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Die EU: Ein neoliberales Projekt nach dem Vorbild des deutschen Merkantilismus |
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Das Scheitern der Historischen Schule - des deutschen ökonomischen Sonderweges |
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Deutschland ist im Laufe von zehn Jahren in Wohlstand und Industrie, in Nationalselbstgefühl und Nationalkraft um ein Jahrhundert vorgerückt. Und wodurch? ... Es war hauptsächlich der Schutz, den das Zollvereinssystem den Manufakturartikeln des gemeinen Verbrauchs gewährte, was dieses Wunder bewirkte. |
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Henry C. Carey, ein bekannter amerikanischer Ökonom des 19. Jahrhunderts |
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Wie! die Weisheit der Privat-Oekonomie say auch Weisheit in der National-Oekonomie? ... Nein! in der National-Oekonomie kann Weisheit sein, was in der Privat-Oekonomie Thorheit wäre und umgekehrt, aus dem ganz einfachen Grunde, weil ein Schneider keine Nation und eine Nation kein Schneider ist; weil eine Familie etwas ganz Anderes ist, als ein Verein von Millionen Familien, ein Haus etwas ganz Anderes, als ein großes National-Territorium. |
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Friedrich List, der bedeutendste deutsche Wirtschaftstheoretiker des 19. Jahrhunderts |
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Alle Völker haben eine Vorstellung darüber, wie sie entstanden bzw. wie sie zu einer Nation geworden sind. Sie verknüpfen ihre Geburt mit einem symbolträchtigen Ereignis aus ihrer Geschichte, das dann oft zum Jahrestag erklärt und dann jedes Jahr gefeiert wird. Bei einer großen Mehrheit der Völker wird die Geburt der Nation nur symbolisch wahrgenommen und als reine nationale Folklore begriffen und gefeiert, also ohne dass man darüber nachdenkt was irgendwann vor einer langen Zeit wirklich genau geschehen ist. Üblicherweise ging es damals um einen gewonnenen Krieg oder um einen Bürgerkrieg, es wurde also ein Feind bzw. Feindbild besiegt und für immer aus dem Weg geräumt. Damit ist die Angelegenheit geklärt - sie ist nur noch eine nicht mehr existierende Vergangenheit. Ist es bei den Deutschen anders?
In gewissem Maße schon. Die Deutschen sind nämlich zu einer Nation geworden, als es ihnen gelungen ist, sich nicht mehr gegenseitig zu bekämpfen und umzubringen. Der Dreißigjährige Krieg zeugt davon, mit welcher Härte und Besessenheit man aufeinander losgehen konnte. Dieser Krieg hat damals ein Volk an den Rand seiner biologischen Existenz gebracht. Eine solche Erfahrung ließ sich bei den Völkern der Welt in der Tat nicht oft beobachten. So böse kann ein Volk normalerweise nur einem anderen Volk gegenüber sein. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu einer Nation bedeutete für die Deutschen sich endlich gegenseitig ertragen zu können, sich bewusst zu sein, dass man doch das gleiche Schicksal teilt. Die Geburt der deutschen Nation und des modernen Nationalstaates bedeutete also einen Sieg über sich selbst, das Schließen eines inneren Friedens. Diese historische Erfahrung würde den seltsamen deutschen Patriotismus erklären, über den der große Dichter Heinrich Heine bemerkte:
„Man befahl uns [Deutschen] den Patriotismus und wir wurden Patrioten; denn wir tun alles was uns unsere Fürsten befehlen. Man muß sich aber unter diesem Patriotismus nicht dasselbe Gefühl denken, das hier in Frankreich diesen Namen führt. Der Patriotismus der Franzosen besteht darin daß sein Herz erwärmt wird, durch diese Wärme sich ausdehnt, sich erweitert, daß es nicht mehr bloß die nächsten Angehörigen, sondern ganz Frankreich, das ganze Land der Zivilisation, mit seiner Liebe umfaßt; der Patriotismus des Deutschen hingegen besteht darin daß sein Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will.“
Wenn die Deutschen schon so viel Angst voreinander hatten, wenn einer schon so sehr den anderen fürchtete, was für eine Angst muss man dann vor dem Fremden haben? Würde daraus nicht folgen, dass man sich seinen „Platz an der Sonne“ mit brutalsten Mitteln erkämpfen müsste? Das würde zur Erklärung beitragen, warum die zwei Weltkriege und der Holocaust ihren Ursprung in Deutschland haben. Es scheint auch zu der verbreiteten und manchmal sogar geschätzten Auffassung von einer besonders schwierigen Geburt der deutschen Nation und des Nationalstaates bestens zu passen. Entspricht diese Auffassung aber der Wirklichkeit, oder ist sie nur ein bequemer Mythos?
Diese Erklärung der „deutschen Seele“ entspricht der psychoanalytischen Auffassung, wonach die psychopathischen Störungen der Erwachsenen ihre Ursachen in der Kindheit haben. Diese ist jedoch nicht einmal in der Psychologie selbst unumstritten. Aber auch davon abgesehen kann man fragen, warum die Entwicklung einer Nation der Entwicklung eines Individuums ähneln müsste. Das muss in der Tat nicht so sein. Die Weisheit der Psychologie ist nicht die Weisheit der Soziologie. Die Amerikaner sind zum Beispiel als Nation aus zwei Sezessionskriegen hervorgegangen, doch sie betrachten diese tragische Erfahrung nicht als Schmach und Sünde, sondern als Preis den sie zahlen mussten, um zu einer modernen und erfolgreichen Nation zu werden. Eigentlich ist es mehr oder weniger bei jeder Nation so, dass man sich bei der Geburt auch untereinander zerfleischte. Jede Nation hat traumatische Erlebnisse aus der Kindheit. Diese erklären aber so gut wie nichts, sie sind eine völlig willkürliche Konstruktion: ein Mythos.
Kurz zusammengefasst, Erbsünden der deutschen Nation und auch welche tiefe Traumata aus der Kindheit gibt es nicht. So etwas sind nur faule Ausreden, mit denen man andere Dinge aus der Verantwortung entlassen will. Wenn man sich die historischen Tatsachen genau anschaut, muss man fast staunen, unter welchen glücklichen Stern gerade die Geburt der deutschen Nationen und des Nationalstaates im Vergleich mit der Situation vieler anderer Länder stand. Alles was später geschehen ist, und in der Rückschau besser nicht hätte geschehen sollen und dürfen, hat ihre Ursachen in den später entstandenen Umständen, in denen welche der entfesselte Kapitalismus in Deutschland - wie auch überall sonst - schuf. Es sind also faule Ausreden. Dem Kapitalismus ist eigentlich alles recht, sich aus der Verantwortung zu stehlen, mögen seine Rechtfertigungen auch noch so absurd sein. Deshalb ist es wichtig, sich ein bisschen näher mit der Geschichte zu befassen.
Deutschland: Eine aus dem Wirtschaftswunder geborene moderne Nation
Die modernen Nationen und Nationalstaaten sind eine ziemlich neue Erscheinung. Sie sind ein Produkt der Moderne und des Kapitalismus. Nur die Chinesen bilden die einzige Nation, die deutlich älter als die Moderne ist. Die deutsche Nation gehört sogar zu den zuletzt gebildeten europäischen Nationen. Sie entstand eigentlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es war die Zeit, als Deutschland seine westlichen Nachbarn ein- und überholte. Was damals geschehen ist, ist nicht nur an historischen Maßstäben gemessen keinesfalls unangenehm oder bedrückend, im Gegenteil. In dieser Zeit durfte ein Deutscher darauf stolz sein, ein Deutscher zu sein.
Heben wir zuerst hervor, dass noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Deutschland ein rückständiges feudales Land war. Laut Statistik fielen im Jahre 1852 noch 72 Prozent der Bevölkerung in die Kategorie „ländlich“. Unsere westlichen Nachbarn hatten sich schon längst industrialisiert, waren also kapitalistisch geworden. Sie waren uns dermaßen voraus, dass schon die Vorstellung, wir würden sie je einholen, als ziemlich absurd erscheinen konnte. Die Rezepte, die Deutschland damals von den weit fortgeschrittenen Nachbarn, vor allem aus dem führenden kapitalistischen Land Großbritannien, angeboten wurden, waren die gleichen, die man schon immer allen rückständigen Wirtschaften angeboten hat, und die heute als Globalisierung und Deregulierung bezeichnet werden: Die Öffnung der Grenzen für den freien Waren- und Geldverkehr sowie der Rückzug des Staates aus allen ökonomischen Aktivitäten. Die Deutschen konnten damals zum Glück selbst entscheiden, ob sie auf diese Ratschläge hören wollten, im Gegensatz zu beispielsweise den Indern. Diese mussten es, weil Indien eine britische Kolonie war. Die Deutschen mussten es aber nicht, so dass ihnen das Schicksal von Britisch-Indien (1858-1947) erspart blieb. Die indische Wirtschaft ist, sowohl geografisch als auch historisch betrachtet, das bisher größte und am kläglichsten gescheiterte Experiment der vorbildlich umgesetzten liberalen Entwicklungstheorie.
„Indien hatte eine durchgängige Laissez-faire-Politik, wie sie die Welt sonst kaum gesehen hat ... Unternehmer und Kapitalisten aus der ganzen Welt waren frei, in Indien zu kaufen und zu verkaufen oder dort Geschäfte zu machen, wie auch die Inder selbst. ... Es gab weniger Staatsinterventionen als in Japan nach der Meiji-Restauration. Ein halbes Jahrhundert Laissez-faire oder mehr bewirkte etwas Wachstum in Indien, aber nichts Vergleichbares zu dem, was in Japan geschah. Die Laissez-faire-Ideologie mit ihrer Konzentration allein auf das übel des Staates läßt klarerweise etwas aus.“
Deutschland wies die die Ratschläge und Anforderungen der reinen Marktlehre, die Grenzen zu öffnen und den Staat aus allen ökonomischen Aktivitäten fernzuhalten, zurück. Diese Politik wurde als Manchesterliberalismus (Manchester School) bezeichnet. Der deutsche Arbeiterführer Ferdinand Lassalle entwickelte daraus das Schmähwort Manchestertum. In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, dass Deutschland nach der Reichsgründung (1871) sogar politisch betrachtet kein besonderes Interesse am Rest der Welt zeigte. Durch das „Primat der Innenpolitik“ wurde die Außenpolitik in den Hintergrund geschoben. Insbesondere der „Eiserne Kanzler“ Bismarck (Amtszeit 1871-1890) lehnte territoriale Erwerbungen in Übersee ab, auch deshalb, weil er im Zusammenhang mit dem Kolonialerwerb nur geringe wirtschaftliche Vorteile sah, jedoch erhebliche politische Störungen erwartete. Deutschland hat sich damals sozusagen auf allen Bereichen aus der Welt zurückgezogen, und zwar aus eigener Überzeugung.
Das bedeutete nicht, dass man nicht mit anderen Wirtschaften zusammengearbeitet hätte, es bedeutete nur, dass man die eigene Wirtschaft, dort wo sie noch nicht mit den weit entwickelten Wirtschaften konkurrenzfähig war, mit protektionistischen Maßnahmen schützte. Das entspricht der Auffassung, dass zwischen den Volkswirtschaften die freie Konkurrenz nicht für alle vorteilhaft ist, wie es bei der atomistischen Konkurrenz auf dem Binnenmarkt der Fall ist. Der oben zitierte Friedrich List (1789-1846), meiner persönlichen Meinung nach der mit großem Abstand beste deutsche Ökonom aller Zeiten, wurde nie müde dies zu wiederholen. Über diese pars-pro-toto Denkweise, gegen die er sich richtete, wurde schon einiges mehr gesagt.
Innerhalb der Reichsgrenzen wurde der freie Markt bzw. die Konkurrenz gefordert und gefördert, aber auch hier nicht uneingeschränkt. Es wurde richtig erkannt, dass zu viel Konkurrenz allen schaden kann. Beispielsweise wurde es den großen Unternehmen und ihren Verbänden selbst überlassen, die Konkurrenz untereinander zu beschränken. Ganz anders als bei den damals bereits entwickelten Industrienationen hat das Deutsche Reich die Kartellverträge zivilrechtlich geschützt. So steht zum Beispiel in einem Urteil des Reichsgerichts zu Gunsten eines Kartells von 1897 als Begründung, dass es nicht gegen die Gewerbefreiheit verstoße, ...
„ ... wenn sich Gewerbegenossen zu dem in gutem Glauben verfolgten Zwecke miteinander verbinden, einen Gewerbezweig durch Schutz gegen die Entwertung seiner Erzeugnisse und die sonstigen aus Preisunterbietungen Einzelner hervorgehenden Nachteile lebensfähig zu erhalten.“
Wir stellen also fest:
1: Das erste deutsche Wirtschaftswunder war das Ergebnis einer klugen protektionistischen und staatsinterventionistischen Wirtschaftspolitik
Aber nicht nur das erklärt die rasante ökonomische Entwicklung des Deutschen Reiches und vor allem die Tatsache, dass die Zweite industrielle Revolution hauptsächlich in Deutschland stattgefunden hat. Durch die preußischen Reformen (nach ihren Hauptinitiatoren auch Stein-Hardenbergsche Reformen genannt) sollte sich Preußen aufbauend auf „das dreifache Primat der Waffen, der Wissenschaft und der Verfassung“ modernisieren. Den Reformen im Bildungswesen, die Hauptsächlich von Wilhelm von Humboldt entworfen wurden, kam in der Konzeption der Reformer eine Schlüsselstellung zu. Bevor wir etwas über sie sagen, ist es angebracht in Erinnerung zu rufen, was Adam Smith über Bildung und Ausbildung zu sagen hatte.
Würde sich der Staat nicht um die Schulen kümmern, ...
„ ... gäbe es keine öffentlichen Unterrichtsanstalten, so würde kein System, und keine Wissenschaft gelehrt werden, wonach nicht eine Nachfrage vorhanden oder deren Erlernung nicht durch die Zeitverhältnisse nötig, nützlich oder wenigstens zur Mode gemacht wäre.“
Diese Wissenschaft würden sich nur die Vermögenden leisten können:
„Die Geschäfte der höheren Stände sind selten von der Art, dass sie sie von Morgen bis zum Abend in Anspruch nehmen. Sie haben viel Muße, während der sie sich in jedem Zweige nützlicher oder zierender Kenntnisse, zu denen sie Geschmack gewonnen haben, vervollkommnen können.“
Die niederen Stände dagegen können sich das nicht leisten:
„Der Volksunterricht erfordert bei einem zivilisierten und gewerbetreibenden Volke die Aufmerksamkeit des Staates wohl mehr als der höhere Unterricht.
[Hier] sind die Zustände der Gesellschaft nicht derart, und es bedarf der Führsorge der Regierung, um die völlige Verderbnis und Verwilderung der großen Masse zu verhindern.“
Es kann seltsam anmuten, dass Smith ein ausgebildetes Volk haben will, auch wenn er Zeitzeuge der Ersten industriellen Revolution war, als die Innovationen und neuen Erfindungen noch nicht viel mehr als den gesunden Menschenverstand verlangt haben. Zur Erinnerung: Nach mehr als einem halben Jahrhundert später hat Marx daraus noch die Aufhebung der Arbeitsteilung prognostiziert.
Wenn man Smith als Moralphilosophen und Humanisten begreift, kann man gar nicht überrascht sein, dass er sich ein ausgebildetes Volks wünschte. In Deutschland hat man dies noch bei weitem übertreffen wollen. Der Bürger, den man in die Lage versetzen wollte, selbständig für sich verantwortlich zu handeln, sollte gut gebildet und erzogen sein. Und damit wurden nicht nur bestimmte Stände gemeint, sondern die ganze Nation, auch das gemeine Volk. Die Bildung sollte nicht die Sache der Herkunft und Standes sein. Humboldt, der 1808 die Leitung der Abteilung Kultus und Unterricht übernahm, hing einem humanistischen Bildungsideal an, also der Auffassung, der zufolge eine allgemeine Menschenbildung dem zweckdienlichen Wissen für die verschiedenen Berufe vorausgehen sollte.
„Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hierzu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschieht, von einem zum anderen überzugehen.“
An die Stelle der früheren privaten, kirchlichen, städtischen oder korporativen Bildungseinrichtungen trat ein staatlich organisiertes und überwachtes Schulsystem, gegliedert in Volksschule, Gymnasium und Universität. Die allgemeine Schulpflicht wurde eingeführt, es wurde staatlich vorgeschrieben was wo und wann gelehrt werden sollte und es wurden staatlich anerkannte Leistungskriterien als Voraussetzung für die weiteren Bildungsstufen geschaffen, wo eine im Sinne von Humboldt reformierte Universität stand, an der die Studenten durch Teilnahme an der Forschung selbständiges Denken und wissenschaftliches Arbeiten erlernen sollten.
Dies alles mag uns heute als selbstverständlich vorkommen, da es sich in verschiedenen Variationen über die ganze Welt verbreitet hat. Es war aber wirklich eine großartige Errungenschaft. Man würde kaum übertreiben, wenn man sagte, die Deutschen wurden zu dem ersten allgemein gebildeten Volk in der ganzen Geschichte. Und in der Tat wurde von diesem Bildungssystem eine fast unglaubliche Menge von hervorragenden Wissenschaftlern hervorgebracht. Es gab keine Wissenschaft, in der Deutsche nicht in den vordersten Reihen dabei waren. Deutschland wurde zum Volk von Genies.
War die Heimat der Ersten industriellen Revolution England, war die der Zweiten Deutschland. Und das war das Ergebnis der Bildung und Ausbildung. Die Entwicklungen in der Chemie, der Wärmelehre - welche der Erfindung der Verbrennungsmotoren vorausging - in der Elektrotechnik, Optik und Atomphysik, können nicht das Ergebnis der leidenschaftlichen und scharfsinnigen Laientüftler in der Garage sein, sondern nur ein Werk von Menschen die im Denken gut geübt waren und systematisierte Kenntnisse über die Natur besaßen. Und gerade dafür waren die Bedingungen in Deutschland am günstigsten.
Wir stellen also fest:
2: Das Erste deutsche Wirtschaftswunder war auch das Ergebnis eines Schulsystems, wie es bis dahin in noch in keinem anderen Land existierte
Die historischen Forschungen, welche die Ungleichheit in vorkapitalistischen und kapitalistischen Gesellschaften untersuchen, sind allgemein unbeliebt. Man versucht sie zu ignorieren, zu relativieren und nicht selten zu leugnen. Ihre Ergebnisse enthüllen die Ungerechtigkeit des Kapitalismus. Sie sagen nämlich aus, dass die horrenden Besitzunterschiede das Ergebnis des Kapitalismus sind, so wie Dampfmaschine und Webstuhl.
„Vor der ersten industriellen Revolution gab es Unterschiede darin, wie viel Menschen zu essen hatten, wie groß ihr Schlafzimmer war und wie viele Diener ihnen halfen, doch all diese Faktoren hatten ihrem Wesen nach Grenzen. Man braucht nicht sehr viel Nahrung, um satt zu werden, Durch ein größeres Schlafzimmer wird der erkennbare Lebensstandard kaum erhöht, solange man schläft. Eigentlich kommt es nur darauf an, dass man nicht friert. Ein Diener konnte nicht sehr viele Dinge für einen mittelalterlichen Gebieter tun, zu denen dieser nicht selbst fähig gewesen wäre. Vor der ersten industriellen Revolution gab es große Unterschiede in der Macht - aber nicht im Einkommen.“
Dazu kommt noch, dass die Menschen in der vorkapitalistischen Zeit unvergleichbar weniger gearbeitet haben als später im Kapitalismus. Außerdem hat die Religion den Reichen, der „schwieriger in den Himmel kommt, als ein Kamel durch das Nadelohr“, moralisch in die Schranken gewiesen. Mit dem Kapitalismus kam eine Ausbeutung in die Welt, wie es sie nie zuvor gab, für die das Wort verbrecherisch keine Übertreibung ist. Diese Erfahrung konnten die Deutschen bei ihren Nachbarn beobachten und daraus lernen, dass man sich die brutalsten sozialen Unterschiede nicht erlauben kann, wenn man sich erfolgreich industrialisieren will. So begann in Deutschland eine Politik zur Lösung der „Sozialen Frage“.
Es ist stark übertrieben zu behaupten, dass die sozialen Zugeständnisse des klassisch-liberalen Staates allein durch kollektivistische Ideologien erstritten worden sind. In Deutschland will sich die Sozialdemokratische Partei diese Verdienste zuschreiben, eine Partei die unter dem Kanzler Schröder einen sozialen Kahlschlag durchführte, den die Konservativen und Liberalen niemals gewagt hätten. Die sozialen Fortschritte im Kapitalismus waren viel mehr verzweifelte und erzwungene Versuche die kollabierende Marktwirtschaft zu retten. Es war ein adliger Konservativer, Bismarck, der in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland die Renten- und Krankenversicherung einführte. Das war etwas Einmaliges. „Der Glaube an die Harmonie der Interessen“, sagte er damals, „hat in der Geschichte bankrott gemacht. Gewiss kann der einzelne viel Gutes tun, aber die soziale Frage lösen kann nur der Staat“.
Die deutschen Sozialreformen haben auch Schule gemacht. Es war der Sohn eines britischen Herzogs, Churchill, der im Jahre 1911 die erste Arbeitslosenversicherung für alle aufbaute. Es war ein Patrizier, Präsident Franklin D. Roosevelt, der mit dem Wohlfahrtsstaat den amerikanischen Kapitalismus vor dem Kollaps bewahrte. Keiner von ihnen hätte so gehandelt, wenn er nicht um die Existenz des Kapitalismus gebangt hätte. Allen diesen großen konservativen Staatsmännern war klar geworden, dass soziale Zugeständnisse als Wiedergutmachung für die Sünden des Liberalismus nicht zu vermeiden waren. Eigentlich hat schon Adam Smith in aller Deutlichkeit davor gewarnt, dass die „Schicht der Arbeiter“ nicht nur verarmen, sondern unweigerlich auch in eine Lage von völliger geistiger Verwahrlosung geraten würde, „wenn der Staat nichts unternimmt, dies zu verhindern“.
Wir stellen also fest:
3: Das erste deutsche Wirtschaftswunder war auch das Ergebnis einer der damals fortgeschrittensten Sozialpolitik der Welt
Mit einem Wort, es war ein großer Erfolg, was damals in Deutschland geleistet wurde. Die ganze Welt hat es bewundert. Es schwebte seitdem in der Tat etwas vom deutschen Übermenschen in der Luft - im positiven Sinne.
Das Erste deutsche Wirtschaftswunder: Ein Muster für jede spätere erfolgreiche Entwicklungspolitik
Nachdem man sich den Erfolg Deutschlands angesehen hat, kann man sich fragen: War die nachholende Entwicklungspolitik des deutschen Kaiserreiches etwas Besonderes und Originelles? Man will das nicht gern so sehen, wenn man der marktradikalen Auffassung anhängt. Der großartige Erfolg der staatsinterventionistischen und protektionistischen Wirtschaftspolitik passt nämlich überhaupt nicht zur reinen Marktlehre. War aber diese Wirtschaftspolitik wirklich etwas Anderes als die Entwicklung des Kapitalismus bei unseren westlichen europäischen Nachbarn viele Jahre zuvor, vor allem im führenden kapitalistischen Land Großbritannien?
Was ihre Originalität betrifft darf man nicht das damalige Amerika außer Acht lassen. Der bereits erwähnte List hat seine staatsinterventionistische und protektionistische Wirtschaftspolitik auch als das „American System“ bezeichnet, weil er sie bei seinem Aufenthalt in Amerika studiert hat. Diese Wirtschaftspolitik war gewissermaßen ein Import, eine Nachahmung von dem, was in Amerika sehr erfolgreich war. Trotzdem bedeutet der amerikanische Erfolg etwas Anderes. In Amerika hatte man nämlich mit ganz besonderen Umständen zu tun. Der dortige Erfolg lässt sie auch auf die Tatsache zurückzuführen, dass dem Einwanderer der jungfräuliche und unbesiedelte Boden zur Verfügung stand. Immer wenn die Marktwirtschaft in eine Krise geriet, wie man es etwa im kapitalistischsten Land Großbritannien schon lange kannte, - woraus der neue britische Bürger Karl Marx schon den Untergang des Kapitalismus prophezeite - brauchten die amerikanischen Einwanderer keine Revolution gegen die Kapitalisten anzuzetteln. Viel einfacher war es, weiter Indianerstämme auszurotten und sich das Land, das „Gott den Menschen gemeinsam gab“ (John Locke) unter den Nagel zu reißen. In Deutschland war das nicht der Fall, auch wenn dort die Option auszuwandern durchaus zur Verfügung stand. Deshalb lässt sich sagen, dass in Deutschland der Beweis erbracht wurde, dass die staatsinterventionistische und protektionistische Wirtschaftspolitik erfolgreich sein kann, ja dass eigentlich nur durch sie eine nachholende Industrialisierung einer Wirtschaft möglich ist. Deshalb wurde gerade diese Wirtschaftspolitik zum Vorbild der Länder, die später ebenfalls erfolgreich waren.
Die großartigen Erfolge der „vier kleinen Tiger“ (Hongkong, Singapur, Taiwan und Südkorea) und von Japan, die nicht nur geografisch, sondern auch kulturell Indien nahestehen, vermitteln auch das klare Ergebnis einer nichtliberalen, staatlichen, ja, sogar typisch paternalistischen Entwicklungspolitik. Es sind also Erfolge einer Politik, bei welcher der starke Staat nicht nur ordnungspolitische Rahmenbedingungen setzt, sondern auch massiv in die Wirtschaftsentwicklung eingreift. „Wenn wir uns nur auf den Markt verlassen hätten, dann hätten wir in Singapur vielleicht gar nichts“, erklärt Lee Kuan Yew, der ab 1965 Singapur für längere Zeit regierte. Manchmal wurde mit einem gewissen Befremden und Erstaunen bemerkt, dass auch der heutige chinesische Erfolg mehr List und seinem nationalen System der Politischen Ökonomie zu verdanken hat als Smith.
Schon diese wenigen Beispiele bezeugen die abstoßende Einseitigkeit der liberalen Theorie und ihrer doktrinären Blindheit gegenüber den allgegenwärtigen Tatsachen. „Die Geschichte der Marktregulierung gibt kaum Anlaß zu der Behauptung, der Einsatz der Staatsgewalt hätte irgendeinen Wirtschaftssektor ,zerstört‘, auf dem Ordnung zu schaffen sie berufen wurde. ... In manchen kapitalistischen Volkswirtschaften ist die politische Maschine sehr mächtig; in anderen ist sie schwach. Das Versäumnis der radikalen Kapitalismustheorien ist, daß sie dieses Problem weder erklären - noch überhaupt in Betracht ziehen.“ so der amerikanische Ökonom und Historiker Robert L. Heilbroner. Die Marktwirtschaft ist also noch nirgendwo als ein so genanntes spontanes Gleichgewicht vieler mikroökonomischer Kräfte entstanden, und auf diese Weise wird sie auch langfristig nicht überleben können. Wo sie dauerhaft Bestand hatte, war immer viel staatliche Macht im Spiel.
Es ist interessant, ja sogar höchst amüsant zu hören, was diejenigen, die sich der reinen Marktlehre verpflichten fühlen, diesen Umstand erklären. Es ist natürlich eine undankbare Aufgabe, so dass sich nur wenige auf dieses Terrain wagen. Die Erfahrung zeigte ihnen, dass sie am besten davonkommen, wenn sie beharrlich schweigen. Die prominenten Liberalen, müssen sich meistens vor dem dem bekannten Ausruf „Der König ist nackt!“ nicht fürchten. Hier geht Milton Friedman mit seiner merkwürdigen Interpretation des indischen liberalen Desasters mit schlechtem Beispiel voran. Schauen wir uns einmal die Friedmansche Erklärung an, warum damals Japan erfolgreich wurde und Indien mit der liberalen Wirtschaftspolitik immer scheiterte:
„Die Männer, die in Indien ans Ruder kamen, hatten sich der politischen Freiheit, der persönlichen Freiheit und der Demokratie verschrieben. Ihr Ziel war nicht nur die nationale Macht, sondern auch die Verbesserung der ökonomischen Bedingungen für die Massen.“
Die Japaner, fährt Friedman fort, waren dagegen hartgesottene Aristokraten und Tyrannen und ...
„ ... in erster Linie daran interessiert, die Macht und den Ruhm ihres Landes zu mehren. Persönliche oder politische Freiheit war für sie unbedeutend. Sie glaubten an die Aristokratie und an die politische Kontrolle durch eine Elite.“
Die japanische Aristokratie - will Friedman damit sagen - hatte einfach nichts anderes im Sinn als das eigene Volk rücksichtslos auszubeuten, und eben deshalb war ihre Wirtschaftspolitik erfolgreich. Was für ein Ethos! Wenn diese Aristokratie so über alle Maßen ausbeuterisch, brutal und erbarmungslos war, dann fragt man sich, warum gerade Japan zu den egalitärsten Ländern der Welt gehört und Indien dagegen zu denen mit traditionell sehr großen sozialen Unterschieden. Eines hat Friedmans Argumentation aber für sich. Weil es keine Methode gibt, um zu messen, ob die Zuneigung der indischen Aristokratie zum eigenen Volk emotional stärker war als die der japanischen ist es schwierig, die Friedmansche Erklärung zu widerlegen. Versuchen wir es dennoch.
Vorab können wir bemerken, dass das Friedmansche Palaver über die sozialen Verhältnisse in Indien und Japan nichts anderes ist als das Gerede eines engagierten und selbstbezogenen Intellektuellen, der in der Pose des Propheten zu allem und jedem etwas zu sagen hat. Wer nämlich den fernen Osten wirklich kennt, hat eine diametral entgegengesetzte Meinung zur indischen und japanischen Aristokratie. Wie viele unterentwickelte Länder besitzt Indien eine lange Tradition der Ausbeutung von Unterschichten durch übermächtige Minderheiten, so dass „ein freiwilliger Verzicht auf eigene Vorrechte, wie sie der japanische Adel vollzog, niemals stattgefunden hat“. Darüber hinaus stand den übermächtigen Produktionsmittelbesitzern in Indien immer ein schwacher Staat gegenüber. „Lange Zeit war die Beziehung dieses Staates zur Gesellschaft nur die eines Steuereinnehmers ... Im 19. Jahrhundert ... waren die Staatseinnahmen eher eine Art Rente als Steuern. ... Unter dem Einfluß der Weltwirtschaftskrise gingen die Zolleinnahmen zurück. ... Die Staatsquote war dementsprechend gering.“ Und nicht zuletzt „ist der indische Arbeitsmarkt so beschaffen, daß die übliche Aufgabe von Gewerkschaften, nämlich Tarifverträge auszuhandeln, ohnehin nicht anfällt“. Es war also wirklich alles vorhanden für eine liberale Erfolgsstory, sie hat sich aber nicht einmal mit leisester Stimme je angekündigt. „In Indien wurden sagenhafte Reichtümer erworben und auch wieder verloren, aber es kam zu keiner Kapitalakkumulation.“
So einfach ist das. Friedman hat also seine „Sozialgeschichte“ Indiens frei erfunden. So etwas tut ein Theoretiker bekanntlich nur in einer aussichtslosen Lage, und was Indien betrifft, so ist die Lage der liberalen Theorie zum Verzweifeln aussichtslos. Indien hat für lange Zeit ökonomische Bedingungen geboten, die vom Standpunkt der Laissez-faire-Theorie in der Tat kaum Wünsche offen ließen. Erst seit einigen Jahrzehnten nähert sich die indische Staatsquote dem Maß der westlichen Industrieländer an, und wenn es der indischen Wirtschaft nach so langer Zeit gerade jetzt gelingt, sich aus der Misere herauszuarbeiten, so wird man gelassen sagen dürfen: Indien hat dies nur mit Hilfe eines starken Staates erreicht. Aber das große asiatische Land ist heute nicht nur die größte Demokratie der Welt, sondern ist noch immer Heimat einer Wirtschaftspolitik, die der marktradikalen Lehre verpflichtet ist, mit dem Ergebnis, dass die Chinesen heute dreimal mehr pro Einwohner erwirtschaften als die Inder, und das alles haben sie in einer fast unglaublich kurzen Zeit erreicht. Noch vor wenigen Jahrzehnten haben sie mit steinzeitkommunistischen Ideen experimentiert.
Friedman hat uns auch mit anderen originellen Verlautbarungen überrascht, in denen er erklärte, warum die russische fundamentalistisch-liberale Transition missglückt ist und die chinesische, die vom staatlichen Apparat geleitet wird, sich als ein großer Erfolg herausgestellt hat. Dies sei deshalb der Fall, weil China „frühzeitig mit Landreformen begonnen hat“ - so seine lapidare Erklärung. Man muss sich hier in der Tat zusammenreißen: Auf einmal ist es für einen orthodoxen Liberalen nicht mehr der Rede wert, dass China die privaten Eigentumsrechte zwar duldete, aber immer noch nicht richtig einführte und von der Privatisierung der großen Staatsunternehmen nichts wissen wollte, so dass dieses Land immer noch zu den am meisten abgeriegelten und reglementierten Volkswirtschaften gehört und der WTO erst vor kurzem beigetreten ist. Was für ein Unterschied zu Russland, in dem sich die neuen Eliten - von westlichen Neoliberalen teuer beraten und überschwänglich gelobt - vorerst nur darum gekümmert haben, ihren Reichtum zu legalisieren, während die Bevölkerung immer tiefer im Elend versank.
Die Leute, die heute vom Zusammenbruch des chinesischen Staates träumen, sind eigentlich Verbrecher und träumen vom Massenmord. Sie wünschen sich so etwas wie den Zusammenbruch der UdSSR. Zu Beginn dieses „Reformprozesses“ meinte einer der Haupttäter, Gaidar, vor der Presse – lachend! -, dieser Prozess werde wohl Millionen Tote kosten. Er hat recht behalten. Die Bevölkerungsverluste der Jelzin-Gaidarzeit, in der die Menschen in den Wintern erfroren oder von Unterernährung und Krankheiten umkippten - bei gestrichener medizinischer Versorgung! - und in der die Lebenserwartung von 72 auf ca. 55 Jahre sank, werden auf 10-15 Millionen geschätzt. Das ist mehr als Stalin auf dem Gewissen hat. Übrigens wurden diese Vorgänge in China sehr aufmerksam wahgenommen. Auch was der Westen mit einem Land anstellt, das neben seinem Wirtschaftssystem auch seine nationale Unabhängigkeit preisgibt, wurde genau beobachtet. The Gki Archipelago
Damit man sich das Ausmaß dieser russischen Tragödie richtig vorstellen kann, greifen wir auf einen Vergleich mit den Gulags zurück. In der American Historical Review (1993) schreiben die Historiker auf 33 Seiten, dass es z. B. in den Jahren 1921–1953, also zusammen 33 Jahren - in den Gulags ca. 2,3 Millonen Tote gab. Das sind deutlich weniger als mehrere zehn Millionen. Die Gesamtsumme der Exekutierten in der Stalin-Zeit beträgt etwa 800 000. Im Jahr der großen Säuberungen, 1939, gab es den Spitzenwert von 2 022 976 Gefangenen. (J. Arch Getty, Gabor Rittersporn, Victor Zemskov: Victims of the Soviet Penal System in the Pre-War Years: A First Approach on the Basis of Archival Evidence.) American Historical Review, 98 (October 1993) 1017-1049
Mit einer großen Portion Galgenhumor kann man sich fragen: Wenn die Chinesen dies alles angeblich nur mit ihrer Landreform vermeiden konnten, warum ist eine so exzellente Maßnahme nicht den liberalen Beratern Russlands eingefallen, sondern ausgerechnet den chinesischen „Kommunisten“?. Schade, dass uns Friedman dazu keine erhellende Erklärung hinterlassen hat.
Für den totalen Misserfolg der liberalen Politik der völlig offenen Grenzen ist das Spanien des 18. Jahrhunderts ein hervorragendes Beispiel. Um so billig wie möglich zu kaufen - heute würde man sagen: im Interesse der Kunden, damals war es natürlich im Interesse des feudalen Staates und des Adels - hat man allen erlaubt, in Spanien Waren zu verkaufen.
„1675 stellte ein Spanier frohgemut fest, die ganze Welt arbeite für Spanien: Möge die Londoner Industrie ihre Gewebe nach Herzenslust fertigen, Holland seinen Kambrik, Florenz sein Tuch, die westindischen Gebiete ihren Biber und ihre Vikunjawolle, Mailand seine Brokatstoffe, Italien und Flandern ihr Leinen - solange nur unser Geld dies alles genießen kann. Bewiesen wird dadurch nur, daß alle Nationen Handwerker für Madrid ausbilden und daß Madrid die Königin der Hauptstädte ist, denn alle dienen ihr, und sie dient keinem.“
Man verlor damals keinen Gedanken an die staatliche Unterstützung der eigenen Industrie und oder den Schutz der eigenen Unternehmen vor der ausländischen Konkurrenz, und vom staatlichen Ausbau der Infrastruktur wollte man schon gar nichts wissen. Auch die vielleicht einzige Chance, die ungezügelte Freiheit des Stärkeren auf dem Markt durch eine Agrarreform zu bändigen, endete in „der Konzentration des Grundbesitzes in den Händen einer neuen Klasse abwesender Grundherren, - ein Vorgang welcher die Armen bis zu einem gewissen Maße abhängig machte, das in manchen Fällen schon an Leibeigenschaft grenzte“. Dies waren offensichtlich die Bedingungen, die heutige Befürworter der Globalisierung als Ideal anpreisen: freies Handeln, keine Staatseinmischung und niedrige Löhne. Und es kam, wie es kommen musste. Möglicherweise hat Abraham Lincoln an Spanien und Portugal gedacht als er sagte: „Schafft die Zölle ab und unterstützt den Freihandel, dann werden unsere Arbeiter in jedem Bereich der Wirtschaft wie in Europa auf das Niveau von Leibeigenen und Paupern heruntergebracht.“ Der Fehlschlag der Industriellen Revolution in Spanien ist also „weniger der eines Spätlings als der eines weitgehend erfolglosen Versuches, in die Reihen derer aufgenommen zu werden, die zuerst da waren“. Der Niedergang kam, als keine großen Mengen von in Amerika erbeuteten Edelmetallen mehr ins Land flossen.
Man kann auch etwas über die Löhne sagen, von denen der reinen Marktlehre zufolge immer alles abhängt. Ohne niedrigere Löhne, beschönigend bezeichnet man dies als Lohnzurückhaltung, gäbe es keine erfolgreiche ökonomische Entwicklung, geschweige denn ein Aufholen der noch nicht fortgeschrittenen Wirtschaften. Auch hier kann man nur rätseln, ob die neoliberalen Vertreter der reinen Marktlehre unglaublich böse Menschen sind, die geistigen Prostituierten der Reichen, oder einfach nur mit völliger Realitätsblindheit geschlagen.
Fangen wir mit Amerika an. Als am Ende des 19. Jahrhunderts Amerika die Rolle der weltweit führenden Wirtschaftsnation übernahm, schrieb der deutsche Ökonom Sombart in seiner Untersuchung Warum es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus gibt:
„Ich glaube, daß man auf Grund des vorliegenden Ziffernmaterials mit ziemlicher Bestimmtheit dieses aussagen kann: die Geld-Arbeitslöhne sind in den Vereinigten Staaten zwei- bis dreimal so hoch wie in Deutschland, ... [obwohl] ... die Beschaffung der gleichen Menge notwendiger Unterhaltsmittel nicht wesentlich kostspieliger ist, als bei uns. ... [Der amerikanische Arbeiter] verwendet sein so viel höheres Einkommen vor allem dazu, um die ,notwendigen‘ Lebensbedürfnisse in reichlicherem Maße zu befriedigen; d. h. er wohnt besser, kleidet sich besser, nährt sich besser als sein deutscher Kollege. ... Auch im Auftreten, im Blick, in der Art der Unterhaltung sticht der amerikanische Arbeiter grell vom europäischen ab. Er trägt den Kopf hoch, geht elastischen Schritts und ist frei und fröhlich in seinem Ausdruck wie nur irgendein Bürgerlicher“, weshalb er nicht zum Sozialismus, sondern zum Kapitalismus eine „intime Beziehung“ hegt. „Ich glaube, er ist mit dem Herzen beteiligt: ich glaube, er liebt ihn.“
Was Sombart damals vorfand, kennt man als American Dream. Dass die amerikanischen Kapitalisten nicht aus sentimentalen oder patriotischen Gründen hohe Löhne bezahlten, ist gewiss. Gerade in Amerika, schrieb Sombart im gleichen Aufsatz, „setzt sich das kapitalistische Interesse so rücksichtslos durch“, wie man es in „keinem europäischen Gemeinwesen kennt ... auch wenn sein Weg über Leichen geht.“ Wenn man sich die ökonomische Entwicklung von Asiens kleinen Tigern ansieht, entpuppt sich der neoliberale Grundsatz, harte Arbeit und Verzicht kämen zuerst, und die Löhne ließen sich erst dann erhöhen, wenn sich die Wirtschaft entwickelt habe, einmal mehr als akademischer Unfug. Nicht nur, dass „das wirtschaftliche Erfolgsmodell der vier kleinen Tiger zum großen Teil politische Ursachen hat“, sondern es hat auch bei kontinuierlich steigenden Löhnen stattgefunden. Während des Taiwanesischen Wunders (1953-1990) sind zum Beispiel die Löhne auf das 13-fache gestiegen, und zwar gemessen an ihrer realen Kaufkraft.
Wie es in Deutschland war, können wir dieser historischen Tatsache entnehmen:
„In den drei Jahrzehnten nach 1866 verließen 2,9 Millionen Deutsche ihre Heimat ... Nach 1893, mit der einsetzenden Hochkonjunktur, riß die Massenauswanderung plötzlich ab und schrumpfte zu einem Rinnsal: Die Neue Welt lag jetzt in Deutschland selbst.“
Die Historische Schule: Ein Versuch die deutsche Erfahrung theoretisch zu erschließen
Erinnern wir uns, dass es in der Mitte des 19. in Großbritannien schon eine weit entwickelte moderne Wirtschaftswissenschaft gab, die damals noch Politische Ökonomie hieß. Sie hatte schon viele Größen auf diesem Gebiet hervorgebracht: Petty, Hume, Smith, Ricardo, Mathus, Mill, um nur die wichtigsten zu benennen. Die deutschen Ökonomen hätten deren Werk übernehmen und weiterentwickeln können. Das ist nicht geschehen, sondern es entstand eine genuin deutsche Wirtschaftswissenschaft: Die Deutsche Historische Schule der Nationalökonomie.
Die Historische Schule hat sich insbesondere mit praktischen Problemen beschäftigt, wie man das Land am schnellsten industrialisiert, und auch mit der aufkommenden sozialen Frage, also mit der Verarmung breiter Schichten im Zuge der kapitalistischen Entwicklung. Sie hat sich auch leidenschaftlich mit der Kritik an der klassischen Lehre beschäftigt. Ihre Grundthese ist es, dass alle wirtschaftlichen Erscheinungen raum- und zeitabhängig sind und deshalb keine allgemein gültigen Theorien aufgestellt werden können. Unterschieden werden:
(1) Ältere historische Schule (Vorläufer List, Roscher, Hildebrand, Knies),
(2) Jüngere historische Schule (Schmoller als Hauptvertreter, Bücher, Brentano, Knapp) und
(3) „Dritte“ historische Schule (Weber, Sombart, Spiethoff).
Diese Schule prägte nicht nur die Wirtschaftswissenschaft sondern auch die ganze deutschsprachige Sozialwissenschaft etwa ein Jahrhundert lang, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu Mitte des 20. Jahrhunderts. Zu ihr gehören also nicht nur die Nationalökonomen, sondern auch andere Sozialwissenschaften und -wissenschaftler, wie etwa Max Weber, einer der wichtigsten Soziologen des 20. Jahrhunderts. Ein Ableger der Historischen Schule der Nationalökonomie, wenn auch in einer verwässerten Form, war der Ordoliberalismus nach dem Zweiten Weltkrieg, den wir gesondert behandeln werden.
Die Frage der Methode und der innerdeutsche Methodenstreit
Die Deutsche Historische Schule hat sich parallel zum neuen marktradikalen Liberalismus entwickelt. Diese zwei Schulen konnten sich schon deshalb nicht versöhnen, weil die erste das ganze gesellschaftliches Leben, auch die Wirtschaftsformen, als ständig veränderbar und historisch vergänglich betrachtete; der neue Liberalismus war schon von Anfang ein quasireligiöser Fanatismus einer ewigen Wahrheit und dem Ende der Geschichte. Außerdem war den deutschen „Historikern“, die mit ihrer Ausbildung ihren Gegnern um Längen überlegen waren, schlicht unbegreiflich, wie man eine Wirtschaft erklären könnte, indem man das Modell der Massenbewegung der klassischen Mechanik nimmt und die Kräfte gegen den Nutzen austauscht. Werner Sombart, der wichtigste ökonomische Vertreter der „Dritten“ historischen Schule dazu:
„Manche Vertreter des „Nutzprinzips“ haben Ernst mit ihrer Auffassung gemacht, indem sie die Folgerung gezogen haben, daß die Nationalökonomie zu einer allgemeinen „Genußlehre“ auszubauen sei. Der erste, der diesen Gedanken gefaßt hat, ist wohl der geniale Idiot Gossen gewesen, dessen Werk über „Die Gesetze des menschlichen Verkehrs“ die Veranlassung zu allem möglichen Unfug geworden ist.“
Und auch mit einer mathematischen oeconomia pura konnten die Historiker nichts anfangen. Dennoch hat diese Vision gesiegt, wenn auch mit großer Verzögerung. Sombarts Zeitgenosse, der schwedische Ökonom Knut Wicksell (1851-1926) dazu:
„Beinahe tragisch ist es jedoch, daß der sonst so klare und scharfsinnige Walras diesen strengen Beweis, den er bei den damaligen Verteidigern des Freihandelsdogmas vermißte, schon dadurch gefunden zu haben glaubte, daß er gerade den Gedankeninhalt, der ihm in gewöhnlicher Sprache ausgedrückt ungenügend erschien, bloß in eine mathematische Formel einkleidete.“
Man kann sich denken, dass der Streit irgendwann offen ausbrechen musste. Diese heftige Auseinandersetzung im deutschsprachigem Raum zwischen der Historischen Schule der Nationalökonomie und der Österreichischen neoliberalen Schule ist bekannt als Methodenstreit. Er hatte seinen Höhepunkt in den 1880er und 1890er Jahren. Aus der Bezeichnung „Methodenstreit“ lässt sich gut erahnen, worum es ging. Um es einfacher zu beschreiben, bedienen wir uns eines Gleichnisses von Francis Bacon (1561-1626), der wichtigste Wegbereiter der modernen Philosophie.
Die alten Philosophen, so Bacon, entwickelten ihre Gewebe aus sich selbst heraus wie eine Spinne. Das von ihnen gesponnene Netz sei ordentlich ausgearbeitet, aber nur eine Falle. Auch das Bestehende nur zusammenzutragen und zu gebrauchen, wie eine Ameise, sei noch keine richtige wissenschaftliche Tätigkeit. Der wahre Wissenschaftler würde wie eine Biene arbeiten, die aus den Blumen Stoff sammle und ihn dann verarbeite. Was die Spinne fängt und die Ameise anhäuft, sind nur bestehende Tatsachen, die Biene schafft neue.
Die Historische Schule wäre hier mit der Ameise zu vergleichen. Man hat ihr in der Tat ständig Theoriefeindlichkeit vorgeworfen, was zwar überzogen, aber auch nicht ganz falsch ist. Sie hat zwar versucht die Tatsachen zu ordnen, zu systematisieren und zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Aber das ist noch keine Wissenschaft. Damit kann man die wirtschaftlichen Entwicklungsstufen illustrieren, nicht jedoch ihre Zwangsläufigkeit beweisen. Erwähnen wir noch List, der unermüdlich erklärte, dass das Ganze nicht aus seinen Teilen zu erklären ist, der aber von einer konkreten Theorie noch immer weit entfernt war.
Der Gegner, die Österreichische Schule, ist mit der Spinne zu vergleichen. Was die Spinne spinnt, ist ihr eigenes Produkt, und die aus abstrakten Prinzipien (Grenznutzen, Grenzproduktivität, ...) erarbeiteten Modelle sind keine Beschreibung der Wirklichkeit. Sie sind keine Wissenschaft, sondern nur logische und mathematische Übungen.
„Einen Gewinner in dem Sinne, dass eine Seite die andere überzeugt hätte, gab es nicht. Verglichen mit der Ausgangssituation war jedoch im Nachhinein die Österreichische Schule deutlich gestärkt und die totale Hegemonie der Historischen Schule gebrochen. Im 20. Jahrhundert gewann die Österreichische Schule – allerdings in einigen Fragen von ihrem damaligen Standpunkt abgerückt – weltweit Einfluss und ist bis heute präsent, während die Historische Schule in reiner Lehre praktisch nicht mehr existiert.“
Wir werden uns die konkreten Schwächen der Historischen Schule im Rahmen der Kritik des Ordoliberalismus anschauen.
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