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       Die EU: Ein neoliberales Projekt nach dem Vorbild des deutschen Merkantilismus
      Die rhetorische Verklärung der Krise: Vulgarisierung, Stereotypie und Totschweigen
 

  Ein Gastartikel

       
 
Europa bleibt eine Frage von Krieg und Frieden und der Friedensgedanke also das Bewegungsgesetz der europäischen Integration.
 
    Helmut Kohl6. deutscher Bundeskanzler    
 
Meine Einschätzung ist aber, daß insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, daß ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muß, daß im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern , die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.
 
    Horst Köhlerdeutscher CDU-Politiker, ehemaliger Direktor des der IWF und 9. deutscher Bundespräsident    
       

Schon lange vor Ausbruch der großen Krise war es in Deutschland beliebt, verbal die Muskeln spielen zu lassen. Sowohl Medien als auch Einzelpersonen, wie etwa Politiker und Wirtschaftsbosse, sprachen gern vom „Zahlmeister Deutschland“, der die EU praktisch allein finanziere. Dabei wurde natürlich darauf abgezielt, ein Bild der besonderen Tüchtigkeit und des immensen Fleißes der Deutschen zu zeichnen, ähnlich wie es mit dem Gerede vom „Exportweltmeister“ der Fall war. Doch solche rhetorischen Figuren hielten einer nüchternen Überprüfung zu keiner Zeit stand. Zunächst einmal ist Deutschland die größte Volkswirtschaft der EU. Nur wenn man nach der Logik der Reichen urteilt ist es unangemessen, dass der, der am meisten hat, auch am meisten zahlt. Zudem war es, wie wir in den vorigen Beiträgen erörtert haben, Deutschland nach der Einführung des Euro schnell gelungen, fast alle anderen Mitglieder der EU mittels Dumping in die Position des Schuldners zu drücken. Wie sollen aber Länder, deren Wirtschaftsentwicklung von deutschen Exporten behindert wird, dauerhaft Beiträge entrichten können?

Leider sind diese Ausbrüche deutscher Großmannssucht nur nichtige Plänkeleien im Vergleich zu dem, was aufgefahren wird, seit die Krise anfing, Europa zu erdrücken. Zuerst traf es Griechenland. Wir wollen mit unserer Analyse der deutschen Krisenrhetorik deshalb an diesem Zeitpunkt ansetzen. Innerhalb der Kampagne, die die wahren Zusammenhänge verschleiern soll, lassen sich in drei Einzelstrategien unterscheiden: Vulgarisierung der Problematik, Ansprechen von Stereotypen und Vorurteilen sowie das Verschweigen unliebsamer Tatsachen.

Vulgarisierung: Die Schuldensünder aus dem Süden

Es war kaum öffentlich bekannt geworden, dass Griechenland unmittelbar vor einem Staatsbankrott stand, da gerieten die deutschen Medien so richtig in Fahrt. Der Versuch, den Lesern, Hörern oder Zuschauern eine sachliche Auseinandersetzung zu vermitteln, wurde gar nicht erst unternommen. Die Bild-Zeitung schuf das Schlagwort „Pleite-Griechen“, das andere Medien dankbar übernahmen und oft verwendeten. Von Anfang an wurden die Debatten vom erhobenen Zeigefinger dominiert und die Zusammenhänge nur verkürzt dargestellt.

Das fing schon damit an, dass immer nur davon gesprochen wurde, ob man „den Griechen“ nun helfen soll oder nicht. Hier gelang es einmal mehr, die Emotionen der Bürger aufzuwühlen und damit das kritische Urteilsvermögen außer Kraft zu setzen. Das war aber auch nicht schwer, denn leider stellt der Normalbürger in der Regel niemals die Überlegung an, wer am meisten davon hat, wenn man jemandem Geld gibt, der hoch verschuldet ist. Sogar diejenigen, die diese Situation aus eigener Erfahrung kennen, lassen diese Frage außer Acht, weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Eine verschuldete Privatperson sieht sich im Schatten von Pfändungen oder sogar einer drohenden Gefängnisstrafe in ihrer Existenz bedroht und findet keine Zeit, sich in die Lage des Gläubigers zu versetzen. Das sieht anders aus bei Leuten, die routinemäßig mit Geld umgehen. Unter ihnen ist das Sprichwort geläufig „Wenn du 10 000 Euro Schulden nicht zurückzahlen kannst, hast du ein Problem. Wenn du 10 Millionen Euro Schulden nicht zurückzahlen kannst, hat die Bank ein Problem.“ Genau das ist der Schlüssel zur Situation in Griechenland und letztlich allen verschuldeten Euroländern. Deren Banken haben sich von den Staaten vor dem Zusammenbruch retten lassen und sind darauf angewiesen, dass ihre Forderungen bedient werden, soll die eigene Pleite sie nicht wieder einholen. Die von den Medien gerne zitierten „Griechen“ haben von all dem Geld aus dem noch solventen Euroraum überhaupt nichts. Sie müssen es direkt an die Banken weiterreichen. Was für ein Sarkasmus der Geschichte: Viele von diesen sind eben dort ansässig, wo das Geld herkam. Man könnte also spöttisch sagen, wenn der wütende deutsche Steuerzahler wissen will, was aus seinem Geld geworden ist, mit dem man die „Rettungsschirme“ aufgespannt hat, muss er wenigstens nicht weit reisen. Er kann bei den Banken im eigenen Land nachsehen.

Diese entstellende Verkürzung der Zusammenhänge war aber erst der Anfang. Schon bald wurde es moralisch, ja schon theologisch. Die in Not geratenen Euroländer, vorneweg Griechenland, wurden zu „Schuldensündern“ abgestempelt. Das war die Stunde der Hohepriester der „wirtschaftlichen Vernunft“. Die Lohnsenkungen, Kürzungen der Staatsausgaben und alle anderen Maßnahmen, die ab jetzt verordnet wurden, konnte man nun als Buße hinstellen, die die Sünder tun müssten. Was es mit diesen Maßnahmen wirklich auf sich hat, haben wir im vorigen Beitrag besprochen. Dies ließ sich aber hervorragend verschleiern, indem man penetrant die griechischen Verfehlungen thematisierte.

Was warf man Griechenland, und insbesondere dem griechischen Staat vor? An allererster Stelle wurde selbstverständlich die hohe Staatsverschuldung angeprangert, da diese gemäß neoliberaler als auch uninformiert-bürgerlicher Sicht ja sowieso an sich und jederzeit ein Übel ist. Weiterhin beanstandete man die weite Verbreitung von Korruption im Land, den Missbrauch des staatlichen Beschäftigungssektors durch eine ganze Reihe von Personen, die das Innehaben eines Amtes nutzten, sich üppige Bezüge zu verschaffen sowie Fahrlässigkeit bei der Festlegung und Eintreibung der Steuern. Wir wollen natürlich weder leugnen noch beschönigen, dass es in Griechenland Missstände gibt. Aber sind diese Dinge nicht eigentlich das Problem der Griechen? Warum ist die halbe Welt darüber in Aufruhr und meint, sich in die Angelegenheiten des Landes am südöstlichen Rand Europas einmischen zu müssen? Die Antwort auf diese Frage fällt uns sofort ein, wenn wir uns daran erinnern, was wir in den vorherigen Beiträgen besprochen haben. Die griechische Volkswirtschaft – wir betonen hier noch einmal, dass damit Staat und Privatwirtschaft zusammen gemeint sind – hat in Summe einen Berg von Auslandsschulden angehäuft, die sie nicht zurückzahlen kann. Daran sind aber mitnichten „die Griechen“ allein schuld. Wie bereits dargelegt hat das vereinigte Europa nicht nur beim Eurobeitritt Griechenlands ein Auge zugedrückt und mit dem anderen weggeschaut, sondern den Fehlentwicklungen ein Jahrzehnt lang tatenlos zugesehen. Man stelle sich vor was passiert wäre, hätte eine griechische Regierung nach der Euroeinführung, aber noch vor der Krise alle Fehler ihres Landes eingeräumt und Besserung gelobt, aber dafür auch um ein wenig Entgegenkommen gebeten. So hätte sie etwa fordern können, die Billigimporte aus Asien zu beschränken, damit die griechische Wirtschaft zumindest eine kleine Chance erhielte, seine Waren auf dem europäischen Binnenmarkt zu platzieren. Oder sie hätte versprechen können, ab sofort darauf zu achten, die Preissteigerungsraten zu senken, um sie dem Inflationsziel der EZB anzupassen, mit dem Hinweis, dass dies aber sinnlos sei, wenn Deutschland nicht sein Lohndumping aufgebe und höhere Inflationsraten zuließe. Was hätte das für ein Geschrei gegeben! Gerade in Deutschland wäre man tödlich beleidigt gewesen und hätte Schmähungen in Richtung der Griechen geschickt, die denen von heute und der jüngsten Vergangenheit nur wenig nachgestanden hätten. Wahrscheinlich hätte man bei so einer Gelegenheit das gleiche getan wie heute und zu einer der unverschämtesten Vulgarisierungen der Zusammenhänge gegriffen, nämlich die der angeblichen mediterranen Faulheit.

Wenn es nach den neoliberalen Meinungsführern geht, ist alles ganz einfach. Die Schulden Griechenlands und der anderen notleidenden Länder seien deshalb so hoch, weil man dort einfach faul sei und anstatt selbst zu produzieren lieber alles importiere. Die deutsche Kanzlerin verstieg sich sogar zu der Aussage, die Währungsunion könne nicht funktionieren, wenn die einen mehr Urlaub bekommen als die anderen. Das ist allein schon eine traurige Tatsache, aber die Reaktionen darauf waren noch viel deprimierender. Da sprangen sofort eine ganze Reihe Leute auf, die anhand von Statistiken zeigten, dass diese Aussage völlig falsch ist. Demzufolge arbeiten viele Menschen in den südlichen Euroländern sogar mehr als der durchschnittliche deutsche Arbeitnehmer. So richtig das auch sein mag, geht es doch am Kern der Sache völlig vorbei. Der deutsche Ökonom Heiner Flassbeck war praktisch der einzige, der sich öffentlich dazu äußerte, wo der Denkfehler liegt:

„Währungsunion bedeutet nämlich gerade nicht, dass alle gleich sein müssen und die Armen reicher und die Reichen ärmer werden müssen, damit es funktioniert. Das ist Gleichmacherei, die Frau Merkel ansonsten doch strikt ablehnt. Die Urlaubstage, die in einem Land genommen werden, sind vollkommen irrelevant für das Funktionieren einer Währungsunion. Währungsunion heißt nur, dass man sich auf ein gemeinsames Inflationsziel einigt und das für alle Zeiten durchhalten will. Ein niedriges Inflationsziel kann aber auch ein Armer einhalten oder einer, der arm ist und dennoch viel Urlaub machen will. Eine niedrige Inflation zu haben heißt nur, dass man sich an seine eigenen Verhältnisse anpassen muss, also an seine eigene Produktivität, wie die Ökonomen das nennen.“ ... >

Wir müssen dabei bedenken: Jedes Land kann seine Produktivität nutzen, wie es will. Wollen die Bürger nicht weiterhin gleich viel arbeiten und mehr produzieren als vorher, sondern lieber mehr Freizeit haben statt mehr Konsum, ist das auch innerhalb einer Währungsunion problemlos möglich, auch dann, wenn die Bewohner anderer Mitgliedsländer sich anders entscheiden. Doch darum ging es bei solchen Aussagen ohnehin nie. Das eigentliche Ziel derartiger Agitation war und ist es, eine sachliche Diskussion über die Ursachen der Eurokrise von vornherein zu verhindern und stattdessen Vorurteile und Stereotypen bei den Bürgern des eigenen Landes anzusprechen. Die angebliche Faulheit der Bewohner der „Schuldenländer“ wurde praktisch zur eigenständigen Ideologie ausgebaut.

Stereotypie: Die angebliche mediterrane Bequemlichkeit als „Mentalität“

Das Klischee des angeblich bequemen Südländers ist seit langer Zeit in Deutschland verbreitet. So lebt der Italiener etwa das „dolce vita“ und hält nicht so viel davon, fleißig zu arbeiten. Mit den anderen Bewohnern des Mittelmeergebietes sieht es aus Sicht des deutschen Kleinbürgers auch nicht viel anders aus. Dort liege man eben gern in der Sonne und lasse alles langsam angehen. Die weite Verbreitung solcher Vorurteile mag ärgerlich sein, aber wie eigentlich immer liegt ein Funken Wahrheit in ihnen, was Demagogen mit ein wenig Geschick ausnutzen können. Sehen wir uns das näher an.

Was weiß der deutsche Durchschnittsbürger überhaupt über die Menschen, die in Südeuropa leben? Und woher weiß er es? Man kann tatsächlich nicht sagen, dass die Meinungen der Deutschen über die Südeuropäer völlig aus der Luft gegriffen sind. Immerhin ist das Mittelmeergebiet seit Jahrzehnten ein beliebtes Urlaubsziel. Hier liegt aber schon der erste Stolperstein. Wann fahren die meisten Leute in den Urlaub? Richtig, im Sommer. Und am Mittelmeer ist es zu dieser Zeit tagsüber immer warm bis unerträglich heiß. Unter solchen Bedingungen arbeitet man auch in Deutschland nicht gern. Nur ist das hier der Ausnahmefall für wenige Tage im Jahr. Nicht selten fällt der ganze Sommer buchstäblich ins Wasser. Deswegen haben sich in Deutschland keine Routinen entwickelt, wie man mit Hitze umgeht. In Südeuropa ist das anders. Dort muss man sich damit abfinden, dass es tagsüber zu heiß ist, um im Freien zu arbeiten. Büros lassen sich zwar klimatisieren – was ein nicht zu vernachlässigender Kostenfaktor ist -, aber wenn dort gearbeitet wird, sieht es der deutsche Urlauber nicht. Außerdem haben die Südeuropäer ihre eigene Urlaubszeit nicht ohne Grund ebenfalls in den Sommer gelegt! Die Einheimischen gehen während der heißesten Zeit des Tages für gewöhnlich gar nicht vor die Tür und wundern sich höchstens über die verrückten Urlauber, die in der größten Mittagshitze die Bergpfade hinauflaufen. Alles in allem nimmt der reisende Deutsche aus dem Mittelmeergebiet also den subjektiven Eindruck von geringer Geschäftigkeit mit nach Hause und lässt sich seine naiven Schlussfolgerungen von seinen Freunden bestätigen.

Der Vollständigkeit halber sollten wir noch etwas mehr sagen. Zeiten witterungsbedingter Untätigkeit gibt es nicht nur im Süden, sondern auch im Norden Europas. Hier sind die Winter meist sehr reich an Schnee. Zwar wird dort auch geräumt und die öffentliche Versorgung wird aufrechterhalten. Aber es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass nach massiven Schneefällen für einige Tage nichts mehr geht. Es wäre sinnlos, das vermeiden zu wollen, weil die Natur einfach stärker ist. Das entspricht durchaus der Situation der besonders heißen Zeit im Süden. In Deutschland ist das Klima allerdings in der einen wie der anderen Hinsicht gemäßigt. Deswegen kann sich der Irrglaube behaupten, das Leben und damit die Wirtschaft müsse unabhängig von den äußeren Bedingungen das ganze Jahr über immer gleich laufen. Was für ein Unsinn das ist, zeigt sich in schöner Regelmäßigkeit, wenn doch einmal Wetterextreme auftreten, die allerdings doch sehr selten wirklich so extrem sind, wie die Medien dann gerne tun. Je nachdem berichten sie dann in reißerischen Bildern, wie Deutschland entweder „unter der Hitzewelle stöhnt“ oder im „Schneechaos“ versinkt. Gerade im Winter, wenn die verarmten Gemeinden mit dem Räumen nicht nachkommen, wird gerne das Märchen vom massiven Wintereinbruch erzählt, um zu verschleiern, dass auch die Winterdienste Opfer der dauernden Ausgabenkürzungen sind.

Die neoliberalen Rhetoriker und Demagogen nutzen die eben besprochenen Vorurteile aus, um die Konstrukteure und Verwalter der EU vor Kritik zu schützen. Es handelt sich um eine Variante des uralten Spiels: Nicht die Gesetze und Institutionen sind falsch konstruiert, sondern die Menschen sind schuld an der Misere! In diesem Zusammenhang wird sehr gern das Wort „Mentalität“ verwendet. Es soll suggerieren, dass die Menschen in Europa miteinander Probleme bekommen haben, weil sie so verschieden sind. Die einen – die mit den Exportüberschüssen - seien von Haus aus gewissenhaft, zuverlässig und fleißig, die anderen – die mit den Defiziten – nähmen stets alles auf die leichte Schulter, neigten zur Bequemlichkeit und es sei bei ihnen nicht üblich, sich an Regeln zu halten. Nicht erst seit Ausbruch der Krise, aber besonders seitdem, spielen sich erstere als Vorbilder und Erzieher der letzteren auf. Das Wort „Mentalität“ impliziert dabei, dass die Bewohner der verschiedenen Länder ganz grundsätzlich verschiedene Menschen seien. Tja, da Rassismus sich immer gut verkaufen lässt, aber heute nicht mehr salonfähig ist, muss man das Denkmuster eben anders verpacken. Auch hier haben wir es wieder mit altem Wein in neuen Schläuchen zu tun. Als es noch offiziell Sklaverei gab, wurde sie oft damit gerechtfertigt, sie sei ein den versklavten Menschen angemessener Zustand, der nur zu ihrem Besten sei. Das Leben der Sklaven habe zwar gewisse Nachteile und Härten, aber bereite ihre Rasse vor, eine höhere Stufe des Menschseins und der Zivilisation zu erklimmen. Heute erzählt man von den „schmerzhaften, aber notwendigen Reformen“, die in Südeuropa durchgeführt werden müssten. Unterdessen fühlt sich der halbinformierte deutsche Kleinbürger gebauchpinselt und freut sich darüber gesagt zu bekommen, in welche Richtung er seinen Zorn entladen soll. Auf Menschen lässt es sich besser mit dem Finger zeigen als auf Institutionen.

Verschweigen unliebsamer Tatsachen: Der Fall Irland(s)

Dem aufmerksamen Beobachter der Tatsachen kann nicht entgehen, dass nicht nur südeuropäische Länder unter die ominösen Rettungsschirme geschlüpft sind. Auch Irland hat schon längst die Unterstützung der noch solventen Euroländer in Anspruch genommen. Darüber wird aber so gut wie gar nicht gesprochen, und das liegt nicht nur daran, dass sich das Zerrbild vom bequemen Südländer nicht auf die Iren anwenden lässt.

Blicken wir einige Jahre zurück. Es ist noch gar nicht lange her, da lief die irische Volkswirtschaft wie geschmiert. Das ehemalige Armenhaus Europas wurde nun zum „Keltischen Tiger“ erklärt. Die Bedeutung der EU-Fördermittel ließen die neoliberal eingestellten Medien unverzüglich unter den Tisch fallen. Wir erwähnen das aber nur der Vollständigkeit halber, denn der Knackpunkt liegt woanders.

Als es Irland gut ging, konnten die Neoliberalen nicht genug Lob finden. Im Wesentlichen lief alles wieder auf das Hohelied der Freiheit hinaus. Wie immer in einem solchen Fall muss man fragen: Freiheit für wen? In Irland waren es vor allem die Banken, die sich allergrößter Freiheit erfreuen konnten. Sie wurden kaum reguliert und konnten tun und lassen was sie wollten. Viele Banken aus allen möglichen Ländern gründeten Tochtergesellschaften oder ähnliche Einrichtungen, um dort den Dreck abzuladen, der beim Aufpolieren der Bilanzen angefallen war. Aber auch realwirtschaftliche Unternehmen siedelten sich für die Ausweisung ihrer Gewinne in Irland an, denn die Grüne Insel hatte sich im „Steuerwettbewerb“ mit Niedrigsteuern weit vorn positioniert. Sogar die Inflationsraten fielen moderat aus, so dass die irischen Lohnstückkosten im Gegensatz zu Südeuropa sogar konkurrenzstark blieben. Alles sah auf den ersten Blick ganz wunderbar aus.

Allerdings dauerte es nicht lange, bis der Keltische Tiger als Bettvorleger endete. Da man den Banken so viel Freiheit gelassen hatte, wurde Irland von der Krise, die sich zuerst an den Finanzmärkten zu zeigen begann, unmittelbar getroffen. Die Regierung verlor keine Zeit und rettete die Banken vor dem Zusammenbruch. Nun war aber das kleine Land in Europas Westen mit den Schulden, die man den Banken abgenommen hatte, total überfordert. Die Regierung tat das, was die angebliche wirtschaftliche Vernunft gebot und behielt den neoliberalen Kurs bei. Ohne Druck von außen begann Irland mitten in der Krise mit der typischen Austeritätspolitik. Das sollte die stark gestiegenen Zinsen auf die irische Staatsschuld zum Sinken bringen. Die Medien waren (wieder) voll des Lobes. Sie behaupteten, die Iren würden dadurch das Vertrauen der Märkte zurückgewinnen und forderten die gleichen Maßnahmen etwa auch von Spanien, das sich in einer vergleichbaren Lage befand. In einem bezeichnend kurzen Blogeintrag verwarf der bekannte amerikanische Ökonom Paul Krugman diese Aussagen schon im Juni 2010 als völligen Unsinn und zieht folgende sarkastische Schlussfolgerung (meine Übersetzung):

„Also, ich bin sehr froh zu hören, dass Irlands stoische Akzeptanz der Austerität die Märkte beruhigt; das muss stimmen, denn schließlich sagt das jeder. Denn wenn ich das nicht wüsste, könnte ich mir die Daten ansehen und schlussfolgern, dass die Märkte tatsächlich weniger Vertrauen in Irland haben als in Spanien, und dass Austerität angesichts einer Wirtschaft in schwerer Depression die Märkte keinesfalls beruhigt. Aber hey, was soll man glauben: das was jeder sagt oder das was man mit den eigenen, lügenden Augen sieht? .“ ... >

Heute wissen wir, dass die Austeritätspolitik Irland rein gar nichts genützt hat. Zusammen mit den „unsoliden“ Ländern der so genannten „Südschiene“ des Euros musste auch der ehemalige neoliberale Musterschüler um Hilfe bitten, um weiterhin die Schulden an die gleichen Banken bezahlen zu können, die zuvor „gerettet“ wurden. Die Medien und Politiker schweigen die irische Episode der Krise tot, weil diese alle ihre falschen Behauptungen über die Ursachen und den Weg aus der Krise so offensichtlich wie es nur geht widerlegen würde und weil sie natürlich nicht zugeben wollen, über Jahre wissentlich oder aus Inkompetenz – was beides in seinen Auswirkungen gleich schlimm wäre – ein Trugbild zum Vorbild erhoben zu haben.

Deutschland als Kritiker mit fleckiger Weste

Bis hierhin haben wir ausschließlich die Krisenrhetorik selbst unter die Lupe genommen. Nun wollen wir auch einen Blick auf das Selbstbild Deutschland werfen, aus dem man das Selbstbewusstsein für die ganze Schulmeisterei zieht. Dabei werden wir feststellen, dass sich unser Vaterland keinesfalls in der Position des makellosen Kritikers befindet, der sich selbst keines Fehlverhaltens schuldig gemacht hat.

Zuallererst fallen massive Widersprüche im verbalen Gebaren bekannter Personen auf. So wird Griechenland etwa dafür kritisiert, Steuern nicht energisch genug eingetrieben zu haben bzw. den Griechen wird vorgeworfen, ihre Steuern vorsätzlich nicht korrekt zu entrichten. Da darf man sich doch sehr wundern. In Deutschland wird andauernd gefordert, die Steuern zu senken, da Steuern praktisch keine positiven Eigenschaften hätten und dem „Wirtschaftsstandort“ nur schaden würden. Und wenn man der Berichterstattung glauben darf, wurden mehrere deutsche Finanzbeamte, die ihre Aufgabe (zu) gewissenhaft erfüllten, mit dubiosen psychiatrischen Gutachten aus dem Verkehr gezogen. So gesehen hat Griechenland doch eigentlich alles richtig gemacht. Der neoliberalen Denkweise zufolge wären die Einnahmeausfälle des Staates nur ein Klacks gewesen im Vergleich zu dem, was der Aufschwung der von der „Steuerlast“ befreiten griechischen Wirtschaft in die Kassen gespült hätte. Oder gilt die konjunkturfördernde Wirkung der Steuersenkung etwa nur dann, wenn sie auch offiziell abgesegnet wird? Tja, sogar das hat Griechenland getan. Dort gab es die berüchtigten Steuersenkungen „auf Pump“, die vor allem den Reichen zugute kamen, aber wie überall sonst auf der Welt die Wirtschaft nicht belebten und erst recht nicht konkurrenzfähiger machten. Aber wir haben ja eben schon festgestellt, dass unliebsame Tatsachen gern verschwiegen werden.

Auch das deutsche Lohndumping und die maßgeblich von Deutschland betriebene Öffnung des EU-Marktes haben wir bereits angesprochen. Es kann nun mal nicht anders sein: Damit die einen über ihren Verhältnissen leben kann, müssen andere unter den ihren leben. Letzteres hat Deutschland über lange Zeit getan, oder besser gesagt, die abhängig Beschäftigten, während die Bezieher von Unternehmens- und Vermögenseinkommen märchenhaft reich wurden. Wenn man sich die historischen Tatsachen ansieht, kann man wirklich auf die Frage kommen, ob mit den Deutschen etwas nicht stimmt. Seit Generationen lassen sie sich von ihren Machteliten nicht nur herumschubsen und ausbeuten, um dann gegebenenfalls für sie auch noch in den Krieg zu ziehen. In Deutschland scheint es tatsächlich so etwas wie eine besondere Ergebenheit gegenüber hierarchisch organisierten Strukturen zu geben. Das Land der Dichter und Denker fand unter den Ländern Europas als eines der letzten zur Demokratie, und das nicht einmal von allein: Erst musste ein Krieg verloren werden, damit die Siegermächte Deutschland in die Demokratie schubsen konnten. Je nachdem wie streng man urteilen will, könnte man auch sagen, dass es nie wirklich in der Demokratie ankam. Zu einem Anlass, der den Franzosen auf die Straße bringt, fragt sich der Deutsche, ob man vielleicht den Betriebsrat einberufen sollte, sofern dieser überhaupt vorhanden ist. Schon Lenin stellte seinerzeit fest, dass der Deutsche, der in die Revolution zieht, zuerst ordnungsgemäß eine Bahnfahrkarte kaufen würde. Über die Gründe für diese Geisteshaltung kann man nur spekulieren, was wir hier aber nicht tun wollen. Es ist angesichts dessen allerdings nicht schwer zu verstehen, warum die Deutschen im Ausland so kritisch gesehen werden. Auch als Deutscher fragt man sich, warum sich die Landsleute über lange Zeit so viel gefallen lassen und sich mit dem angerichteten Unheil auch noch identifizieren.

Die Kritik an Deutschland, die wir hier formuliert haben, ist nichts Neues, wird aber seit Ausbruch der Krise immer häufiger geäußert. Darauf reagieren die deutschen „Eliten“ natürlich nicht mit Einsicht, sondern mit verletztem Stolz und verstärkter Arroganz. Seit die Konjunktur in den defizitären Ländern unter der Last der „Sparmaßnahmen“ in den Keller geht, brüsten sich die Politiker und Medien gern mit den Exporterfolgen nach Fernost. Diese würden den Verlust aus dem innereuropäischen Handel kompensieren und seien ein weiterer Beweis für die enorme deutsche „Wettbewerbsfähigkeit“. Natürlich wird dabei verschwiegen, dass der Euro den deutschen Export begünstigt, weil die mangelnde Konkurrenzfähigkeit der meisten anderen Euroländer die Aufwertungstendenzen bremst. Doch es gibt noch einen viel wichtigeren Grund, die Zukunft des Landes nicht vom Export nach Ostasien abhängig zu machen. Der deutsche Unternehmer und Publizist Manfred Julius Müller warnt:

„Noch hat der deutsche Maschinen- und Anlagenbau einen guten Ruf und vor allem einen Technologievorsprung. Aber die Chinesen sind nicht blöd und können zudem strategisch denken. Sie bestellen Maschinen für die Produktion, aber auch in der Absicht, sie eines Tages nachbauen zu können. Dabei kommt ihnen zugute, dass Technologieklau in China kein besonders scharf verfolgtes Vergehen ist. Aber schon bald werden die Chinesen das westliche Know-how gar nicht mehr benötigen. Ihre aufstrebenden Forschungsabteilungen werden die westlichen Maschinen weiterentwickeln und China wird zur Ideen- und Patentschmiede der Welt werden.“ ... >

Selbstverständlich kann niemand in die Zukunft sehen. Jedoch hat sich in der deutschen Geschichte ein weiteres Sprichwort viele Male als zutreffend erwiesen: Hochmut kommt vor dem Fall! Wir dürfen also gespannt sein, was dieses Mal passiert, wenn Deutschland sich zusammen mit einigen anderen Ländern mit dem Rest der Welt anlegt. Zwar haben die europäischen Machteliten mit den deutschen einträchtig zusammengearbeitet, von seltenen Ausnahmen wie ausgerechnet Cavaliere Berlusconi einmal abgesehen, aber auch diese Solidarität hat Grenzen. Sollte es eines Tages wirklich doch einmal eng werden, dürften sich die Reichen und Mächtigen aus anderen Ländern ihren Kumpanen aus Deutschland nicht weiter verpflichtet fühlen. Wer ungehemmten Egoismus predigt, muss sich nicht wundern, eines Tages allein dazustehen.

Exkurs: Die Rückkehr des soldatischen Heldentums

Wenngleich es uns auf dieser Website vor allem um wirtschaftliche und wirtschaftstheoretische Fragestellungen geht, kann der sprichwörtliche Blick über den Tellerrand nicht unterbleiben. Wirtschaft und Politik sind nun mal nicht voneinander zu trennen. Außerdem haben wir ja schon im ersten Beitrag dieses Abschnitts darauf hingewiesen, dass politische Konflikte oft aus Unstimmigkeiten in wirtschaftlichen Angelegenheiten resultieren bzw. das Militär zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen eingesetzt wird. Wir sollten also einen Blick auf das Verhältnis der deutschen Öffentlichkeit zum Militär werfen.

Das deutsche Kaiserreich war bedingt durch die Dominanz Preußens militärisch geprägt. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, herrschte quer durch die Bevölkerung Kriegsbegeisterung. Allerdings muss man sagen, dass die Deutschen damit nicht allein waren. Die Völker Europas konnten nicht ahnen, welch ungekanntes Grauen der erste große Krieg zwischen voll industrialisierten Nationen mit sich bringen würde. Da der Erste Weltkrieg praktisch nur in Belgien und Frankreich stattfand, behielt das Militär weiterhin einen hohen Stellenwert. Nach ihrer Regierungsübernahme fiel es den Nationalsozialisten nicht schwer, dem deutschen Alltag wieder ein militärisches Gepräge zu geben. Erst die katastrophalen Ereignisse des verlorenen Zweiten Weltkriegs diskreditierten den Militarismus auch in Deutschland. Nur unverbesserliche Konservative und Altnazis schwärmten weiter dafür.

Als der Kalte Krieg begann, steckte Europa noch der Schrecken des Krieges in den Knochen. Jedoch konnte kein Land es sich leisten, auf Streitkräfte zu verzichten. Auch die beiden deutschen Staaten bauten mit offizieller Unterstützung ihrer jeweiligen Bündnispartner wieder Armeen auf. Man kann sagen, dass zu dieser Zeit für die Länder Europas eine Armee etwas war, das man brauchte, aber nicht besonders stolz darauf war. Zudem gewannen ab den 60er Jahren auch verschiedene Friedensbewegungen an Auftrieb, was der Begeisterung für alles Militärische abträglich war. Deutschland, sowohl West wie Ost, musste einen wahren Drahtseilakt vollführen: Einerseits sollte man sich endgültig von der Vergangenheit als gefährlicher Aggressor distanzieren, andererseits aber auch ein zuverlässiger und fähiger Bündnispartner sein. Den Politikern und Offizieren dürfte da die „Altlast“ des Krieges recht gewesen sein, dass die Besatzungsmächte noch Restansprüche auf die Regelung deutscher Angelegenheiten besaßen und die beiden deutschen Länder politisch recht wenig zu sagen hatten. Das änderte sich erst mit der Wiedervereinigung. Deutschland erhielt erst dann seine volle Souveränität zurück.

Zunächst war man eher bemüht, sich aus bewaffneten Einsätzen herauszuhalten und zog die Wahrnehmung logistischer Aufgaben und den Schutz von Zivilisten vor. Auch der Kosovo-Einsatz 1998 war noch kein echter Kriegseinsatz der deutschen Armee, wenn auch die Stationierung deutscher Truppen auf dem Balkan in diese Richtung wies. Eine besondere Ironie entstand dadurch, dass die eigentlich so pazifistischen Grünen, kaum hatten sie zum ersten Mal an der Regierung teilgenommen, deutsche Staatsbürger in den Krieg schickten. Man kann also mit einer Portion Sarkasmus sagen, auf einen Deutschen kann man sich immer verlassen wenn es um Krieg geht, selbst wenn er ein grüner Pazifist ist. Der damalige sozialdemokratische Verteidigungsminister Scharping hat fleißig vom so genannten „Hufeisenplan“ erzählt, ein angeblicher militärstrategischer Plan der serbischen Regierung zur systematischen Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo, dessen Existenz jedoch nie bewiesen wurde. Nachdem man dann Serbien unter Verwendung uranhaltiger Granaten das Kosovo weggenommen hatte, galt einmal mehr der bekannte Spruch von Adenauer: Was schert mich mein Geschwätz von gestern!

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 erfuhr das Militärische weltweit wieder eine Aufwertung. In offiziellen Erklärungen hieß es, der Westen greife nicht gern zu den Waffen, aber sei gezwungen, gegen den weltweiten islamistischen Terrorismus vorzugehen. Das erste Ziel des „Krieges gegen den Terror“ war das von den Taliban beherrschte Afghanistan. Während dieser Einsatz noch durchaus glaubwürdig als Schlag gegen Terroristen und deren Netzwerke ausgegeben werden konnte, wurde es mit dem Zweiten Golfkrieg ungleich schwieriger. Wie wir heute wissen, wurde der damalige irakische Diktator Saddam Hussein zu Unrecht mit dem bekannten Terrornetzwerk Al-Kaida in Verbindung gebracht und auch Massenvernichtungswaffen konnte man nach seinem Sturz nicht finden. Wir haben aber trotzdem keinen Grund anzunehmen, dass der zu dieser Zeit regierende Bundeskanzler Schröder dies gewusst oder korrekt vermutet hat. Seine Verweigerung einer deutschen Beteiligung am Zweiten Golfkrieg dürfte eher politisches Kalkül gewesen sein. Ihm war sicher bewusst, wie unpopulär Kriegseinsätze in Deutschland waren (und noch heute sind) und konnte es sich deshalb nicht leisten, an einem mit fadenscheinigen Argumenten begründeten Feldzug teilzunehmen. Für seine politische Karriere hat sich das ausgezahlt, das muss man ihm lassen.

An einer Beteiligung am „Wiederaufbau“ Afghanistans nach dem Sturz der Taliban – was nicht mit dem Ende des Krieges gleichzusetzen ist – gab es zwar auch massive Kritik, aber er wurde dennoch beschlossen. Den von Anfang an geäußerten Zweifeln am Nutzen dieser Sache für die afghanische Bevölkerung wurde entgegengehalten, er sei notwendig, um dem islamistischen Terror Einhalt zu gebieten. Der damalige Verteidigungsminister Peter Struck formulierte es so: „Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt!“ Wir wollen hier allerdings nicht den Sinn oder Unsinn der Afghanistan-Mission an sich diskutieren. Uns geht es um die Darstellung deutscher Militäreinsätze in der Öffentlichkeit.

Das Markenzeichen der Äußerungen verantwortlicher Politiker war das Abstreiten eines Kriegszustandes. In Afghanistan hatten die Kämpfe nie ganz aufgehört. Deutsche Soldaten wurden in Kampfhandlungen verwickelt und wurden zum Ziel von Anschlägen, aber von Krieg wollte man in Deutschland trotzdem nicht reden. Stattdessen wurden Schwarz-Weiß-Schablonen ausgepackt, denen zufolge die westlichen Armeen die Guten waren und ihre Gegner die Bösen. Man warf nicht nur alle Gruppen von Kämpfern, so verschieden sie auch sein mögen, auf einen Haufen und nannte sie einfach „Taliban“. Geradezu grotesk wurde es, als man die Angriffe von Milizen aus dem Hinterhalt und ähnliche Aktionen als „feige“ Angriffe von „Schurken“ bezeichnete. Da muss man sich schon fragen, wie sich die Politiker und sonstige Redenschwinger einen bewaffneten Konflikt vorstellen. Sollen sich diejenigen, die gegen die westlichen Truppen kämpfen wollen, etwa der überlegenen Bewaffnung offen stellen und einen „ehrenhaften“ Tod sterben? Warum wurde und wird in den Medien immer nur die Zahl der getöteten westlichen Soldaten diskutiert, aber nie die der getöteten Kämpfer der Gegenseite, wo doch deren Verluste viel höher sind? Und warum wird die Motivation der (angeblichen) Terroristen immer nur auf moralische Beweggründe zurückgeführt, ohne überprüfbare Zusammenhänge aufzuzeigen? Derartige Fragen werden aber in den wichtigsten Medien nicht gestellt. Stattdessen wird das traurige Schicksal verwundeter und getöteter Soldaten und ihrer Familien in dramatische Bilder gekleidet und nur ihre Rolle als Opfer thematisiert. Eine besondere Rolle spielte hier der Baron Karl-Theodor von und zu Guttenberg. Nachdem er in seiner Zeit als Wirtschaftsminister eine gewisse Popularität gewonnen hatte - weniger durch seine Politik, als durch seinen Klatschblatt-Glamourfaktor und seine positive, sympathische Darstellung in den Medien – bekleidete er nach der Wahl 2009 das unpopuläre Amt des Verteidigungsministers. Er betätigte sich als eine Art PR-Manager für das Militär. Geradezu legendär wurde seine Phrase vom „umgangssprachlichen Krieg“, den er in Afghanistan sehen wollte. In seinem Auftreten ließ er sich von Spott und Kritik nicht beirren, womit er sich durchaus Respekt und ein gewisses Ansehen erwerben konnte. Er versuchte in seiner Amtszeit, an alte Traditionen anzuknüpfen und hielt unter anderem anlässlich einer Trauerfeier für getötete Soldaten eine Rede, in der er meinte, deren Kinder könnten stolz auf ihre Väter sein. Das stieß gelinde gesagt auf ein geteiltes Echo. Der bekannte Kabarettist Georg Schramm meinte dazu (sinngemäß): „Die Kinder sollen nicht stolz sein, die sollen traurig sein!“ Wie allgemein bekannt sein dürfte, stürzte Guttenberg später über die berühmt gewordene Plagiatsaffäre. Sein zackiges und schneidiges Auftreten bis zum unzweifelhaften Nachweis seiner Verfehlung blieb allgemein im Gedächtnis. Jedoch ist er damit nicht endgültig in der Versenkung verschwunden. Schon kurze Zeit nach seinem Rücktritt kamen Spekulationen über seine Rückkehr in die Politik auf, die niemals ganz verstummt sind.

Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan weist noch eine besonders kuriose Eigenschaft auf. Er wurde mit dem Kampf gegen den Terror gerechtfertigt. Bis heute hat kein Politiker oder „Terrorexperte“ erklärt, diese Gefahr sei zurückgegangen. Der Terrorismus sei nach wie vor eine große Bedrohung. Trotzdem wird die Afghanistan-Mission nun beendet. Da fragt man sich, was das Ganze denn eigentlich sollte. Sie hat zwar nichts genützt, war aber trotzdem sinnvoll. Oder was? Man muss gar keine Meinung dazu haben, um das absurd zu finden. Offensichtlich sind die Soldaten selbst aber auch nicht gerade Feuer und Flamme für ihre Mission, wie wir einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 23. 05. 2010 über einen Truppenbesuch des damaligen Bundespräsidenten Köhler entnehmen können:

„Seine Absicht war, mit einem Zwischenstopp in Afghanistan den Soldaten im Camp Marmal den Rücken zu stärken - und in Deutschland mehr Respekt für den Einsatz einzufordern. Seine Wirkung war: Enttäuschung.
Der Besuch von Bundespräsident Horst Köhler im Feldlager Masar-i-Sharif hinterließ bei den Soldaten der Bundeswehr offenbar einen eher schlechten Eindruck.
Nach einem Bericht von Bild am Sonntag stellte der CDU-Mann in einem Gespräch mit Soldaten indirekt deren Siegeszuversicht in Zweifel. Er habe einige der Truppe gefragt, wie zuversichtlich sie seien. Schweigen. Daraufhin habe Köhler einen US-Presseoffizier angesprochen, der neben ihm stand: "What do you think about Afghanistan?" (Was denken Sie über Afghanistan?). Der Offizier habe geantwortet: "I think we can win this." (Ich glaube, wir können das gewinnen).
Daraufhin habe Köhler sich wieder den deutschen Soldaten zugewandt und gefragt: "Warum höre ich das nicht von Ihnen?" “ ... >

Allerdings darf man sich durchaus darüber freuen, dass die Soldaten sich nicht instrumentalisieren lassen und in einen unreflektierten Hurra-Patriotismus verfallen. Vor diesem Hintergrund sollten wir die Bemühungen betrachten, die in den letzten zehn Jahren vermehrt unternommen wurden, um, das Bild des Militärs in Deutschland wieder aufzupolieren. So sind seit einiger Zeit z. B. Werbespots der Bundeswehr in der Fernsehwerbung zu sehen. Offensichtlich soll der Dienst bei den Streitkräften nicht mehr als aufgezwungene Pflicht angesehen werden, sondern als eine attraktive Berufswahl, zumal die Wehrpflicht kürzlich abgeschafft wurde. Wer die historischen Tatsachen kennt, der wird unmittelbar eine Parallele zu früheren Zeiten erkennen.

Seit Beginn der Zivilisation gibt es Menschen, normalerweise Männer, die an bewaffneten Auseinandersetzungen teilnehmen. Doch nicht immer kämpften diese zum Schutz ihrer Heimat oder um Eroberungen, die ihrem Volk zugute kommen sollten. Man könnte sogar sagen, dass es völlig altruistische Krieger eigentlich nie gab. Der Dienst beim Militär bot oft Aussicht auf Beutezüge oder aber der Einsatz an sich wurde bezahlt. Söldner, also Personen die für Geld kämpfen, gibt es so lange, wie es Armeen gibt. Oft stellten sie sogar die Mehrheit der ausgebildeten Kämpfer. Der Beruf des Söldners bzw. des Soldaten war in vielen Fällen eine Möglichkeit für die Ärmsten, sich ein Einkommen zu erwerben. Der Tod auf dem Schlachtfeld oder im Lazarett war keine allzu schlechte Alternative zum Hungertod. Für Leute mit genügend Geld gab es indessen immer die Möglichkeit, die Armen für sich kämpfen zu lassen.

Eine ähnliche, wenn auch nicht ganz so drastische Situation finden wir heute vor. In den USA etwa, wo die Wehrpflicht längst abgeschafft ist, treten viele Leute aus rein wirtschaftlichen Gründen in die Armee ein, etwa um eine Ausbildung zu bekommen oder Schulden zurückzuzahlen. Für die Kinder aus reichem Hause bietet eine Berufsarmee den Vorteil, im Kriegsfall nicht einberufen zu werden. So wird die peinliche Situation unmöglich, die sich in Ländern mit einer Wehrpflichtigenarmee schon oft ereignet hat: Zwar können sich auch die Sprösslinge „besserer Kreise“ nicht dem Militärdienst entziehen, doch gefährliche Einsätze bleiben ihnen erspart. Auch die Söhne von Offiziersfamilien, die es gerade in Deutschland bis zum Zweiten Weltkrieg gab, erreichten in der Regel sehr früh einen so hohen Rang, dass sie sich nicht allzu sehr um ihr Leben sorgen mussten. In den Armeen der Neuzeit haben die Befehlshaber im Normalfall gute Chancen, auch größere Kriege unbeschadet zu überstehen.

Doch welche Anhaltspunkte für die verdeckte Wiederbelebung des Söldnertums haben wir für Deutschland? Die Abschaffung der Wehrpflicht und die Werbung für die Bundeswehr als Arbeitgeber haben wir bereits genannt. Das sind aber nur Indizien, wobei das eine aus dem anderen folgt. Ohne Wehrpflicht muss sich die Bundeswehr eben verstärkt um Rekruten bemühen. Das muss noch nicht viel heißen. Es gibt jedoch innerhalb der gegenwärtigen Personalstrukturen einen deutlichen Hinweis auf den Dienst bei der Armee als Ausweg aus der Arbeitslosigkeit: Viele der höher qualifizierten Angehörigen der Bundeswehr stammen aus Ostdeutschland. Bekanntlich haben die neuen Länder massive Probleme mit hoher Arbeitslosigkeit und Abwanderung. Viele junge, qualifizierte Ostdeutsche haben sicher die Erfahrung gemacht, dass es auch in Westdeutschland nicht einfach ist, eine vernünftige Arbeit zu finden, erst recht für sie nicht. Auch wenn die Unternehmen es gerne bestreiten, ist eine Auswahl der Bewerber ausschließlich nach Qualifikation sehr unrealistisch. Wer zugezogen ist, der hat meist keine Beziehungen, und da in den Personalabteilungen auch nur Menschen arbeiten, sind die nachteiligen Wirkungen eines fremden Akzents und (wahrscheinlich oft auch unbewusst angewandter) Vorurteile ebenfalls nicht zu unterschätzen. Ein Job bei der Bundeswehr bietet langfristig ein relativ sicheres Einkommen. Die Einschränkungen des Privatlebens sind zwar absehbar, aber diese kommen nicht mehr allzu schlecht weg wenn man sie mit dem vergleicht, was „normale“ Berufstätige mittlerweile so erdulden müssen.

Wir wollen und sollten nicht mit dem Finger auf die Menschen zeigen, die sich für den Militärdienst entscheiden. Doch wir dürfen durchaus die Vermutung anstellen, dass vielen von ihnen gar nicht bewusst ist, worauf sie sich einlassen. Dies wiederum ist keine Situation, die für den Soldatenberuf allein typisch wäre. Da niemand hellsehen kann, ist es unmöglich vorher zu wissen, wie man in einer bestimmten Situation reagieren wird. Das Typische am Militärdienst ist die enorme psychische Belastung, die er mit sich bringt. Der Einsatz in einem Kriegsgebiet kommt einer andauernden Extremsituation gleich. Unzählige Soldaten kehren aus ihren Auslandseinsätzen als seelische Wracks zurück. Damit das passiert, müssen sie gar nicht wiederholt in schwere Kämpfe verwickelt gewesen sein. Meist reicht es aus, dauernd die Gefahr ertragen zu müssen, angegriffen zu werden oder mit ansehen zu müssen, wie ein Kamerad getötet wird. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass es kaum jemanden geben dürfte, der wirklich für den Militärdienst geeignet ist, d. h. die trotz seines Berufs ein normaler, gesunder Mensch bleiben kann.

Wie wird Deutschland in Zukunft mit seinem Militär umgehen? Darüber können wir nur spekulieren. Potentielle Anlässe für weitere Einsätze der Bundeswehr gibt es reichlich. Auch das Ausrücken deutscher Streitkräfte wird anscheinend immer lockerer gesehen. Die großen Reedereien hatten jedenfalls kein Problem mit dem Eintritt der deutschen Marine in den Kampf gegen die berühmt-berüchtigten somalischen Piraten, ja sie haben es unverblümt gefordert, auch wenn viele ihrer Schiffe aus steuerlichen Gründen gar nicht unter deutscher Flagge unterwegs sind. Die Ursachen für die Piraterie am Horn von Afrika scheinen sie jedenfalls nicht zu interessieren. Nun bleibt abzuwarten, welche Veranlassungen es in Zukunft für Auslandseinsätze der Bundeswehr geben wird und wie diese dann gerechtfertigt werden. Auf eines sollten wir allerdings nicht setzen, nämlich dass Menschen ohne Perspektive aus moralischen Gründen den Dienst an der Waffe nicht in Erwägung ziehen. Bekanntlich kommt erst das Fressen, dann die Moral (Bertolt Brecht). Das war immer so, wird so bleiben und man kann es den Menschen nicht zum Vorwurf machen. Wer wütend sein will, der sei nicht auf die Soldaten wütend, auch nicht auf andere Personen, sondern auf die politische Ordnung, die immer wieder militärische Konflikte entstehen lässt.

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