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A - Schlüsselbegriffe und Grundannahmen der realen Nachfragentheorie |
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Der Grenznutzen: Der Stoff aus dem alle neoliberalen Halluzinationen sind |
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Manche Vertreter des „Nutzprinzips“ haben Ernst mit ihrer Auffassung gemacht, indem sie die Folgerung gezogen haben, daß die Nationalökonomie zu einer allgemeinen „Genußlehre“ auszubauen sei. Der erste, der diesen Gedanken gefaßt hat, ist wohl der geniale Idiot Gossen gewesen, dessen Werk über „Die Gesetze des menschlichen Verkehrs“ die Veranlassung zu allen möglichen Unfug geworden ist. |
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Werner Sombart, bekannter deutscher Soziologe und Volkswirt |
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Je weiter eine hohle Theorie von der Beobachtung ... sich entfernt und in abstrakten Begriffsspielereien und dilettantischen Konstruktionen sich ergeht, desto wertloser werden ihre Erzeugnisse. |
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Gustav Schmoller, ein deutscher Ökonom, einer der Hauptvertreter der jüngeren historischen Schule |
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Es ist angebracht, die Kritik der neoliberalen Nutzenwerttheorie mit einer kurzen Zusammenfassung der vorigen Kritik der Marxschen Arbeitswerttheorie anzufangen. Dort haben wir festgestellt, dass die Arbeitswerttheorie zu Schlussfolgerungen führt, die sich empirisch nicht überprüfen lassen. Alles, was Marx theoretisch aus der Position des Wertes bzw. des Arbeitswerts erklärt und bewiesen hat, hat er unter der Oberfläche der Tatsachen getan. Die so gewonnenen Schlussfolgerungen hat er dann nachträglich in zahlreichen einfachen Beispielen aus dem „richtigen“ Leben verdeutlicht. Diese Beispiele waren schließlich die wahre Quelle der Anziehungskraft und Popularität der Marxschen ökonomischen Lehre.
Folglich ist es unmöglich, empirisch zu prüfen, ob die Marxsche Preistheorie stimmt. Es gibt keine Methode, mit der sich herausfinden ließe, ob die Summe der Werte der Summe der Preise entspricht, und zwar nicht nur deshalb, weil dies eine sehr aufwändige Aufgabe wäre, sondern weil die Arbeit nicht messbar ist. Man kann sich aber viele Beispiele ausdenken, die glaubwürdig darstellen, dass die Menschen ihre Güter nach den Preisen tauschen würden, die der Arbeitsmenge entsprechen. So schreibt damals Petty: „Wenn durch die Entdeckung von näheren, leichter zugänglichen ergiebigeren Minen ein Mann nun 40 Unzen Silber produzieren kann, so leicht wie früher 20, ... dann werden 2 Unzen Silber nicht mehr wert sein, als ... früher 1 Unze.“ Vorausgesetzt, auch alles andere, was Kosten verursacht, hat sich halbiert (ceteris paribus). Smith war der Meinung, dass man die Güter im „frühen und rohen Zustande der Gesellschaft“ wirklich proportional der Arbeitsmenge („embodied labour“) tauschte, also nach der Regel, dass der „gewöhnlich erzielte Ertrag der Arbeit von zwei Tagen oder zwei Stunden doppelt so viel wert sein sollte wie der gewöhnlich erzielte Ertrag der Arbeit eines Tages oder einer Stunde“. Unzählige Male wurde sein Beispiel zitiert, dass in einem Jägervolk ein Biber zwei Hirsche wert sein wird, wenn es doppelt so lange dauert, einen Biber zu töten, als einen Hirsch zu erlegen. Für eine Wirtschaft mit der fortgeschrittenen Arbeitsteilung, so Smith in seiner weiteren Ausführung, wäre die Regel, dass die Arbeitszeit den Preis bestimmt, praktisch unbrauchbar. Die Arbeitsteilung macht nämlich die Produktion untransparent, so dass der Käufer nicht wissen kann, wie viel Arbeit in einem Gut steckt, das zum Kauf angeboten wird. Diese allgemeine Unwissenheit würde schließlich jeden verführen, die eigene Leistung (Arbeit) in von ihm angebotenen Gütern zu überschätzen und die des anderen zu unterschätzen, so dass eine solche Tauschwirtschaft für die Menschen so wie wir sind, also nur beschränkt rational und moralisch, nie funktionieren würde. Deshalb „verlässt“ Smith seine Arbeitswerttheorie und entscheidet sich dafür, dass die Nachfrage die Preise bestimmt. Erst anderthalb Jahrhunderte später hat sich bestätigt, dass die Arbeitspreise in der Tat unausweichlich zur zentral gesteuerten Planwirtschaft führen. Aber sogar in einer solchen Wirtschaft war es unmöglich, die Preise strikt nach der Arbeitsmenge zu gestalten. Damit hat auch die Praxis ihr letztes Wort über die Werttheorie gesprochen.
Mit dem Wert wollte man aber nie nur den „wahren“ oder „objektiven“ Preis bestimmen, sondern die ganze Funktionsweise der Wirtschaft erklären, und das heißt auch die Produktion. Wie wir gesehen haben, ging es Marx bei der Erklärung der Produktion jedoch nie darum, die Tatsachen zu erklären, sondern eine ökonomische Doktrin für seinen dialektischen Materialismus zu entwerfen. Die Kapitalakkumulation sollte ein Paradebeispiel für das „dialektische Gesetz“ sein, wonach Quantität (Kapital) zur Qualität (Produktivität) übergeht. Aber ein „dialektisches Gesetz“, nach dem die Kapitalmenge zu höherer Produktivität „umschlägt“, gibt es nicht. Schließlich ist die ganze Marxsche Produktionstheorie und die Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus nur ein Hirngespinst.
Wir werden im Folgenden sehen, dass die neoliberale Theorie - nicht weniger als die Marxsche - auch nur eine Realmetaphysik der Werte ist: Eine Metaphysik, die sich für Empirie ausgibt. Folglich gibt es auch bei ihr bis heute keine Methoden, mit denen sich ihre Schlussfolgerungen empirisch prüfen ließen. Wir haben darauf schon hingewiesen, als wir die neoliberale Theorie erörtert haben. Dabei wurde auch das Wichtigste über die neoliberale Preis- und die Produktionstheorie gesagt, was wir hier nur kurz wiederholen werden, aber diesmal wird es uns weniger um eine Kritik gehen, sondern um mehr. Wir wollen das Kreislaufmodell bzw. die technischen Koeffizienten als eine Alternative vorstellen, die uns methodische Grundlagen bietet, den Produktionsprozess der Wirtschaft besser zu verstehen, als dies im Rahmen des partikel-mechanischen Modells möglich ist.
Weil die Grundlage jeder wertkonzipierten Produktionstheorie immer die Preistheorie ist, ist es angebracht, gerade mit ihr die kurze kritische Darstellung der neoliberalen Theorie zu beginnen, um von da aus zur neoliberalen Produktionstheorie überzugehen.
Das Wasser-Diamanten-Paradox, die Seltenheit (der Grenznutzen) und das Paretosche Maximierungsprinzip
Es wäre sehr mühsam herauszufinden, wem die Ehre gebühren sollte, als erster die Idee vertreten zu haben, dass der Preis eines Gutes mit dem Nutzen zu tun hat, den sich Käufer von dem Gebrauch des Gutes erhofft. Voraussichtlich ist diese Idee so trivial, dass sie von keinem Menschen richtig entdeckt werden musste. Man kann sich nämlich gut vorstellen, dass sich schon der erste Verkäufer in der Geschichte bemühte, seinen Käufern einzureden, wie sehr seine Güter für sie nützlich seien, um damit einen höheren Preis zu erzielen. Als im 18. Jahrhundert die Ökonomen darüber nachgedacht haben, wurde es schnell klar, dass der Nutzen alleine die Preise nicht erklären kann. Warum nämlich sehr nützliche Güter manchmal einen niedrigen oder gar keinen Preis (wie etwa das Wasser) haben und nutzlose (wie etwa Diamanten) manchmal einen sehr großen. Deshalb verspottete Marx diese Preiserklärung immer wieder als eine leere Tautologie in der Form:
Eine Ware hat deshalb einen Preis, weil ihr ein Wert innewohnt, und dass ihr ein Wert innewohnt, beweist die Tatsache, dass sie auf dem Markt einen Preis hat.
Aber so einfach ist es doch nicht. Den Nutzen kann man den psycho-somatischen Bedürfnissen zuordnen, die selbstverständlich etwas anderes sind als die Preise der Güter. Aber damit ist immer noch nicht erklärt, warum sehr nützliche Güter manchmal einen niedrigen oder gar keinen Preis haben und nutzlose manchmal einen sehr großen. Das war der Grund, warum sich die Preistheorie so lange nicht durchsetzen konnte. Was tun?
Man hat versucht, die Nutzwertlehre mit einem zusätzlichen Erklärungsprinzip zu retten: Nicht nur der Nutzen alleine, sondern auch die angebotenen Gütermengen im Verhältnis zu den Bedürfnissen sollte den Preis eines jeden Gutes bestimmen. Der Diamantenpreis wird dadurch erklärbar: Möge auch der Nutzen eines Diamanten sehr gering sein, aber weil es so wenig Diamanten gäbe, steige sein Preis so erheblich. Nun haben wir jetzt anstatt einen zwei Faktoren, die den Preis bestimmen. In der Mathematik (Differenzialrechnung) lassen sich diese zwei Faktoren mit einem einzigen Begriff (Kategorie) erfassen: Sie entsprechen dem, was man als Ableitung bezeichnet. Aber man benötigt eigentlich keine Mathematik, zwei Begriffe unter einen Hut zu bringen, und genau so ist der Begriff Grenznutzen entstanden. Er bedeutet aber nichts anderes, als der „uralte“ Nutzen, der durch das Vorhandensein (Knappheit) korrigiert wird.
Der Umstand, dass man zwei Prinzipen bzw. Faktoren braucht, um den Preis zu bestimmen, ist an sich noch kein theoretischer Nachteil. So etwas ist auch in den Wissenschaften ganz normal. Sogar bei den einfachen Prozessen in der Physik braucht man oft zwei oder sogar mehrere Größen (unabhängigen Variablen) um eine unbekannte Größe (abhängige Variable) zu bestimmen. Das Problem des Grenznutzens liegt anderswo: Die alte Nutzwerttheorie hatte nur einen empirisch nicht messbaren Faktor (Nutzen), bei der neuen kam ein weiterer (Vorhandensein) hinzu, der genauso nicht messbar ist. Hier sieht man deutlich, was für eine gefährliche metaphysische Geisteskrankheit die Suche nach dem Wert war.
Man kann sich aber Beispiele vorstellen, aus denen sich schließen lässt, dass der Preis wirklich von dem (subjektiven) Nutzen und dem (objektiven) Vorhandensein abhängig ist. Es wäre auch problemlos, kleine praktisch Experimente zu realisieren, um das Verhalten der Menschen beim Tausch zu testen. Der Leser der vorigen Beiträge wird sich erinnern, dass wir die Kritik der neoliberalen Theorie mit einem illustrativen Musterbeispiel angefangen haben, in dem ein kleiner Markt mit dem Tausch in eines Gefangenenlagers gedanklich simuliert wurde. Innerhalb dieses Beispiels ließ sich gut verdeutlichen, dass die Faktoren Nutzen und Vorhandensein wirklich einen großen Einfluss auf den Preis ausüben.
Aber was nützen solche und ähnliche Beispiele? Auch für die Arbeitswerttheorie kann man genauso gute - oder schlechte: wie man es nimmt - Beispiele finden. Beweisen sie etwas? Nicht mehr, als dass die Preise von vielen Faktoren abhängig sind, zu denen auch Arbeit bzw. Nutzen und Vorhandensein gehören - und auch andere. Aber das alleine ist noch keine Preistheorie. Wie man es aus der Entwicklungsgeschichte der Wissenschaften weiß, gibt es keine so schlechte Theorie, für die sich keine Beispiele finden ließen, die sie scheinbar bestätigen. Deshalb sind die „überzeugenden“ Beispiele noch keine Wissenschaft. Zwischen dem vom Baum fallenden Apfel im Newtonschen Garten und der Gravitationstheorie liegen bekanntlich Welten. Mit solchen Beispielen hätte voraussichtlichauch auch die Grenznutzenwerttheorie nicht viele Anhänger gefunden. Etwas anderes hat ihr zum Durchbruch geholfen.
In unserem illustrativen Musterbeispiel stand nicht die Preisbildung im Vordergrund, und das war gar nicht zufällig so. Mit diesem Beispiel sollte gezeigt werden, dass die Gefangenen im Lager durch den freien Tausch den Nutzen ihrer Habseligkeiten steigern konnten. Am Ende des Tausches hat nämlich jeder sein Nutzen maximiert und zwar ohne dass dabei jemand geschädigt wurde. Genau das hat Pareto, von dem Walrasschen Gleichgewichtsmodell ausgehend, mathematisch nachgewiesen. Sein Beweis verlangt (verdammt) viel Mathematik, so dass man sich fragt, ob das wirklich nötig gewesen ist? Diese Frage ist desto berechtigter, als man weiß, dass es schon Smith - dem die neoliberale Sprache völlig unbekannt war - genau wusste, dass Tausch den Beteiligten nützt. Warum sonst würde jemand überhaupt tauschen? Aber auch Smith dürfen wir diesbezüglich nicht viel Lob spenden. Haben die Menschen nicht schon immer gewusst, dass sie ihre Güter deshalb tauschen, weil dies für sie vorteilhaft ist? War also ein komplizierter Beweis dafür wirklich nötig?
Wenn man sich fragt, wozu die Mathematik in der Wirtschaftswissenschaft gut sein sollte, fällt schnell ein, dass die erfolgreichsten Naturwissenschaften auch mathematisch argumentieren. Aber nicht alle. Die Medizin ist eine (ziemlich) exakte Wissenschaft, sie hat aber keine mathematischen Methoden und Beweise nötig. Das beste Beispiel für eine mathematische Naturwissenschaft ist natürlich die Physik. Wenn man sich aber näher anschaut, wie sie mit der Mathematik umgeht, stellt man fest, dass bei ihr der mathematische Beweis nur der erste Schritt der Argumentation ist. Im nächsten Schritt werden die mathematisch gewonnenen Zahlen mit den Zahlen verglichen, welche die an die Realität angeschlossenen Messgeräte anzeigen. In den Naturwissenschaften kann man also mit Hilfe der Mathematik exakte Vorhersagen gewinnen. So etwas ist aber in der neoliberalen Theorie nicht einmal vorgesehen, weil ihre Variabeln nicht messbar sind. Deshalb ist der Beweis von Pareto nicht nur überflüssig, sondern er ist gar kein Beweis im echten wissenschaftlichen Sinne.
Nachdem sich nicht mehr leugnen ließ, dass die hoch mathematisierte neoliberale Preistheorie keinen Zugang zur Realität hat und keine Anweisungen für gezieltes praktisches Handeln liefert, hat man sich etwas anderes ausgedacht, warum es einen Sinn haben soll, sich doch mit der Mathematik abzuplagen. Die Mathematik sollte die Theorien schaffen, die zum einen das reale Geschehen genau „abbilden“ und zum anderen die „ideale Funktionalität“ vom Marktgeschehen begreifbar machen. Einfacher gesagt, sie sollte erklären, nach welchen Prinzipien der Markt „wirklich“ funktioniert. Das hört sich recht gut an. Aber der Eindruck täuscht. Nehmen wir als Beispiel die Meteorologie, die bekanntlich eine mathematisch sehr überfrachtete Wissenschaft ist. Was würde es bedeuten, wenn man uns sagen würde, sie benütze die Mathematik nicht dazu, die Prognosen zu erstellen, sondern die Prinzipien des Wetters zu erklären. Was würde uns die Meteorologie dann „erklären“ können? Dass es nur dann regnet, wenn es dunkle Wolken am Himmel gibt? Oder dass die Wolken von Westen kommen, wenn der Wind aus Richtung Westen bläst? Oder etwa dass die Gegend vereist ist, weil die Temperatur unter Null war? Eine solche „Wissenschaft“ kann man bestimmt nicht brauchen. Aber bevor wir die neoliberale Preistheorie als völlig nutzlos abschreiben, machen wir noch einen letzten Versuch, sie zu retten.
Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass nicht alles, was um uns herum passiert, sich unmittelbar verstehen lässt. Man braucht also erklärende Theorien. Da stellt sich die Frage, ob die neoliberale Theorie wirklich diejenige ist, welche die ökonomische Realität richtig erklärt. Wenn wir sie aber nicht nach ihren empirischen Ergebnissen beurteilen sollten - weil wir ihr noch eine Chance geben wollen -, gibt es dann überhaupt eine Möglichkeit herauszufinden, ob sie richtig ist? Ja, eine gibt es. Wir können nämlich davon ausgehen, dass eine Theorie nicht richtig ist, wenn schon ihre Annahmen empirisch falsch sind. Und genau dieses Problem hat die neoliberale Preistheorie. Dies lässt sich schnell ergründen.
Man hört immer wieder, die neoliberale Theorie gehe von einem rationalen und egoistischen Menschen (homo oeconomicus) aus. Beides stimmt aber nicht wirklich. Der Mensch, so wie er in dem Gleichgewichts- und Optimierungsmodell angenommen wird, ist genau genommen ein Automat bzw. eine Maschine, oder noch präziser gesagt ein Bündel von Instinkten. Die Freiheit in diesem Modell bedeutet, dass er sich diesen Instinkten vollständig unterordnet. Eine in der Tat sehr seltsame Freiheit. Keiner will natürlich bestreiten, dass Instinkte das Leben des Menschen wesentlich bestimmen, aber es geht um etwas anderes. Diese Instinkte in dem neoliberalen Gleichgewichtsmodell müssen eine ganz bestimmte quantitative Form haben, die wir bereits als Nutzenkurven kennen gelernt haben. In dem Bild links wird es an einem Gut (Milch) verdeutlicht.
Warum sollen die Kurven so aussehen? Die Abbildung rechts lässt uns es ahnen. Für die Kurven dieser Form hat die klassische Mechanik schon längst Modelle und mathematische Gleichungssysteme entworfen. Die Dampflokingenieure Walras und Pareto haben sie natürlich gut gekannt. Als dann den Ökonomen aufgefallen ist (Hermann Gossen, 1854), dass bei der Befriedigung der Bedürfnisse das Sättigungsprinzip von Bedeutung ist, hat sich das mathematische Instrumentarium der klassischen Mechanik als geeignet erwiesen, auch die Gefühle als mechanische Kräfte zu modellieren. Dabei war gerade die Form der Nutzenkurven entscheidend, sonst hätten die Gleichungssysteme von Walras und Pareto keine (eindeutige) Lösung: es gäbe dann kein Gleichgewicht, kein Optimum und auch alles andere nicht mehr.
Man will und kann bestimmt nicht abstreiten, dass die Nutzenkurven zumindest einen Aspekt der Realität treu abbilden: die Sättigungseffekte bei der Befriedigung der Bedürfnisse. Aber wie oft ist der Mensch in seinem Leben in den Situationen, dass diese Effekte zur Geltung kommen? Bestimmt nicht oft. Der Mensch ist nicht Sklave seiner Instinkte, sondern er hat große Möglichkeiten, seine Bedürfnisse zu befriedigen, ohne dass er sich an die Nutzenkurven halten muss. Wenn ein Mensch seinen Nutzen maximiert, tut er dies als ein zweckrational denkendes Wesen, das sein Ziel nach von ihm im Voraus entworfenen Strategien zu erreichen versucht. Dies würde die Nutzenkurven - wenn es sie wirklich gäbe - dermaßen verschieben, zerstückeln und verbiegen, dass der Mathematiker nicht die geringste Chance hätte, ein lösbares Gleichungssystem zu modellieren. Gerade deshalb ist die Spieltheorie eine bessere Erklärung dessen, was auf dem Markt passiert, weil sie auf keine Nutzenkurven besonderer Form angewiesen ist. Natürlich wird sie als Ergebnis keine Zahlen für die Preise anbieten, wie es bei der Lösung des Gleichungssystems der Fall ist, aber dies kann wohl kein Nachteil sein. Wie bereits ausgeführt, die numerischen Ergebnisse der neoliberalen Theorie - mit so vielen Dezimalstellen hinter dem Komma wie man sich wünscht - lassen sich mit keiner Methode empirisch nachprüfen.
Es wäre jedoch übertrieben zu sagen, dass wir der neoliberalen Preistheorie nichts zu verdanken haben. Sie hat uns auf die Bedeutung des Nutzens und der Knappheit bei der Preisbildung aufmerksam gemacht. Auch ihre theoretische Innovation, der abnehmende Nutzen, ist nicht völlig unbrauchbar, aber sie hat eine empirische Bedeutung nur für die Preisbestimmung der Konsumgüter. Es gibt zwar „geistreiche“ Lösungen, wie das Prinzip des abnehmenden Nutzens bei der Preiserklärung der Produktionsgüter zu deuten sei, aber wenn man sich diese Spitzfindigkeiten näher anschaut, fragt man sich verwirt, ob dies wirklich ernst gemeint war.
Die Produktivität als Substitut für den Nutzen bei den Produktionsgütern
Die Produktionsgüter sind nützlich, weil man mit ihrer Hilfe andere Güter herstellt, dank denen dann auf der letzten Produktionsstufe die Konsumgüter hergestellt werden. Aber der Nutzen der Produktionsgüter für die Menschen ist damit nur ein indirekter. Deshalb gibt es nicht gerade kleine Probleme, wenn man die Preise dieser Güter durch den Nutzen zu erklären versucht. Was soll nämlich an einem Gut nützlich sein, das nicht direkt, sondern nur für etwas andres nützlich ist?
Da ein Produktionsgut irgendwann zum Konsumgut wird, kann man sich gut vorstellen, dass der Nutzen des letzteren auch den Nutzen des ersteren bestimmen kann. Genau das war der Weg, der für die neoliberale „Genusslehre“ offen blieb, die Preise der Produktionsgüter zu erklären. Auch wenn der Markt der Produktionsgüter ein anderer ist als der Markt der Konsumgüter, sollte demnach der Letztere schließlich auch dafür sorgen, dass der Erstere richtig funktioniert: dass die Produktionsgüter optimal alloziert sind und ihre Preise dem Nutzen entsprechen. Man kann sich in der Tat - wen sollte dies schon wundern - sogenannte „realitätsnahe“ Beispiele ausdenken, aus denen sich verdeutlichen lässt, wie der Nutzen der Konsumgüter rückwirkend den Nutzen den Produktionsgütern bedingt und bestimmt.
Stellen wir uns zwei Brüder aus der Stadt vor, die nach dem Tod ihrer Eltern Land geerbt haben - jeder zur Hälfte. Sie haben sich entschieden, ins Dorf zurückzukehren und einen biologischen Anbau zu betreiben. Unerfahren wie sie waren, entschied sich ein Bruder Tomaten, der andere Gurken zu züchten - einfach so. Beide haben den gleichen Kostenaufwand und gleich viel gearbeitet. Sie haben gehofft, auch das Gleiche zu verdienen, und so haben sie auch die Verkaufpreise für Tomaten und Gurken kalkuliert. So wäre es gerecht - meinten sie. Nun hat sich herausgestellt, dass den Kunden Tomaten besser schmecken als Gurken, so dass der zweite Bruder die Hälfte seiner Ernte nicht absetzen konnte. Sie verfaulte schließlich auf dem Feld und im Warenhaus, ohne dass davon jemand irgendwelchen Nutzen hatte. Der Markt hat also die Arbeit des Gurkenzüchters nur zu einer Hälfte entlohnt, so dass im Endergebnis die gleiche Arbeit des Tomatenzüchters doppelt so hoch bewertet wurde, wie die des Gurkenzüchters. So etwas kann natürlich keinen Sinn haben und war sehr ungerecht. Beide Brüder haben doch die gleiche Leistung erbracht. Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. Im nächsten Jahr hat der zweite Bruder je zur Hälfte Tomaten und Gurken gepflanzt, so dass in diesem Jahr der Markt die gleiche Leistung der Geschwister auch gleich belohnt hat. Jetzt passte alles. Der Nutzen hat auch dafür gesorgt, dass die produktive Leistung gerecht entlohnt wurde. Großartig, nicht wahr?
Diese überraschende Übereinstimmung des Nutzens mit der Leistung, die Metamorphose des einen ins andere, hat etwas Faszinierendes an sich. Man sollte aber bei dieser Begeisterung trotzdem einen kühlen Kopf behalten. Der Schein trügt nämlich. „Wenn man Zusammenhänge finden will, findet man immer welche, Zusammenhänge zwischen allem und jedem“, schrieb der bekannte italienische Schriftsteller und Philosoph Umberto Eco, in seinem Buch Das Foucaultsche Pendel. Die Welt sei „ein Netz von Verwandtschaften, in dem alles auf alles verweist und alles alles erklärt“. Kein Wunder, dass dem so ist: es gibt doch nur eine einzige Welt. Die Unschärfe der Worte, welche die Philosophen und Erkenntnistheoretiker so oft beklagen, hat also ihre Ursache auch in den fließenden Zusammenhängen zwischen den Dingen und in ihrer unglaublichen Verflechtung. Dies hat schon immer die Mystiker allerlei Art auf den Plan gerufen, die das auszunutzen bzw. missbrauchen wussten. So erwähnt Eco - neben manchen anderen Beispielen - auch, wie ein gewisser Piazzi Smyth (1864) die heiligen und esoterischen Maße der ägyptischen Pyramiden entdeckte.
„Ihre Basis bildet ein Quadrat, dessen Seite 232 Meter mißt. Die Höhe war ursprünglich 148 Meter. Rechnen wir das in heilige ägyptische Ellen um, so haben wir eine Basis von 366 Ellen, also die Anzahl der Tage eines Schaltjahres. Für Piazzi Smyth ergibt die Höhe multipliziert mit zehn hoch neun die Entfernung Erde-Sonne: 148 Millionen Kilometer. Eine gute Annäherung für jene Zeit, wenn man bedenkt, daß die Entfernung heute auf 149,5 Millionen berechnet wird, und es ist nicht gesagt, daß die Modernen recht haben. Die Basis geteilt durch die Breite eines ihrer Steine ergibt 365. Der Umfang der Basis beträgt 931 Meter. Geteilt durch die doppelte Höhe ergibt das 3,14, die Zahl π. Phantastisch, nicht wahr?“
Wen sollte also noch wundern, dass solche gedanklichen „Pyramiden“, also einfache Beispiele, auch problemlos zu finden sind, wenn man sich entschieden hat, die Konvertibilität und Äquivalenz zwischen dem Nutzen und der produktiven Leistung „nachzuweisen“. Aber die „intelligenten Idioten“ Walras und Pareto haben sich nicht mit einfachen Beispielen zufrieden gegeben. Sie haben zu ihrem Zweck die Mathematik eingespannt. In ihrem Gleichungssystem lassen sich in der Tat beliebig viele Güter integrieren und mathematische Methoden anwenden, so dass man zur Schlussfolgerung gelangt, dass auf dem beliebig großen freien Markt gleiche Leistungen gleich belohnt werden. Um die Unterschiede zwischen dem (direkten) Nutzen der Konsumgüter von dem (indirekten) Nutzen der Produktionsgüter hervorzuheben, wird der Nutzen der letzteren als Produktivität bzw. Grenzproduktivität bezeichnet.
Der Beweis von Pareto hat aber einen Haken. Er hat eine bestimmte mathematische Voraussetzung (Bedingung) nötig, damit er überhaupt möglich ist. Die Produktivitätskurven müssen nämlich die gleiche Form haben, wie die Nutzenkurven der Konsumgüter. Aber warum sollte es bei den Produktionsfaktoren so etwas wie abnehmende Produktivität überhaupt geben? Um diese Frage zu beantworten, schauen wir uns die konkreten Produktionsfaktoren an.
Bereits David Ricardo (1772-1823), der bekannteste Vertreter der Arbeitswerttheorie vor Marx, stellte bei seinen Untersuchungen der Bodenrente fest, dass zuerst der fruchtbarste Boden angebaut wird, dann weniger furchtbarer, und so weiter. Man kann hier in der Tat von sinkender Bodenproduktivität sprechen - die Kurve wäre also mathematisch passend. Auch für die Arbeitskräfte lässt sich ähnliches sagen. Wenn die Wirtschaft kontinuierlich wächst, schrumpft der Vorrat an Arbeitslosen, so dass die übrig gebliebenen Arbeitskräfte, auf die Arbeitgeber nun zurückgreifen müssen, immer schlechter ausgebildet, schwächer, kränker und älter sind. Wie sieht es aber beim Kapital aus? Wird eine Maschine intensiver benutzt, verschleißt sie zunehmend und sie wird immer häufiger defekt. Es ist aber ebenso bekannt, dass die Massenproduktion die Kosten pro Produktionseinheit senkt (increasing returns to scale). Heißt es also, dass beim Wachstum die Produktivität der Wirtschaft nicht fällt, sondern automatisch steigt? Das kann man nicht unbedingt behaupten, aber die Annahme von der sinkenden Kapitalproduktivität ist mit Sicherheit falsch. Und das ist für die neoliberale Grenznutzentheorie fatal. Solche „Produktivitätskurven“ wären mathematisch untauglich - das Gleichungssystem wäre nicht lösbar. Hat das Kapital schon Marx einen Strich durch die Rechnung gemacht, hat es nun auch die neoliberale Grenznutzen- bzw. Grenzproduktivitätstheorie Lügen gestraft.
Wir stellen also fest, dass die neoliberale Preistheorie Annahmen, genauer gesagt mathematische Voraussetzungen (Bedingungen) nötig hat, die nicht besonders gut zur Realität passen. Das kann man schon für den abnehmenden Nutzen bei den Konsumgütern feststellen; für die angebliche abnehmende Produktivität bei den Produktionsgütern kann man schon über eine reine theoretische Erfindung sprechen. Trotzdem ist die neoliberale Preistheorie noch fast harmlos, wenn man an die aus ihr entwickelte Produktionstheorie denkt. Diese bedeutet einen endgültigen Abschied vom gesunden Menschenverstand und von der realen Welt - ein Abtauchen in den Bereich der reinen akademischen Halluzinationen. Sogar die Marxsche Akkumulationstheorie mutet neben dieser Produktionstheorie wie eine ernsthafte Wissenschaft an. Immerhin zeigen empirische Forschungen, dass das Kapital pro Arbeiter seit Beginn des Kapitalismus tendenziell gestiegen ist, sogar noch ein paar Jahrzehnte nach Marx Tod. Erst dann hat das Kapital seinen wichtigsten Propheten im Stich gelassen.
zu Teil 2
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