachfrage nach allen Produkten.“... > Die aus solchem Ansatz entwickelte Keynessche Theorie wurde zu Recht Nachfragetheorie genannt, während man entsprechend die traditionelle liberale Theorie, die von Produktionskosten ausgeht, als Angebotstheorie bezeichnete. Damit wurde zum ersten Mal in der ökonomischen Theorie ein Versuch gewagt, einen wirklichen Paradigmenwechsel einzuleiten. Leider war der Erfolg der Keynesschen Nachfragetheorie nicht nachhaltig, aber schon in dem Wagnis an sich, können wir einen Fortschritt sehen.

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