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  Die Geburt und der Untergang des kolonialen bzw. neoliberalen Kapitalismus (2)
       
  Die Frage der Methode: Was sind (A) Tatsachen und was sind (B) Faktoren  
       
   
        „In der Tat ist die wissenschaftliche Wahrheit eine Voraussage oder besser noch: eine Verkündigung. Wir rufen die Geister zur Übereinstimmung auf, wenn wir eine wissenschaftliche Botschaft verkünden und dabei im selben Zuge einen Gedanken und eine Erfahrung vermitteln, die wir in einer Verifikation miteinander verknüpfen: Die wissenschaftliche Welt ist also unsere Verifikation.  
Gaston Bachelard, ein französischer Philosoph  
   
 
       

B/ Was sind Tatsachen

Von Ökonomen und Geisteswissenschaftlern hört man immer wieder, dass man in ihren Wissenschaften Experimente nicht machen kann, womit sie die auffällige und fast erschreckende Rückständigkeit im Vergleich zu Naturwissenschaften rechtfertigen. Ja, mit den Experimenten ist es in den Sozialwissenschaften nicht einfach, möglich aber sind sie. Die Chinesen zeigen es. Sie nehmen ein Gebiet, wo sie die Auswirkungen von sozioökonomischen Maßnahmen testen. Bei guten Ergebnissen, übernimmt es das ganze Land. Die Sozialwissenschaftler verschweigen uns aber gern die Vorteile ihrer theoretischen Forschung, die es in den Naturwissenschaften nicht gibt. So hat zum Beispiel keiner je ein Atom gesehen und das wird ganz bestimmt auch nie jemandem möglich sein. Man hat trotzdem seine Struktur immer besser erklärt, obwohl seine Teile noch unendlich kleiner als das Atom selbst sind. Dass ihre Theorien über das Atom - und über vieles mehr - richtig sind, ist indirekt bewiesen, durch das Funktionieren von Handys und sehr vielen anderen Erfindungen. Die Geisteswissenschaften sind dagegen in einer sehr angenehmen Position, da sie Menschen und Gesellschaften mit all ihren Erscheinungsformen buchstäbliche sehen, also sie mit offenen Augen betrachten können. Trotzdem melden sie seit zwei Jahrhunderten, nach der neoliberalen reduktionistischen Wende in ihrer Wissenschaftsphilosophie, keine offensichtlichen Fortschritte mehr. Der Kapitalismus, in dem wir heute leben, ist genau derselbe wie vor zwei Jahrhunderten - die Unterschiede sind nur dort zu sehen, wo die Naturwissenschaften erfolgreich waren.

Warum sind die Naturwissenschaften erfolgreich? Das untersuche ich in meinem neuen Buch, das noch nicht fertig ist:

 

Paul Simek


Warten auf
Paradigmenwechsel



Gibt es noch
Hoffnung für Sozial- und
Wirtschaftswissenschaften ?



?.2024

Kurz gefasst: Die Naturwissenschaften sind wegen ihrer Wissenschaftsphilosophie erfolgreich. Bei ihnen werden Theorien als richtig anerkannt, wenn aus ihnen (ex ante) hergeleitete Vorhersagen oder vorgeschlagene Handlungen nachher (ex post) den empirischen Tatsachen entsprechen. Hiermit unterscheiden sich Wissen und Wahrheit der richtigen Wissenschaften von anderen, metaphysischen und spekulativen „Wahrheiten“. „In der Tat ist die wissenschaftliche Wahrheit eine Voraussage oder besser noch: eine Verkündigung. Wir rufen die Geister zur Übereinstimmung auf, wenn wir eine wissenschaftliche Botschaft verkünden und dabei im selben Zuge einen Gedanken und eine Erfahrung vermitteln, die wir in einer Verifikation miteinander verknüpfen: Die wissenschaftliche Welt ist also unsere Verifikation“ (Bachelard 1988: 17). Paul Dirac, der auch in der ersten Reihe beim Entstehen der neuen Physik stand, hat sich dazu sehr präzise geäußert. Nicht anders als die klassische Mechanik, auch die neue Physik bzw. „die Quantenmechanik will nichts anderes, als die den Erscheinungen zugrunde liegenden Gesetze in einer solchen Form aufstellen, daß man aus ihnen eindeutig bestimmen kann, was unter gegebenen experimentellen Bedingungen geschehen wird. Der Versuch wäre zwecklos und sinnlos, tiefer in die Beziehungen zwischen Wellen und Teilchen eindringen zu wollen, als es für diesen Zweck erforderlich ist“ (Dirac 1930: 2). Kurz und bündig gefasst: „Erfahrung bleibt das einzige Kriterium der Brauchbarkeit einer mathematischen Konstruktion“ – so Einstein (Mein Weltbild: 153). Das ist der Standpunk von Hume. Es kann deshalb nicht verwundern, dass der größte Physiker des vorigen Jahrhunderts über Hume schreibt: „Wenn man seine Bücher liest, wundert man sich, daß nach ihm viele und zum Teil hochgeachtete Philosophen so viel Verschwommenes haben schreiben und dankbare Leser finden können“ (ebd.: 45).

Ich erwähnte gerade eine reduktionistische Wende in den Sozialwissenschaften vor etwa zwei Jahrhunderten. Die Sozialwissenschaften hielten sich davor an das Kriterium der Verifikation durch zukünftige Tatschen, später nicht mehr. Davor waren sie erfolgreich und ihre Wissenschaftsphilosophie war ziemlich dieselbe wie die der Naturwissenschaften - nebenbei bemerkt, ich bezeichne sie als systemisch-empirisch. Nach Auguste Comte (1798–1857), dem die Soziologie ihren Namen verdankt, sollten richtige Vorhersagen („savoir pour prévoir“) das Hauptziel der wissenschaftlichen Erkenntnis sein. Gerade die Sozialwissenschaften hatten immer vor, die Welt zu verändern, so dass ihre Erkenntnisse nicht nur Ereignisse richtig vorhersagen sollten, auf die man keinen Einfluss hat, sondern auch diejenigen, die man aktiv beeinflussen kann. Im letzteren Fall ist die wissenschaftliche „Wahrheit gleichbedeutend mit der Lösung des Problems“, wie es der Soziologe Mead ausgedrückt hat (1969: 49). Solche Soziologen wie Mead sind aber immer seltener geworden. Das gilt auch für Wirtschaftswissenschaftler, zu denen auch etwa Gunnar Myrdal zählte: „Unser wissenschaftliches Ziel ist, ein Wissen über die Welt, in der wir leben, zu erlangen, das uns in die Lage bringt, künftige Ereignisse vorherzusagen, um Verhaltensmaßregeln zu gewinnen und unsere Wünsche auf rationale Weise zu erfüllen“ (Myrdal 1963: 1). 

Es ist hier angebracht, noch etwas hervorzuheben. Wissenschaftliche Tatsachen sind zukünftige Tatsachen. Wie viele empirische Tatsachen aus der Vergangenheit, also ihre Mengen, Theorien erfassen, ist wenig oder gar nicht wichtig. Mit solchen Tatsachen wird nichts erklärt. Warum dem so ist? Jede Theorie, wenn sie Tatsachen nicht bestätigen, kann sich einen sogenannten „schwarzen Schwan“ ausdenken und schon ist die falsche Theorie gerettet. Ohne jetzt zu beschönigen, kann man ganz offen sagen: Wenn jemand mit „schwarzen Schwänen“ eine Theorie rettet, ist er ein Dummkopf oder ein intelligenter Schwindler. Wenn wir also mit einer Theorie zu tun haben, die sich immer mit „schwarzen Schwänen“ rettet, ist das zweifellos eine endgültig gescheiterte Theorie. Um die Problematik zu veranschaulichen, bietet uns die Statistik ein Beispiel, das sehr interessant ist zu erwähnen.

Eine Gruppe Bevölkerungsgeographen hatte sich vorgenommen, die Dogmen des Kinderglaubens und die Mythen des Volkes kritisch zu hinterfragen. Genauer gesagt, sie wollten herausfinden, ob die wichtige statistische Methode, nämlich die Korrelation, solche Mythen als empirisch eindeutig falsch nachweisen könnte. Am Anfang dachte man, dass man mit dem Kinderglauben, dass Störche die Kinder bringen, es ganz leicht haben würde. Die Überraschung war desto größer. Es stellte sich nämlich heraus, dass es immer Möglichkeiten oder Auswege gab, auch eine so alberne Theorie zu retten. Immer, wenn sich abzeichnete, dass die Korrelation zwischen Störchen und Geburten verschwinden würde, konnte man einen Fall von Multikausalität unterstellen und eine neue Hilfshypothese einführen - also einen „schwarzen Schwan“ - und siehe da, die Theorie stimmte wieder: Je mehr Storchennester, umso höher die Geburtenrate; je mehr Feuchtbiotope, umso höher die Geburtenrate; je mehr Frösche, umso höher die Geburtenrate ... und in diesem Stil konnte man immer weiter fortfahren. Die „Störche-Theorie“ hat dem Falsifikationsversuch getrotzt und sich immer weiter behauptet.

Kurz zusammengefasst: Die Tatsachen, die sich auf die Vergangenheit beziehen, sind für wissenschaftliche Theorien nicht relevant. Die Vergangenheit ist bei Historikern besser aufgehoben als bei anderen Wissenschaftlern. In den wissenschaftlichen Theorien und Modellen muss sich zumindest ein Teil der Tatsachen auf zukünftige Tatsachen beziehen, damit sich klar prüfen lässt, ob sich aus den Theorien oder Modellen (ex ante) hergeleitete Vorhersagen oder vorgeschlagene Handlungen nachher (ex post) realisiert haben - oder eben nicht. Wie gerade erwähnt, diese Problematik der richtigen Wissenschaftsphilosophie behandele ich in dem vorbereiteten Buch.

Wenn erst die Zukunft darüber entscheidet, was wissenschaftliche Tatsache ist, wie sieht es mit den neuen Theorien aus? Ja, solange die Zukunft nicht zur Gegenwart geworden ist, muss man auf vergangene Tatsachen zurückgreifen. Man kann fragen, ob die neue Theorie besser zur Vergangenheit passt als die früheren. Hiermit meine ich die von mir wirtschaftstheoretisch entworfene reale Nachtfragetheorie. Es wird gezeigt, dass sie besser Tatsachen erklärt als die neoliberale Theorie und auch Tatsachen erklärt, die für die letztere theoretisch einfach nicht existieren, also nichts anderes als „schwarze Schwäne“ sind. Zu solchen Tatsachen gehören etwa der Nachtfragemangel und ökonomische Krisen.

Das wären also die wichtigsten Ideen, Begriffe oder Prinzipien der Marktwirtschaft, aus der sich der real existierende Kapitalismus entwickelte. Und sie waren schon lange davor bekannt. Wenn sich aber der Kapitalismus theoretisch betrachtet schon vor Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden hätte entwickeln können, dies jedoch nicht geschehen ist, müsste da nicht doch etwas fehlen? Der Frage wollen wir nun nachgehen.

B/ Was sind Faktoren

Eine weitere methodologische Frage bei den wissenschaftlichen Forschungen sind die Umstände oder Faktoren, die für eine Theorie oder ein Modell der Erklärung für wichtig gehalten werden. Uns geht es um den Kapitalismus und dann ist die methodologische Frage aus einem besonderen Grund noch komplizierter. Die Funktionsweise des sich schon etabliert habenden Kapitalismus entspricht nicht ganz dem, wie dieser irgendwann unter ganz anderen Umständen entstanden ist. Wie konnte also der Kapitalismus als eine historisch ganz neue sozioökonomische Ordnung in ihm ganz fremden Umständen überhaupt entstehen? Prinzipiell betrachtet gibt es dafür nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist er 1/ ganz spontan entstanden, also aus nicht genauer erklärbaren Gründen, oder er wurde 2/ zuerst im menschlichen Geiste als eine Vorstellung über eine neue soziale Ordnung entworfen. Zugespitzt gesagt heißt also die Frage: Ob die Menschen blind vor sich herumgebastelt haben und ohne über die Zukunft nachzudenken irgendwann im Kapitalismus erwacht sind, oder ob der Kapitalismus eine menschliche Erfindung ist, wie etwa Flugzeug, Handy oder Kunstniere. Die erste Auffassung ist die neoliberale. Sie überträgt einfach die Evolution in der pflanzlichen und tierischen Welt auf die Entwicklung der gesellschaftlichen Ordnungen. So wie jede biologische Art keine Vorstellung über die Zukunft hat und durch zufällige Umstände irgendwann zu einer höheren Art mutiert, so sollte auch die menschliche Geschichte verlaufen. Und der Kapitalismus sollte - aus irgendwelchen geheimnisvollen Gründen - auch noch die letzte Stufe dieser rein spontanen geschichtlichen Entwicklung sein: „Das Ende der Geschichte“ (Fukuyama). Die Menschen sollen bzw. dürfen sich folglich nach dieser neoliberalen Auffassung gar keine Gedanken über soziale Ordnung machen. Auch wenn sie es nicht so direkt und offen sagen, die Neoliberalen halten den Menschen für  zu dumm dazu. Eine sehr merkwürdige Auffassung, wenn man bedenkt: Elektrizität, Nervensystem, Genom, Mikrowelt und Universum ist es dem Menschen gelungen zu entdecken, etwas Besseres als den Kapitalismus dagegen wäre für den Menschen unmöglich sich auszudenken. Bingo! Im Folgenden wird die Auffassung vorgelegt, dass zwei Gruppen von Faktoren das Entstehen des Kapitalismus ermöglicht haben:

1) Es geschah ein Paradigmenwechsel in der Ethik am Anfang der Moderne. Diese neue Ethik liegt der sogenannten klassischen Wirtschaftswissenschaft, auch Politische Ökonomie damals genannt, zugrunde und auch der Theorie der Marktwirtschaft von Adam Smith. Schon im Voraus soll hervorgehoben werden, dass seine Marktwirtschaft ganz bestimmt nicht auf der Idee der Freiheit beruht. Die Umdeutung der frühmodernen und frühliberalen Vision der Ordnung in eine Ordnung der Freiheit hat erst später stattgefunden, etwa nach einem Jahrhundert, nach der reduktionistischen Wende, als der Kapitalismus gesiegt hatte und eine neue Klassenherrschaft eine neue Ideologie brauchte.

2) Die neue Ordnung konnte nur unter besonderen historischen Umständen entstehen. Zu diesen kann man sagen, dass sie nicht vom Menschen bewusst herbeigeführt waren. Welche könnten es aber sein?

Fortsetzung folgt

 
 
 
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