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       Die EU: Ein neoliberales Projekt nach dem Vorbild des deutschen Merkantilismus
      Der immer wiederkehrende Merkantilismus à la manière allemande
 

  Ein Gastartikel

       
 
Die Handelsfreiheit ist populär geworden, ohne dass man zwischen der Freiheit des inneren Handels und der des Internationalen Handels unterschieden hätte, während doch beide nach Wesen und Wirkung himmelweit voneinander verschieden sind.
 
    Friedrich Listder bedeutendste deutsche Wirtschaftstheoretiker des 19. Jahrhunderts    
 
Die Förderung der sog. „Exportindustrien“ war deshalb in Deutschland nicht selten ein Fehlschlag.
 
    Walter Euckender Ahnvater des deutschen Ordoliberalismus    
       

Im vorhergehenden Beitrag haben wir gesagt, dass der Merkantilismus in Deutschland systematisch dazu verwendet wird, wenige reicher und viele ärmer zu machen, sowohl auf nationalem als auch internationalem Niveau, und auf das Risiko hin, dadurch wirtschaftliche und politische Krisen zu provozieren. Dies ist aber keinesfalls ein neues Phänomen. Man kann es durchaus schon als traurige deutsche Tradition bezeichnen. In diesem Beitrag werden wir das anhand historischer Tatsachen belegen. Darüber hinaus werden wir zeigen, dass der Merkantilismus nur den Reichen und ihren Günstlingen nutzt. Diese schätzen die Ideologie von der Dominanz des freien Welthandels nämlich nicht deswegen, weil das ihrer tiefsten Überzeugung entspricht, sondern setzen sich nur dann dafür ein, wenn es ihren Zwecken dienlich ist. Dementsprechend gibt es auch Perioden in der Geschichte, in der sie den Merkantilismus für ihre Zwecke nicht gebrauchen konnten und deswegen auch nichts von ihm wissen wollten. Das war zuerst in der Zeit der Fall, als der deutsche Nationalstaat gerade entstanden war.

Die Entwicklung des deutschen Merkantilismus nach der Industrialisierung

Deutschland spielte in der politischen Landschaft Europas schon immer die Rolle des Sonderlings. Bereits im Mittelalter sahen die Völker Europas verwundert auf das Land, das zwar einen Kaiser hatte, aber keine Hauptstadt. So fand Deutschland entsprechend spät zur nationalen Einheit. Doch selbst diese war eigentlich keine richtige Einheit wie das bei anderen Ländern der Fall war, sondern eher eine Doppelbildung. Preußen und das habsburgische Österreich hatten die Angelegenheiten der deutschen Länder bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dominiert, gerieten aber auch darüber in Streit. Während sie noch 1864 Seite an Seite gegen Dänemark Krieg geführt und diesen auch gewonnen hatten, kam es nur zwei Jahre später zum Deutschen Bruderkrieg, der zum Ausscheiden des österreichischen Kaisertums aus Deutschland führte. Die im Jahr 1871 als Deutsches Reich, ebenfalls mit einem Kaiser an seiner Spitze, verwirklichte „Kleindeutsche Lösung“ war allerdings mehr ein großes Preußen. In diesem begann eine stürmische industrielle Entwicklung, die man das Erste Wirtschaftswunder nennen kann. Dabei ist wirtschaftstheoretisch sehr interessant, dass dieses „Wunder“ nicht durch „mutige Reformen“ herbeigeführt wurde, wie man es heute sagen würde, wenn man dereguliert, privatisiert und die Grenzen öffnet. Deutschland fand nicht auf solche Weise  ökonomisch Anschluss an ihre industrialisierten Nachbarn. Genauer gesagt hat sich auf diese liberale Weise noch nie eine Marktwirtschaft entwickelt. Es ist angebracht dazu etwas mehr zu sagen.

Die historischen Tatsachen lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass protektionistische Maßnahmen, wie etwa hohe Zölle, in der Regel eine besonders große Rolle bei der Entstehung der erfolgreichen Marktwirtschaften spielten. Die händlerischen Gesellschaften Westeuropas verdankten ihren Aufschwung nicht der Anwendung der Rezepte der uneingeschränkten Freiheit und der Öffnung zum Weltmarkt - heute sagt man dazu Globalisierung. Das ist nichts als eine reine Ideologie - besser gesagt eine Lüge. Wer sich damit nicht abfinden kann, weist gern auf die Entstehung des Kapitalismus in England hin und behauptet, die englische Wirtschaft habe ihre Errungenschaften einer Laissez-faire-Wirtschaftspolitik und dem Freihandel zu verdanken. Aber nicht einmal das stimmt. Dabei wird übersehen, dass England seine protektionistische Politik erst dann aufhob, als es sich (seit 1830) seiner industriellen Überlegenheit sicher war. Noch 1813 wurden die um 50 bis 60% billigeren indischen Kattun- und Seidenerzeugnisse in England mit einem Importzoll von 70 bis 80% belegt. Als die Wirtschaft ihre Produktivität deutlich steigern konnte, wich die protektionistische Politik dem Open-door-Imperialismus des Freihandels. Unter solchen Umständen ist es natürlich ein Vergnügen, sich für zollfreien Wettbewerb einzusetzen.

Man findet kein Beispiel für den liberalen Mythos, wonach der Kapitalismus nur durch die Förderung des Freihandels entstanden ist, im Gegenteil. Montesquieu, der historisch aus nächster Nähe die frühe Entwicklung des Kapitalismus in Europa beobachten konnte, hatte nicht den geringsten Zweifel, dass

„ ... gerade in den freiheitlichen Ländern der Handelsmann auf Einreden und Widerstände ohne Zahl stößt. Nirgends kommen ihm die Gesetze weniger in die Quere als in geknechteten Ländern.“ ... >

Adam Smith, der es besser wissen musste als jeder anderer, dazu:

„Die Menge der Waren, deren Einfuhr in Großbritannien ganz oder teilweise verboten ist, ist viel größer, als man sich in der Regel denkt, wenn man mit den Zollgesetzen nicht vertraut ist.“ ... >

Auch die Vereinigten Staaten

„... wurden im 19. Jahrhundert gerade deshalb zu Industrieländern, weil sie nicht zu einem Freihandel übergingen, sondern darauf bestanden, ihren Industrien zu schützen.“ ... >

So Eric Hobsbawm, einer der größten Historiker des vorigen Jahrhunderts. Die USA waren „historisch betrachtet, das Land der hohen Zölle“ (Paul A. Samuelson) und haben in ihrer ganzen Geschichte stets einen weit geringeren Anteil ihrer Produktion exportiert bzw. ihres Verbrauchs importiert als die europäischen Industrienationen. Genau das wurde zum Rezept der deutschen Industriepolitik, die mit dem Namen des Ökonomen Friedrich List (1789-1846) untrennbar verbunden ist. Er war der wichtigste Vorkämpfer für den Deutschen Zollverein und das Eisenbahnwesen.

„Deutschland ist im Laufe von zehn Jahren in Wohlstand und Industrie, in Nationalselbstgefühl und Nationalkraft um ein Jahrhundert vorgerückt. Und wodurch? ... Es war hauptsächlich der Schutz, den das Zollvereinssystem den Manufakturartikeln des gemeinen Verbrauchs gewährte, was dieses Wunder bewirkte.“ ... >

So zitiert ihn der seinerzeit bekannteste amerikanische Gegner des Laissez-faire Henry C. Carey (1793-1879).  Die deutschen Industriellen hatten damals also nichts dagegen einzuwenden, sich nicht dem Freihandel aussetzen zu müssen. Die Bismarckschen Reformen im Kaiserreich, die den Arbeitern mehr Rechte und Unabhängigkeit gaben, nahm man in Kauf, da sich nach ihrer Verwirklichung die deutsche Wirtschaft der weltweiten Spitzengruppe der Wirtschaftsmächte mit Riesenschritten näherte. Erst als die Wirtschaft stark genug war, kam auch Deutschland auf den Geschmack - wie das bereits erwähnte England früher - sich der internationalen Konkurrenz zu stellen, also durch den internationalen Handel neue Märkte für eigene Produkte zu erobern. Doch auf die damalige Situation Deutschlands passt bestens das alte Sprichwort, das besagt „Wer nicht kommt zur rechten Zeit, der muss nehmen was übrig bleibt.“. So war es auch mit der „verspäteten Nation“ Deutschland. Die früher industrialisierten kapitalistischen Nationen hatten die Welt bereits praktisch unter sich  aufgeteilt.

„Der außerordentliche wirtschaftliche Aufschwung seit Beginn der 1880er Jahre, der das Deutsche Reich 1913 zum führenden Exportland der Welt gemacht hatte, ließ in den bürgerlichen Schichten die Forderung entstehen, dass die wirtschaftlichen Machtstellung Deutschlands eine Entsprechung auch in seiner politischen Weltstellung finden müsse. ... Der von der Öffentlichkeit nahezu enthusiastisch begrüßte Bau einer deutschen Schlachtflotte, obschon deren militärischer Wert unter seestrategischen Gesichtspunkten von Anfang an zweifelhaft war, und späterhin die bereitwillige Unterstützung der sich als zunehmend kostspielig erweisenden Rüstungen zu Lande, die in ein europäisches Wettrüsten einmündeten, aus dem das Deutsche Reich am Ende eher als relativer Verlierer hervorgehen sollte, entsprachen dieser Einstellung. Seit der Marokko-Krise 1911, welche die Versäulung der europäischen Bündnissysteme weiter vorantrieb, gewann in Deutschland zunehmend die Überzeugung an Boden, dass der Gordische Knoten der deutschen Weltpolitik nur in einem europäischen Kriege durchschlagen werden könne. ... Bei den konservativen Eliten und Militärs kam zusätzlich die Erwägung ins Spiel, dass es im Kriegsfalle gelingen könne, die sozialdemokratische Arbeiterbewegung zu unterdrücken, wenn nicht sogar zu zerschlagen.“ ... >

Die Weigerung der alten Imperialmächte den Weltmarkt und die Kolonien mit dem Emporkömmling zu teilen, interpretierte man in Deutschland so: Ein Krieg wurde Deutschland förmlich aufgezwungen. Wir müssen dazu noch erwähnen, dass damals wirklich alle, auch die Bildungseliten, vom Krieg schwärmten, von dem sie sich die „innere Wiedergeburt Deutschlands“ erhofften. Aus den Briefen des bekannten Soziologen Max Weber lässt sich diese Kriegsbegeisterung ebenfalls herauslesen: „Dieser Krieg ist bei aller Scheusslichkeit doch gross und wunderbar, es lohnt sich, ihn zu erleben, noch mehr würde es sich lohnen, dabei zu sein. (…)“ Leider, wie er sarkastisch bemerkte, wurde er im Januar 1915 zum Hauptmann der Landwehr im Dienst der Heidelberger Lazarett-Kommission ernannt, weil man ihn auf dem Schlachtfeld nicht gebrauchen konnte.

„Der Erste Weltkrieg brach aus, weil sich die Deutschen, oder doch ihre führenden Schichten, nicht damit abfinden wollten, dass der ambitiösen „Weltpolitik“ des Deutschen Reiches von den anderen Großmächten nur in beschränktem Umfang Expansionsmöglichkeiten eröffnet wurden. Der neue Nationalismus, der in erster Linie von den aufsteigenden bürgerlichen Schichten und den Intellektuellen getragen wurde, trieb die konservative Führungsschicht, die das Erbe Bismarcks angetreten hatte, sich aber ihrer eigenen Stellung innerhalb des halbkonstitutionellen Regierungssystems nicht mehr sicher war, teilweise wider Willen dazu, eine aggressive Außenpolitik mehr der Rhetorik als der Taten zu betreiben, freilich nicht zuletzt infolge des mangelnden Verständnisses in der deutschen Öffentlichkeit für die vorgegebenen Begrenzungen deutscher Machtpolitik.“ ... >

Nach dem Krieg kam die Hyperinflation. Entgegen den Beteuerungen der meisten deutschen Historiker und dem, was in der Schule gelehrt wird, war sie keine wirtschaftliche Katastrophe. Tatsächlich wurde Deutschland in dieser Zeit zur Lokomotive der Weltwirtschaft. Darüber haben wir an anderer Stelle mehr gesagt.dorthin Mit der Hyperinflation begannen die so genannten Goldenen Zwanziger, die - so wie es die Liberalen immer während eines Aufschwungs behaupten - nie aufhören sollten, weil die freie Marktwirtschaft angeblich einwandfrei funktionieren würde. Jedoch brach sie am „Schwarzen Donnerstag“ 1929 zusammen. Deutschland läutete daraufhin eine neue Runde im wirtschaftlichen Kampf der Nationen ein und versuchte seine Probleme auf Kosten der anderen Länder in den Griff zu bekommen.

„Der Kanzler Brüning ... stimmte mit dem Reichsverband der Deutschen Industrie in der Überzeugung überein, daß nur ein grundlegender Ausbau des eigenen Exports Deutschland in die Lage versetzen könne, seine frühere Machtstellung zurückzugewinnen.“ ... >
„Um den Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu kompensieren, der durch die Pfundabwertung eingetreten war, griff Brüning nun zu den härtesten Deflationsmaßnahmen seiner Regierungszeit. Das deutsche Preis-. Und Lohnniveau sollte um 20 Prozent gesenkt, um beim Wechselkurs - real gerechnet - wieder mit Großbritannien gleichzuziehen. Die dritte Notverordnung zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 6. Oktober und die vierte vom 8. Dezember 1931 dienten diesem Ziel. Löhne und Gehälter wurden per Dekret abgesetzt.“ ... >

Was danach kam wissen wir. Keine der verordneten Maßnahmen half, im Gegenteil. Alles wurde nur noch schlimmer, bis der Ausbruch einer Revolution zu befürchten war. Daraufhin übergaben die deutschen Wirtschafts- und Adelseliten die Macht an Hitler. Mit ihm kam ein ökonomischer Aufschwung, der - wenn man ausschließlich ökonomische Zahlen betrachtet - weder davor noch danach in Deutschland erreicht wurde. In wenigen Jahren war nicht nur die Große Depression vollständig überwunden. Sofort im Anschluss daran wurden Rüstunguter geschaffen, die es ermöglichten (fast) die ganze Welt militärisch anzugreifen. Dies kann man mit Fug und Recht das Zweite Wirtschaftswunder nennen.dorthin Es ist bemerkenswert, dass diesem Wirtschaftswunder, wie auch dem Ersten, ein politisches und humanitäres Desaster folgte. Wir wollen aber bei rein wirtschaftstheoretischen Aspekten bleiben. Deswegen ist es wichtig hier zu bemerken, dass das Zweite Wirtschaftswunder, genauso wie das Erste, nicht dank der Öffnung zum Weltmarkt, sondern eher durch Abschottung stattfand.

„Historisch gesehen trugen der politische und wirtschaftliche Zusammenbruch der deutschen Demokratie und der Aufstieg Hitlers Anfang der dreißiger Jahre maßgeblich dazu bei, dass der damalige Globalisierungsprozess ein Ende fand.“ ... >

Die Weimarer Eliten mussten die vorläufige Abtrennung vom Weltmarkt und den steigenden Wohlstand der Bevölkerung wohl oder übel hinnehmen. Immerhin war Hitler ihre letzte Chance, eine kommunistische Revolution abzuwenden. In diesem Fall hätten sie mit Sicherheit ihren Besitz und ihre Privilegien verloren. Doch schon unmittelbar nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg bot sich ihnen eine großartige Chance, den Merkantilismus wieder aufleben zu lassen.
 

Das (Dritte) Wirtschaftswunder als Sieg des Merkantilismus von Amerikas Gnaden

Bei diesem deutschen Wirtschaftswunder, für das diese Bezeichnung fast ausschließlich verwendet wird und welches das bekannteste ist, haben viele günstige und glückliche Faktoren eine Rolle gespielt, und anders als früher gehörte diesmal auch der Export dazu. Der deutsche Blogger Stefan Sasse beschäftigt sich damit in seinem unbedingt lesenwerten Artikel „Die Mär vom Wirtschaftswunder“ und schreibt zu Beginn seiner Analyse unmissverständlich, dass es keinen Wunder gab, sondern eine einmalig günstige Lage, als „eine Folge vieler Faktoren, von denen keiner allzu wundersam war“. Für unseren Zweck erwähnen wir nur einige besonders wichtige, der interessierte Leser kann sich den vollständigen Text anschauen.

„Die Kriegszerstörungen: Was jedoch selten bedacht wird ist Folgendes: nicht nur die Gebäude lagen in Schutt und Asche, sondern auch viele Maschinen. Als man alles wieder aufbaute, wurden auch neue Maschinen angeschafft - das Neueste, was gerade verfügbar war. Damit verschaffte sich Deutschland schnell eine Führungsposition, paradoxerweise gerade gegenüber Ländern wie England, die von Kriegszerstörungen vergleichsweise verschont geblieben waren, woraus die große überraschung über die schnelle Erholung - das “Wunder” - denn auch resultierte.“ ... >

Es ist aus der Geschichte bekannt, dass Kriegszerstörungen ein sehr dynamisches Wachstum nach einem Krieg ermöglichen. Man muss mit dieser Tatsache aber vorsichtig sein. Deutschland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Produzent von Maschinen und industriellen Anlagen erfolgreich, und dafür benötigt man die gleiche Technologie und Infrastruktur, die auch für die Rüstung erforderlich sind. Und wie stand es mit diesen Kapazitäten nach dem Krieg? Die müssten eigentlich am schlimmsten betroffen gewesen sein, aber nur wenn man als selbstverständlich annimmt, dass die unzähligen Bombardements gerade dieses Ziel hatten. Weit gefehlt. John K. Galbraith, der wie vielleicht kein anderer der amerikanischen Ökonomen mit seinen Büchern das breite Publikum erreichen konnte, schrieb in seinem Werk „Die Ökonomie des unschuldigen Betrugs“:

„Im Lauf der Jahre habe ich gelernt, dass man sich ehrlicherweise damit abfinden muss, dass die allgemeine Anschauung - das, was ich andernorts die »herrschende Meinung« genannt habe - und die Wirklichkeit ständig auseinanderklaffen.
Am Ende des Krieges war ich verantwortlich für die Auswertung und Beurteilung der Einsatzberichte des Strategischen Bomberkommandos der USA. Ich leitete einen großen Stab von Wirtschaftswissenschaftlern, welche die Auswirkungen der Bombenangriffe gegen Deutschland und später auch gegen Japan auf die industrielle und militärische Infrastruktur dieser Länder bewerten sollte. In Deutschland waren die Folgen der strategischen Bombardierung von Industrieanlagen, Verkehrswegen und Städten aus alliierter Sicht zutiefst enttäuschend. Der Krieg wurde nicht verkürzt. Angriffe auf Fabriken, in denen scheinbar so unersetzliche Teile wie Kugellager hergestellt wurden, und später auch auf Flugzeugfabriken blieben völlig wirkungslos. Nach der Verlagerung von Anlagen und Maschinen und einem besseren, entschlosseneren Management nahm die Produktion von Kampfflugzeugen Anfang 1944 trotz schwerer Bombenangriffe sogar wieder zu. Der unberechenbare Schrecken, den der Luftkrieg in den deutschen Städten verbreitete, und der gewaltige Blutzoll, den er unter der Zivilbevölkerung forderte, wirkten sich nicht nennenswert auf die Kriegsproduktion oder den Verlauf des Krieges aus.
Die alliierten Streitkräfte und natürlich insbesondere das Oberkommando der Luftwaffe verwahrten sich entschieden gegen diese Untersuchungsergebnisse, obgleich sie von den fähigsten und sachkundigsten Wissenschaftlern in den USA und Großbritannien erstellt und von deutschen Wirtschaftsfunktionären und tadellosen deutschen Statistiken untermauert wurden. (Auch von dem berühmten Albert Speer, dem deutschen Minister für Rüstung und Kriegsproduktion.) All unsere Schlussfolgerungen wurden vom Oberkommando der Luftwaffe und seinen Verbündeten in Politik und Wissenschaft vom Tisch gewischt. Letzteren gelang es sogar, meine Berufung als Professor an die Harvard-Universität ein Jahr lang zu blockieren.“ ... >

Man kann sich schnell denken, warum man in Deutschland diese Tatsache so gut wie nie wahrnehmen wollte und will. Das neue deutsche Wunder durfte nicht als ein Erbe des Nationalsozialismus verstanden werden, sondern als ein authentisches Ergebnis der freien und demokratischen Ordnung. Und teilweise auch als ein Ergebnis der transatlantischen Solidarität.

„Der Marshallplan: Dies war ungeheuer wichtig, um die Freundschaft zwischen Deutschland und den USA zu legitimieren und mit positiven Gefühlen aufzuladen. ... Er war hauptsächlich eine Propagandaangelegenheit. Die bezahlten Beträge waren viel zu gering, um eine ernsthafte Wirkung auf die Ökonomie gehabt zu haben, wie ihnen fälschlicherweise oft unterstellt wird. Ihre wahre Wirkung lag in der Psychologie begründet: die Amerikaner, die das Schmuddelkind Deutschland unterstützten - damit wurden Absatzmärkte geöffnet. Deutsche Geschäftsleute konnten international verkehren.“ ... >

Es kann auch kein Zufall sein, dass der Marshallplan drei Monate vor der - durch die Amerikaner angeordnete und durchführte - Währungsreform gebilligt wurde. Die neue Deutsche Mark durfte nicht scheitern, also hat man den deutschen Markt mit realen Gütern bestückt, die der neuen Währung die reale Kaufkraft verliehen sollten. Zugleich hat man den amerikanischen Markt für die deutschen Exporte eingerichtet:

Die amerikanischen Importzölle: Alle bisher beschriebenen Faktoren, so günstig sie auch sind, hätten den deutschen Exporten nicht zum Durchbruch verholfen, wenn die USA die Wirtschaftspolitik aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg fortgeführt und sich protektionistisch verhalten hätten. Doch die USA senkten ihre Importzölle stark ab, obwohl es dafür keine objektive Veranlassung gab. Sie öffneten damit ihren Markt weit für die europäischen Produkte - und damit vor allem die deutschen.“ ... >

Ein weiterer „unschuldiger Betrug“ der neoliberalen Ökonomen ist auch das Märchen von der starken D-Mark.

„Bretton Woods: 1944 wurde in der Konferenz von Bretton Woods ein neues Weltwährungssystem beschlossen. ... Für Deutschland war dieses System ein echter Gewinn: die D-Mark wurde mit 4,80 DM pro Dollar drastisch unterbewertet, wie sich bald zeigen sollte. Diese Unterbewertung war ein Schlüssel im Erlangen des Titels "Exportweltmeister", der in Deutschland heute noch wie ein Fetisch verehrt wird (obgleich er damals zugegeben noch nicht in Mode war; griffig ist er dennoch). Deutsche Produkte waren auf dem Weltmarkt extrem billig und brachten Devisen ins Land.“ ... >
„Die im September 1949 erfolgte Abwertung der DM gegenüber dem Dollar um 20 v. H. unterstützte zusätzlich die internationale Wettbewerbsposition der westdeutschen Exporteure Mit diesem Schritt begann eine bis 1961 andauernde „Periode der Unterbewertung der deutschen Währung“, die zusammen mit einer Politik der Exportförderung das außenwirtschaftliche Standbein gezielt ins Zentrum des Aufschwungs rückte und zukünftig die Struktur des bundesrepublikanischen Wirtschaft prägen sollte.“ ... >

Und da haben wir den Schlüssel für das Dritte deutsche Wirtschaftswunder. Der US-amerikanische Markt wurde für die deutschen Produkte geöffnet, damit in Westdeutschland ein Schaufenster für den Osten entsteht. Das Wunder, das gar keines war, war tatsächlich ein Produkt des Kalten Krieges. Die rasche Erholung der deutschen Wirtschaft nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hat also nichts mit dem besonderen Fleiß der Deutschen oder der Entschlossenheit und Weitsicht der damaligen Politiker zu tun. Davon wollte aber keiner etwas wissen. So entstand ein völlig falsches Selbstverständnis, das sich sowohl in einer falschen ökonomischen Theorie als auch in der Wahrnehmung der agierenden Wirtschaftsakteure niederschlug.

Für die deutschen Machteliten war das (Dritte) Wirtschaftswunder ein sehr günstiges Ereignis, auch wenn der allgemeine Wohlstand stark anstieg und man die Erwerbstätigen nicht mehr so herumschubsen konnte, wie es zuvor gewesen war. Es bot sich nämlich reichlich Gelegenheit, den Merkantilismus in einem positiven Licht erscheinen zu lassen. Indem man den gewaltigen Aufschwung dem Erfolg des deutschen Exports zuschrieb, konnte man nun auch den „Mann von der Straße“ überzeugen, dass internationale Konkurrenzfähigkeit gut und wichtig sei. Nun musste man nur noch auf die erste Schwächephase der deutschen Wirtschaft warten, um mit Hilfe des Merkantilismus damit beginnen zu können, die Zugeständnisse ans „gemeine Volk“ nach und nach wieder zurückzunehmen.

Die Folgen des falsch verstandenen (Dritten) Wirtschaftswunders

Gegen Ende der 60er Jahre und in den 70er Jahren wurde Deutschland zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder mit wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, wie etwa Rezessionen und steigender Arbeitslosigkeit. Die zu dieser Zeit regierende sozialliberale Koalition konnte die Probleme nicht lösen, was den Konservativen und Rechtsliberalen immer weiter Oberwasser verschaffte. Im Jahr 1982 brach schließlich die Regierung auseinander, als die FDP ihren Schwenk um 180 Grad mit dem berüchtigten Lambsdorff-Papier öffentlich bezeugte. Dieses von Otto Graf Lambsdorff verfasste Dokument ist im originalen Wortlaut heutzutage leicht im Internet zu finden. Liest man es durch wird schnell klar, dass dies die Linie der deutschen Wirtschaftspolitik ist, die seit genau 30 Jahren bis zum heutigen Tag verfolgt wird. Im Zusammenhang mit dem deutschen Exportfetisch ist besonders die dort geforderte „Verbilligung des Faktors Arbeit“ von Bedeutung. Zu dieser Zeit wurde die Entwicklung der Löhne endgültig von der der Produktivität abgekoppelt. Im Klartext heißt das: Deutschland steigerte systematisch seine Konkurrenzfähigkeit, indem durch Lohnzurückhaltung bei ständig wachsender Produktivität die Lohnstückkosten laufend gesenkt wurden. Diese Strategie ging natürlich zu Lasten der Inlandsnachfrage und des Wirtschaftswachstums. Als logische Folge davon fielen die Inflationsraten bescheiden aus. Diesen Umstand machten sich die interessierten Kreise zunutze, um den bereits angesprochenen nationalen Mythos von der „starken D-Mark“ weiter auszubauen. Dabei spielte ihnen die Tatsache in die Hände, dass der normale Bürger Preissteigerungen hasst, selbst dann, wenn auch sein Einkommen steigt. Immer kann er sich Dinge vorstellen, die er sich lieber gekauft hätte, als für die Dinge, die er nicht entbehren kann, mehr ausgeben zu müssen. So ließen sich die Deutschen von der unglaublichen „Stabilität“ ihrer geliebten D-Mark einwickeln und nahmen lieber die Lohndrückerei als höhere Inflationsraten in Kauf.

Doch nicht nur Deutschland überschwemmte den Rest der Welt in den 80er Jahren mit seinen Produkten. Japan konnte damals mit einer unterbewerteten Währung ebenfalls große Exporterfolge erzielen. Was für eine Ironie! Die gleichen Nationen, die nur ein paar Jahrzehnte zuvor die Welt in den Krieg gestürzt hatten, befanden sich nun Seite an Seite auf einem wirtschaftlichen Eroberungsfeldzug. Dieser fand zur Zeit des Zusammenbruchs des Kommunismus jedoch ein Ende. Während Japans Wirtschaft in Folge einer massiven Aufwertung seiner Währung geradezu kollabierte und sich bis heute nicht erholt hat, kam Deutschland glimpflich davon. Durch die Wiedervereinigung wurde die überragende Konkurrenzstärke Westdeutschlands durch die praktisch nicht vorhandene Ostdeutschlands ausgeglichen. Westdeutsche Unternehmen waren in der Lage, praktisch über Nacht den gesamten Osten mit allen Waren zu versorgen, die es zu kaufen gab. Das Ausland war vorerst für den Absatz der deutschen Industrie nicht mehr so wichtig wie vorher. Als vernünftiger Mensch hätte man sich nun gewünscht, dass Deutschland für so unerhörtes Glück dankbar gewesen wäre und das Schicksal Japans als mahnendes Vorbild begriffen hätte. Doch weit gefehlt.

Auch die Deutsche Vereinigung, oder besser gesagt Übernahme - in ökonomischer Hinsicht war es wirklich eine feindliche Übername des ganzen Marktes eines anderen Landes -, hat zur falschen Wahrnehmung der Realität geführt, es würde immer eine Möglichkeit geben, die eigenen Angebotsüberschüsse unterzubringen. Diese Vorstellung führte zur Schaffung vieler falscher Regeln und Institutionen, die verheerende Wirkungen entfalteten, zunächst in Deutschland, und später in ganz Europa.

 
 
 
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