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  There is no alternative - oder es gibt sie doch? (II)
 
  Bismarck-Modell: Doch an dem deutschen Wesen soll die Welt genesen?
 
 
„Wenn irgendetwas zu wünschen wäre, dann gerade, daß die deutsche Wissenschaft mit ihrem neu erwachenden Interesse an der Theorie ... nicht die Entwicklung noch einmal durchläuft, die die angelsächsische durchlaufen hat und mit der sie - wenigstens, was die eigentliche Theorie angeht - in der heutigen Sackgasse angelangt ist“
 
      Gunnar Myrdal, bekannter schwedischer Ökonom                                                     

Sind Ausschweifungen und Übertreibungen immer und unbedingt schlecht? Ich würde sagen, wenn man sie zugibt, dürfen sie manchmal erlaubt sein. Mit ihnen lässt sich nämlich eine Botschaft schnell und klar vermitteln. In diesem Sinne sage ich:

Der Ruf Deutschlands von der einmaligen technischen Kompetenz der Deutschen ist am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden. Die Deutschen waren damals die richtigen Naturwissenschaftler, die anderen waren Wasserträger. War die Heimat der Ersten industriellen Revolution England, so die der Zweiten dagegen Deutschland. Sollte dies nicht darauf hindeuten, wir seien Übermenschen? Man würde meinen, so hätten sich damals die deutschen Wissenschaftler selbst gefühlt. Das stimmt aber nicht. Die Idee des Übermenschen haben sich Politiker und Philosophen ausgedacht, unseren damals so erfolgreichen Naturwissenschaftlern wäre so etwas nicht in den Sinn gekommen. Woran konnte es aber liegen, dass die Naturwissenschaften damals gerade in Deutschland so epochale Fortschritte machten?

Die Antwort ist einfach. In dieser Zeit begann die deutsche Wirtschaft eine so dynamische Entwicklung, wie sie davor aus der Geschichte nirgendwo bekannt war. Schließlich war auch die Nachfrage nach Wissenschaft entsprechend groß und das Angebot ist spontan entstanden. Das wäre die Antwort auf die Frage, warum wir so viele große Wissenschaftler hatten. Diese Antwort veranlasst eine nächste Frage. Wenn die deutsche Wirtschaft damals so erfolgreich war und die englische einholen und überholen konnte, was war die Ursache dafür?

Die Bedingungen für die Entwicklung der Naturwissenschaften haben sich damals nicht zufällig in Deutschland so ergeben, sondern waren von der Politik gezielt eingerichtet worden. Durch die preußischen Reformen – nach ihren Hauptinitiatoren auch Stein–Hardenbergsche Reformen genannt – sollte sich das rückständige Deutschland modernisieren, aufbauend auf „das dreifache Primat der Waffen, der Wissenschaft und der Verfassung“. Den Reformen im Ausbildungswesen, die hauptsächlich von Wilhelm von Humboldt entworfen wurden, kam in der Konzeption der Reformer eine Schlüsselstellung zu. An die Stelle der früheren privaten, kirchlichen, städtischen oder korporativen Ausbildungseinrichtungen trat ein staatlich umfassend organisiertes und kontrolliertes Schulsystem, gegliedert in Volksschule, Gymnasium und Universität. Die allgemeine Schulpflicht wurde eingeführt, es wurde staatlich vorgeschrieben, was wo und wann gelehrt werden sollte, und es wurden staatlich anerkannte Leistungskriterien als Voraussetzung für den Zugang zu den höchsten Ausbildungsstufen geschaffen, wo eine im Sinne von Humboldt reformierte Universität stand, an der die Studenten durch Teilnahme an den praktischen wissenschaftlichen Forschungen selbständiges theoretisches Denken erlernen sollten. Ausbildung und technisches Fachwissen wurden somit Voraussetzungen für den sozialen Aufstieg. Dies alles mag uns heute als selbstverständlich vorkommen, da es sich in verschiedenen Variationen über die ganze Welt verbreitet hat, es war aber zu dieser Zeit eine wirklich großartige neue Errungenschaft. Man würde kaum übertreiben, wenn man sagt, die Deutschen wurden zum ersten allgemein gebildeten Volk in der ganzen Geschichte. In der Tat hat dieses Ausbildungssystem eine fast unglaubliche Menge von hervorragenden Wissenschaftlern hervorgebracht. Am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es keine Wissenschaft, in der Deutsche nicht in den vordersten Reihen dabei waren – man muss sich nur anschauen, woher die meisten Nobelpreisträger kamen. Deutschland wurde zum Volk von Genies.

Schon bei der Bildung und Ausbildung führte der deutsche Weg in den Kapitalismus nicht durch Freiheit - private Schulen und Unis - sondern er wurde vom deutschen Staat geebnet und realisiert. Und wie war es mit der angeblich sagenhaften Freiheit? Es wurde den großen Unternehmen und ihren Verbänden überlassen, die Konkurrenz sinnvoll zu beschränken. Ganz anders als bei den damals bereits entwickelten Industrienationen hat das Deutsche Reich die Kartellverträge zivilrechtlich geschützt. So steht zum Beispiel in einem Urteil des Reichsgerichts zu Gunsten eines Kartells von 1897 als Begründung, dass es nicht gegen die Gewerbefreiheit verstoße, „wenn sich Gewerbegenossen zu dem in gutem Glauben verfolgten Zwecke miteinander verbinden, einen Gewerbezweig durch Schutz gegen die Entwertung seiner Erzeugnisse und die sonstigen aus Preisunterbietungen Einzelner hervorgehenden Nachteile lebensfähig zu erhalten“ (Mussler: 24). Die rückständige deutsche Wirtschaft hat also die einst ökonomisch weit überlegene englische nicht nur durch die Praxis der Erweiterung der gewerblichen Freiheiten, sondern auch durch sinnvolle Beschränkung derselben eingeholt und überholt.

Wie seltsam es einem auch vorkommt, das damalige erste deutsche Wirtschaftswunder war nicht durch forcierte Freiheit hervorgerufen, sondern durch staatlich gelenkte Investitionen. Es war ganz anders als beim Entstehen des Kapitalismus in England, was von Karl Polaniy, einem ungarisch-österreichischen Wirtschaftshistoriker und Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler in seinem berühmten Buch The Great Transformation beschrieben wurde. Die Große Transformation, das Entstehen des Kapitalismus in England, bedeutete nach Polaniy die Einbettung der Politik in die Wirtschaft. Die deutsche Marktwirtschaft dagegen war von Anfang an in die Politik eingebettet. Man sollte sich erinnern, welche Wirtschaftswissenschaftler („Nationalökonomen“) damals den Diskurs in der ökonomischen Lehre bestimmt haben:

  Die deutsche Schule der Nationalökonomie
  list schmoller sombart roscher
  Friedrich List: „Laissez-faire Wirtschaftswissenschaft ist nicht diejenige Wissenschaft, die lehrt, wie die produktiven Kräfte geweckt und gepflegt und wie sie unterdrückt oder vernichtet werden.“ Gustav Schmoller: „Das unsittlich hastige Streben nach Besitz und Reichtum auf Seite der Fabrikanten, die Not auf Seite der Arbeiter führt zur Lohnbedrückung, zum Drucksystem, zur absoluten Herrschaft des Kapitals in der Wirtschaft, in der Gesellschaft, im Staat.“ Werner Sombart: „Alles in allem: Wir sind nun auch reif für eine stationäre Wirtschaft und schicken die „dynamische“ Wirtschaft des Kapitalismus dahin, woher sie gekommen ist: zum Teufel.“ Wilhelm Roscher: „Zur wirtschaftlichen und politischen Blüte jeden hochkultivierten Volkes muß eine Harmonie der großen, mittleren und kleinen Einkommen die unentbehrliche Voraussetzung heißen.“

Deutschland ist also nicht wie England zu einer industriell hochentwickelten Wirtschaft durch Einbettung der Wirtschaft in die Politik geworden. Die Große Transformation, um mit Polaniy zu sprechen, ähnelte einem sozialen Genozid, in Deutschland dagegen mit sozialem Fortschritt. Es war ein adliger Konservativer, Bismarck, der in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland die Renten– und Krankenversicherung einführte. „Der Glaube an die Harmonie der Interessen“, sagte er damals, „hat in der Geschichte bankrott gemacht. Gewiss kann der einzelne viel Gutes tun, aber die soziale Frage lösen kann nur der Staat“. Es war die Zeit, als man sehr stolz sein konnte, Deutscher zu sein. Aber die gute Zeit hat nicht lange gedauert. Nach einigen Jahrzehnten des Wirtschaftswunders begann die deutsche Wirtschaft zu stagnieren. Das deutsche Bismarck-Modell hat sich also auch nicht als krisenfest erwiesen. Als auch die anderen westlichen Wirtschaften in die Krise gerieten, begann bald der Erste Weltkrieg aus dem Wettstreit um Kolonien.

Wenn das deutsche Strategiemodell einer „nachholenden“ Entwicklung zur hochindustrialisierten Marktwirtschaft eine Ausnahme wäre, könnte man auf eine streng wissenschaftliche Erklärung verzichten. Der Erfolg dieses Modells in Deutschland war aber keine Ausnahme. Das nationale System der Politischen Ökonomie (Friedrich List), wie man eine „verspätete Nation“ (Helmuth Plessner) zu einer industriell fortschrittlichen Marktwirtschaft verwandelt, haben zuerst die Japaner studiert und kopiert, auch mit großem Erfolg. Dann die asiatischen „kleinen Tiger“ und vor einigen Jahrzehnten China. Es ist interessant, dass Russland unter Jelzin zuerst zum Kapitalismus auf einem extrem liberalen Weg kommen wollte, durch Einbettung der Politik in die Wirtschaft, was zum „sozialen Genozid“ - wie die Große Transformation damals in England – führte, nur ohne ein Happy End. „Russland erlitt größere volkswirtschaftliche Verluste - gemessen am Rückgang des BIP - als während des Zweiten Weltkriegs“ (Stiglitz 2002: 170). Die ökonomische Erholung kam erst, als Putin die russische Wirtschaft in die Politik eingebettet hat.

Die liberale Lehre hat keine Antwort auf die Frage, warum sich in die Politik eingebettete Wirtschaften erfolgreich entwickeln konnten. Und wenn man keine Antwort hat, ist es nicht die schlechteste Option, so zu tun, als ob es eine solche Frage gar nicht gibt. Einer der größten liberalen Ökonomen des 20. Jahrhunderts, Jozef Schumpeter, wollte diese Frage nicht ignorieren und es ist ihm auch eine pfiffige Erklärung eingefallen. Dass Wirtschaft mit staatlichen Monopolen durch weniger Konkurrenz manchmal mehr Effizienz bringe als die freien Wirtschaften, so Schumpeter, „ist nicht paradoxer als die Aussage, daß Autos schneller fahren als sie es sonst täten, weil sie mit Bremsen versehen sind“ (1946). Es ist höchst  merkwürdig, wie hier der große Bewunderer des Modells der atomistischen Konkurrenz von Walras auf einmal auf der Oberfläche unbekümmert und fröhlich mit Spitzfindigkeiten plantscht.

Eine analytisch strenge Antwort auf die Frage der erfolgreichen „nachholenden“ Industrialisierung durch den Staat bietet die kreislauftheoretische Analyse der Marktwirtschaft. Diese Analyse erklärt auch, warum das deutsche Modell der Einbettung der Marktwirtschaft in die Politik nicht weiter erfolgreich sein konnte, als der Prozess der Einholung beendet war. Danach tauchten in der deutschen Wirtschaft die gleichen Schwächen und Probleme auf, wie die im liberalen Kapitalismus. Deutsche Nationalökonomen hatten dazu auch keine Erklärung - die Hoffnung des schwedischen Ökonomen Myrdal (Zitat oben) wurde bitter enttäuscht. Die Erklärung des deutschen Erfolgs und des folgenden Versagens mit der kreislauftheoretischen Analyse wird im nächsten Teil näher erörtert. Am deutschen Wesen wird also die Welt leider doch nicht genesen. Hier noch ein Beispiel für das sozusagen „deutsche Kaiser-Modell“, wo es auch zuerst zum Erfolg führte und dann zum Desaster.

Nichts ist nämlich peinlicher für die überzeugten Liberalen als die Tatsache, dass sich die ruinierte deutsche Wirtschaft nach dem 1. Weltkrieg auch erst dann erholte, als sie Hitler brutal in die Politik eingebettet hat. Das ist Hitler gelungen, indem er das Geld in die Hand nahm und es investierte. „Hitler hatte ein Mittel gegen die Arbeitslosigkeit gefunden, bevor Keynes seine Erklärung zu Ende geführt hatte, warum es überhaupt Arbeitslose gab“ – so hat es die bekannte Keynesianerin der ersten Stunde, Joan Robinson, auf den Punkt gebracht (1972: 8). Die Nazi–Regierung hat während der katastrophalen Wirtschaftskrise, als die liberale Theorie nur weitere Zins– und Lohnsenkungen forderte, „das Wagnis an die Stelle des Dogmas gesetzt. Durch planmäßigen Einsatz der brachliegenden Kräfte zur Schaffung von Reichsautobahnen, Schiffahrtswegen, Meliorationen, Siedlungsbauten und Versorgungsanlagen wurden die Arbeitslosenziffern innerhalb weniger Jahre fast restlos beseitigt. Die Mittel zur Finanzierung dieser Investitionen wurden … durch kreditschöpfende Banken zur Verfügung gestellt“ (Föhl 1955: 6). Der durchschnittliche Arbeiterwochenlohn zwischen 1933 und 1939 stieg um 2,8% pro Jahr, was „zu einem Lebensstandard führte, der höher war als der von 1933, wenn auch nicht unbedingt höher als der von 1928“, also im besten Jahr zwischen den beiden Weltkriegen. Später, „zwischen 1939 und 1941 stiegen die privaten Einkommen um 21 Prozent. Folglich erhöhte sich die überschüssige Massenkaufkraft auf mehr als das Doppelte“ (Aly: 94). Als erstaunlich wirksam haben sich die Staatsausgaben insbesondere bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erwiesen. Seit 1922 war die Arbeitslosigkeit in Deutschland nie unter den niedrigsten Stand von 6,9% (1925) gesunken, im Jahre 1938 lag sie nur noch bei 3%, während sie in Großbritannien 13% und in den Niederlanden sogar 25% betrug. Um diese Erfolge der Staatsausgaben wegzureden, spotten die Neoliberalen genüsslich über sie als über eine staatlich finanzierte Beschäftigung von Unqualifizierten, die auf Kosten der Steuerzahler hier und da sinnlos gebuddelt hätten. Wie wir von den Neoliberalen gewohnt sind, leugnen sie auch hier dreist die Tatsachen. Von einem sinnlosen Buddeln hätte sich niemals „das reale Volkseinkommen zwischen 1933 und 1939 mit einer jährlichen Rate von 8,2% erhöhen und 1939 den Stand von 1936 um ein Drittel überschreiten“ können (Petzina 1977: 121). Dieser Anstieg des realen Volkseinkommens übertraf sogar das wirtschaftliche Wachstum in dem erfolgreichsten ersten Jahrzehnt (1949 bis 1959) der Bundesrepublik (Deutschland), dem gemeinhin die größte Dynamik in der deutschen Wirtschaftsgeschichte seit Beginn der Industrialisierung zugeschrieben wird. Um was für einen Erfolg es sich wirklich handelte wird man sich erst richtig bewusst, wenn man sich an die Ausgangslage erinnert. Im Wochenbericht des „Instituts für Konjunkturforschung“ vom 17. Februar 1932 stand knapp aber deutlich formuliert: „Die industrielle Produktion hat sich seit ihrem Höchststand von Mitte 1929 um etwa 46% vermindert. Bis zum Ende 1931 war sie auf den Stand von Ende der neunziger Jahre zurückgefallen“. … Nicht nur die Beseitigung der Arbeitslosigkeit machte die Anziehungskraft des Faschismus aus. In Frankreich sind zum Beispiel „die wichtigsten Elemente des umfangreichen Wohlfahrtsstaates – Rentenversicherung, Kindergeld und die technokratische Überwachung der Wirtschaft – von dem faschistischen Vichy–Regime geschaffen worden, das während des Zweiten Weltkriegs mit Hitler kollaborierte“ (Greider: 503). Kein Wunder, dass Hitler in ganz Europa als Wohltäter und Menschenfreund bewundert wurde, etwa bei den spanischen Frankisten, den italienischen Anhängern Mussolinis, den kroatischen Ustascha – und selbst bei einigen serbisch–orthodoxen Popen. Einer von ihnen, der Hochwürdige („vladika“) Nikolaj Velimirović, erblickte in Hitler sogar einen Missionar, der mit dem Heiligen Sava (1175–1236) zu vergleichen sei, dem Begründer der serbisch–orthodoxen Kirche.

BEMERKUNG: Blaue Schrift stellt Ausschnitte aus dem Buch Marktwirtschaft neu denken dar (S. 420, 284, 488, 285, 557 und 543).

Fortsetzung folgt

 

     
Keywords und Lesehinweise  
#Geld und was tun mit ihm?  
 
Ausführliche Fachartikel auf der Website:  
Überelegugnen der Ökonomen über das Geld und seine Funktionen lesen
Friedmans Geldregelung versus demokratische Geldschöpfung und Geldregelung lesen
Im eBook thematisiert:  
Marktwirtschaft neu denken: Teil II, Kapitel 8  
 
     
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Ausführliche Fachartikel auf der Website:  
Der Neoliberalismus - ein ideologischer Verrat an Liberalismus und Wissenschaft lesen
Im eBook thematisiert:  
Marktwirtschaft neu denken: Teil I, Kapitel 1.3  
 
     
     
 
 
 
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