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Die EU: Ein neoliberales Projekt nach dem Vorbild des deutschen Merkantilismus |
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Der Ordoliberalismus: Wundenlecken nach dem neoliberalen Desaster von Weimar |
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Jede Fraktion der herrschenden Klasse hat ihre Künstler und ihre Philosophen, ihre Zeitungen und ihre Kritiker, genauso wie ihren Friseur, ihren Innenausstatter und ihren Schneider. |
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Pierre Bourdieu, berühmter französischer Soziologe |
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Sein Antrieb zur Modernisierung des liberalen Programms bezog der Ordoliberalismus weder aus der kritischen Analyse der kapitalistischen Ökonomie noch aus der Reflexion des Entwicklungsweges des deutschen Liberalismus, sondern allein aus dem Bestreben, in der Neuordnung nach dem Krieg eine marktwirtschaftliche Ordnung zu legitimieren und zu stabilisieren. |
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Ralf Ptak, deutscher kritischer Wirtschaftswissenschaftler |
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Die Historische Schule der Nationalökonomie hat den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt. Es gibt zwei Gründe dafür. Den ersten, den methodischen, haben wir schon erwähnt. Kurz gesagt beruhte die Historische Schule auf einer sehr schwachen Theorie. Ihre Vertreter haben zwar die Veränderlichkeit ökonomischer Phänomene erkannt und sie haben sich an die empirischen Tatsachen gehalten. Das waren die größten Stärken der Historischen Schule, aber sie haben damit Wirtschaftstheorie mit Wirtschaftsgeschichte verwechselt. Durch bloßes Sammeln der Tatsachen lässt sich allenfalls ein Museum bestücken, aber niemals eine Theorie entwerfen. Man kann also der Historischen Schule keine Realitätsblindheit vorwerfen, aber sie hatte keine analytische Theorie. Genauer gesagt hat sich die Historische Schule nur der induktiven, aber gar nicht der deduktiven Methode bedient. Sie hat, wie es der Soziologe Max Weber formulierte, idealtypisch gearbeitet, also die Tatsachen verallgemeinernd sortiert und kombiniert, um die Wirklichkeit zu beschreiben. Aber Beschreiben bedeutet nicht Erklären.
Der zweite Grund des Untergangs der Historischen Schule war, dass sie zu der neuen ökonomischen Lage in Deutschland nicht mehr passte. Sie hatte als Ratgeber große Verdienste darum erworben, Deutschland von einem rückständigen feudalen zu einem führenden kapitalistischen Land zu überführen und dass die deutsche Wirtschaft hinsichtlich der Produktivität die „alten“ kapitalistischen Wirtschaften eingeholt oder gar überholt hat. Eine solche Wirtschaft braucht aber keinen Schutz vor dem Rest der Welt mehr, im Gegenteil. Sie will Schranken niederreißen und zum Global Player werden. Weil für sie der Binnenmarkt zu klein ist, braucht sie die ganze Welt als Absatzmarkt. In der Tat wurde die neu entstandene Klasse der reichen Bürgerlichen immer mehr von der Wahnidee der uneingeschränkten Freiheit besessen. Wie sich später zeigen würde, hatte Deutschland eine der brutalsten, am härtesten sozialdarwinistisch eingestellten Kapitalistenklassen der Welt bekommen. Das Jahrhundert der deutschen Katastrophen hatte begonnen. Zuerst verlangte Deutschland einen „gerechten“ Anteil an den Kolonien. Das war der Sinn und Zweck des angeblichen deutschen Anspruchs auf den „Platz an der Sonne“, wie man dann zu sagen pflegte, um den Ersten Weltkrieg zu rechtfertigen.
Kurz zusammengefasst war die Historische Schule den deutschen Machteliten, den sogenannten Wirtschaftskapitänen, wie man sie damals nannte, nur ein Klotz am Bein. In der Weimarer Zeit fanden ihre Vertreter kein Gehör bei denen, die in Praxis etwas zu sagen hatten. Auch wenn sie in den akademischen Kreisen noch stark vertreten und tonangebend waren, hatte in der Praxis, also in der realen Politik, die Gegenseite schon endgültig gesiegt und ihre marktradikalen Auffassungen durchgesetzt. Das Deutschland wurde zum richtigen Kapitalismus.
„Der Umbruch 1918/19 löst in Deutschland den durch den Weltkrieg bedingten Stau der großen geistigen Strömungen seit der Jahrhundertwende. Deutschland bekommt den liberalsten Staat seiner Geschichte.“
In der Fortsetzung dieses Beitrags geht es uns um die soziale Katastrophe, welche der sozialdarwinistische Neoliberalismus angerichtet hat, aber der Vollständigkeit halber erwähnen wir auch, dass er sogar nach rein ökonomischen Effizienzkriterien ein Fehlschlag war.
„Die Produktivität nahm also in der Weimarer Republik langsamer zu als in irgendeinem anderen Zeitraum während der letzten hundert Jahre.“
Weil die deutschen „Eliten“ die neoliberale Wirtschaftspolitik mit dermaßen rabiaten und brutalen Mitteln durchsetzten, wie es in keinem anderen kapitalistischen Land der Fall war, kamen ihre sozialen Auswirkung dem sozialen Genozid am deutschen Volk gleich, was zu Hitler und zum Zweiten Weltkrieg führte. Der Sieg der reinen Marktlehre hat sich in Deutschland also als ein Pyrrhussieg erwiesen. Nach der Weltwirtschaftskrise, dem Faschismus, dem Genozid und dem Weltkrieg war der Neoliberalismus kompromittiert. Das einzige was ihm übrig blieb war Tarnung: Die noch vor kurzem marktradikalen deutschen Liberalen wurden zu den Ordoliberalen, die noch einiges aus der Historischen Schule übernahmen.
Heute, nachdem wir wissen, wie es mit dem Ordoliberalismus weiterging, steht außer Zweifel, dass dieser besondere Liberalismus nur ein Umweg zum marktradikalen Liberalismus war. Dieser erhob sein Haupt wieder mit dem Lambsdorff-Papier der FDP, das dann die deutschen Sozialdemokraten unter dem Kanzler Schröder als die Agenda 2010 vollständig umsetzten. Heute ist der Ordoliberalismus tot. Alle seine Vertreter sind schon längst zum Neoliberalismus zurückgekehrt: Willkommen zu Hause, könnte man ihnen zurufen. Vielleicht werden sie noch ab und zu etwas von den Ordoliberalen zitieren, denn diese haben gute Sonntagsreden geschrieben, aber das ist alles. Warum sollte uns dann die Geschichte des Ordoliberalismus überhaupt interessieren?
Schon oft wurde bemerkt, dass die Geschichte wiederholen muss, wer sie nicht kennt. Und wir befinden uns tatsächlich in einer Zeit, in der sich die Geschichte wiederholt. Und sie wiederholt sich auf eine dermaßen gleiche Weise, dass man es nicht glauben will. Was die raffgierigen, rücksichtslosen und räuberischen deutschen Eliten dem deutschen Volk in der Weimarer Zeit angetan haben, wurde zur Wirtschaftspolitik der EU. Wir wissen nicht, wie es mit der EU weitergehen wird. Wir können uns das in Erinnerung rufen, was damals in Deutschland geschah und uns Gedanken machen, was wir heute anders machen sollten.
Vom Kaisertum zu Hitler: Das Desaster des ersten deutschen neoliberalen Experiments
Es ist in diesem Zusammenhang angebracht, zuerst auf die Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852) von Marx zu verweisen, wo er erklärt, dass die Bourgeoisie in kritischen Zeiten, wenn sie sich vom Volk bedroht fühlt, bereit ist auf die politische Herrschaft zu verzichten, zugunsten einer autoritären Herrschaft: Sie tauscht die parlamentarische Demokratie gegen einen Diktator aus. Diese Strategie wurde später als Bonapartismus bezeichnet. Ein Bonapartismus wie aus dem Bilderbuch war auch der deutsche Faschismus. Das wollen die Reichen und die Kapitalisten vertuschen und sie tun alles, um eine falsche Erklärung des deutschen Faschismus zu verbreiten. So wird eine verfälschte Geschichte der Weimarer und Hitlerzeit sowie des Zweiten Weltkriegs in den neoliberalen Think-Tanks konstruiert. Erwähnen wir die wichtigsten Stücke dieser Geschichtsklitterung.
Man spricht vom Faschismus als einem „Betriebsunfall“, von einem „Schicksalsschlag“ oder „Verhängnis“, aber auf jeden Fall soll es sich um ein Ereignis handeln, das „unerklärlich“ sei: um ein „ewiges Rätsel“. Wenn man es doch wagt, das „Rätsel“ lösen zu wollen, richtet man alles auf die Person Hitlers aus. Diese dürfte auf keinen Fall etwas mit der deutschen Geschichte und Kultur zu tun haben, mehr noch, es soll sich um eine Art Dämon in menschlicher Gestalt handeln, ein direkt aus der Hölle aufgestiegener Bösewicht. Natürlich werden solche Geschichten von den Deutschen gern gehört: Die Ehre vom Nazi-Vater oder Nazi-Opa wird damit gerettet, und auch wenn man Vater oder Opa dann noch nicht ganz freispricht, dann will man ihn dank dieser Geschichte zumindest besser „verstehen“ können.
Nun hat dieser Dämon in menschlicher Gestalt angeblich die gut funktionierende deutsche Demokratie, die Herrschaft des Volkes, zerschlagen und die ganze Macht an sich gerissen. Wer kennt das Wort „Machtergreifung“ nicht? Schon kleinen Kindern wird dies in der Schule in den Kopf eingehämmert. Aber gab es diese ominöse „Machtergreifung“ überhaupt? Die Historiker müssten es wissen, und diese sagen uns:
„Hitler ist Kanzler eines NSDAP/DNVP-Koalitionskabinetts geworden. Von „Machtergreifung" sprechen 1933 fälschlicherweise einerseits Joseph Goebbels, andererseits Vertreter der demokratischen Parteien, die damit von ihrem eigenen Versagen bis 1932 ablenken wollen. Hitler ergreift nicht die Macht - weder mit parlamentarischer Mehrheit, die er nicht hat, noch durch revolutionäre Gewalt, die er nicht anwendet. Die Macht wird ihm in einem verwirrenden Kräftespiel übertragen. Alle Begleit-Intrigen 1932/33 sind nur deshalb erfolgreich, weil das parlamentarische System, nach Abdankung der Verfassungsparteien, nicht mehr funktioniert hatte.“
Wenn der neoliberale Geschichtsklitterer und -fälscher merkt, dass es mit der „Machtergreifung“ nicht viel auf sich hat, lässt man von ihr ab und nimmt Anlauf, Hitlers Aufstieg anders zu erklären: Man macht das ganze deutsche Volk zum Mittäter. Hitler sei demokratisch an die Macht gekommen, die Deutschen seien es gewesen, die ihn zum Diktator gemacht hätten. Zu diesen „mildernden Umständen“ fügt man gelegentlich hinzu, dass der Dämon praktisch übernatürliche oder hypnotische Fähigkeiten gehabt hätte. Was ist dran an dieser Behauptung?
„Gewählt? Bei den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 erhielten die Nationalsozialisten 18,3 Prozent der Stimmen (6,4 Millionen Wähler), am 31. Juli 1932 waren es 37,2 Prozent (13,7 Millionen), und am 6. November 1932 stimmten 33 Prozent (l 1,7 Millionen) für die NSDAP.“
„Hitler kam nicht aus eigener Kraft an die Macht. Er hatte keine Mehrheit, weder unter den Wählern und damit im Volke noch im Reichstag oder in der Regierung. Es ist nicht wahr, was fast alle populären Deutungen behaupten, daß die Deutschen seine Ernennung zum Reichskanzler gewünscht hätten. Zwei Drittel von ihnen wünschten es nicht. Immerhin hatte er eine in Wahlen sehr stark gewordene Bewegung hinter sich, die ihn vielleicht mit Gewalt an die Macht hätte bringen können. Doch dieser Fall trat nicht ein, jedenfalls nicht am 30. Januar 1933.“
„Es trifft zu, daß nicht die Wahlergebnisse, die im November 1932 für die NS-Partei rückläufig waren, Hitler an die Macht brachten, sondern die Politik der Machteliten, und daß im Januar 1933 die preußischen Junker ... wesentlich an Hitlers Berufung zum Reichskanzler mit gewirkt haben. Dem gegenüber bleibt jedoch festzuhalten, daß auch bedeutende Gruppen der Industrie, z. B. durch Eingabe über Papen-Schröder, am Prozeß der Machtübertragung beteiligt waren..“
Mit diesem propagandistischen Gefasel, dem Volk die Alleinschuld in die Schuhe zu schieben, wollen der Erben der damaligen deutschen Machteliten vertuschen, dass nicht das Volk Hitler zum Führer wählte, sondern ihre Altvorderen damals die finsteren Drahtzieher hinter den Kulissen waren. Sie haben Hitler die Macht ausgehändigt, und zwar nach Bedingungen, die Hitler selbst gestellt hat. Er wurde nicht durch Volkes Wille zum Diktator, sondern nach dem Wunsch der damaligen deutschen Machteliten. Diese raffgierigen, rücksichtslosen und räuberischen Leute haben sich Hitler zum Diktator ausgewählt und sich fleißig an all seinen späteren Verbrechen beteiligt. Der Historiker Hans-Jürgen Eitner schreibt nicht ohne eine gewisse Verwunderung dazu:
„Seit Mai 1945 sitzen fast alle Konzernherren und Großbankiers sowie viele führende Manager unter dem Verdacht der Beteiligung an Kriegsverbrechen im Gefängnis oder Internierungslager. Kaum jemand kann sich 1945 vorstellen, daß diese „kompromittierten Kapitalisten“ jemals wieder zu Macht und Einfluß gelangen würden. Das Gegenteil wird eintreten.“
Wir wissen, dass diese sehr bald vom ersten Bundeskanzler Adenauer zurückgeholt worden sind, mit der Erklärung, die an Zynismus keine Wünsche offen lässt: „Wenn man kein sauberes Wasser hat, schüttet man trübes nicht weg“, sagte er und er meinte es in der Tat sehr ernst. Zum Beispiel waren über 60 Prozent der höheren Beamten des Außenministeriums zuvor Mitglieder der NSDAP gewesen. Wenn man diese „Entnazifizierung“ mit der Suche nach den Stasi-Helfern der ehemaligen DDR vergleicht, dann geht es in Deutschland richtig biblisch zu: Man sieht den kleinsten Splitter im Auge der anderen, den Balken im eigenen wollte man nie sehen.
Uns geht jetzt aber nicht um die Geschichte an sich, sondern um die Ursachen des deutschen Faschismus, also des Bonapartismus: Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr kommen die ökonomischen Ursachen zum Vorschein: das Marktversagen, das Versagen des Kapitalismus. Wer also vom Faschismus nicht reden will, soll auch über den Kapitalismus schweigen – so hat es Adorno auf den Punkt gebracht. Fassen wir diese ökonomischen Ursachen und Umstände kurz zusammen:
Am Anfang des deutschen Desasters der Weimarer Zeit stand ein „ganz normaler“ zyklischer Zusammenbruch des Kapitalismus - bis dahin war es damals genauso wie in der restlichen kapitalistischen Welt. Aber durch die fanatische Verfolgung der brutalsten, marktradikalsten, menschenverachtendsten, kurz neoliberalen Wirtschaftspolitik der damaligen deutschen Machteliten hat sich die soziale Lage dermaßen verschlechtert, dass sie schon die Züge eines richtigen sozialen Genozids annahm. Schließlich sahen die raffgierigen, rücksichtlosen und räuberischen Machteliten, die man noch am ehesten als dämonisch bezeichnen kann, keinen anderen Ausweg, als sich durch einen Diktator vor dem Volk zu schützen: „Wir haben uns Herrn Hitler engagiert“ - so damals der Reichskanzler Franz von Papen. Das ist die ganze Wahrheit über die „Machtergreifung“. Der bekannte Historiker Hans Mommsen hat sie in den Satz gegossen: „Die Weimarer Demokratie scheiterte nicht an Hitler, sondern Hitler war die letzte Konsequenz ihres Scheiterns.“
Uns geht es hier aber auch nicht eigentlich um die Verbrechen der deutschen Machteliten, der Reichen und der Kapitalisten, sondern um ökonomische Theorien. Wie haben nun die Ökonomen in Deutschland und Österreich auf den deutschen Bonapartismus reagiert?
Das Weimarer Desaster und die neoliberale Entdeckung des starken Staates
Der prominenteste Vertreter der Historischen Schule, Werner Sombart (1863-1941), damals in der ganzen Welt bekannt, der letzte Vorsitzende des Vereins für Socialpolitik bis zu dessen (zeitweiliger) Selbstauflösung 1936, Ehrendoktor vieler Universitäten und Ehrenmitglied der American Economic Association, verkündete in aller Klarheit: „Der Führer, unser Führer“ - er meinte natürlich Hitler - „erhält seine Befehle direkt von Gott, dem Führer des Universums“.
Mises, der Leuchtturm des damaligen europäischen Liberalismus, schreibt in seinem wichtigen Werk Liberalismus:
„Es kann nicht geleugnet werden, daß der Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und daß ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. Das Verdienst, das sich der Faszismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben.“
Auf den ersten Blick scheint es, als hätten Sombart und Mises dasselbe gesagt. Das ist aber ganz und gar nicht richtig. Um den Unterschied zu verdeutlichen, erinnern wir uns an Hobbes. Er war der erste ökonomische Liberale, politisch war er autoritär. Obwohl er so etwas wie die kapitalistische Wirtschaftsordnung nur erahnen konnte, wurde ihm klar, dass unter den Umständen der unbeschränkten Freiheit der Stärkere den Schwächeren beherrschen würde, dass dadurch Anarchie und der Krieg aller gegen alle ausbrechen würde. Dies sollte nur eine Macht verhindern können, die stärker sei als die ökonomische Macht der - wie man es viel später formulieren würde - Kapitalisten, sei es persönlich oder als Gruppe. Bei Hobbes ging es nicht darum, dass die Besseren herrschen sollten. Sein Staatskonzept vom Leviathan ist keine Platonsche Diktatur der weisen und gerechten Philosophen-Könige, sondern eine Einrichtung, wie sich das Leben der unvollkommenen Menschen als eingeschränkt rational und eingeschränkt moralische Wesen besser organisieren lässt. Auch die Vertreter der Historischen Schule der Nationalökonomie argumentierten ähnlich. Sie hingen dem Geist der Moderne an.
Den Neoliberalen ging es um Anderes. Sie schwärmten von einem Diktator deshalb, weil man mit ihm die „Massen“ in die Schranken weisen sollte. Die Demokratie war ihnen zufolge dazu unfähig. Nach der marktradikalen Auffassung hätten die „Massen“ den Kapitalismus in die Große Depression gestürzt, und zwar - wir ahnen es schon - durch überzogene Lohnansprüche. Die „Massen“ seien undankbar und dazu noch frech, obwohl dank des Kapitalismus, so der damals berühmteste neoliberale Fanatiker Mises, die Arbeiter „heute unter günstigeren und angenehmeren äußeren Verhältnissen als einst der Pharao von Ägypten leben“. Es handele sich bei den Arbeitern um Menschen, die eine „schwere Erkrankung des Nervensystems“ aufweise, eine akute Paranoia aus Neid und Gier, so Mises, und er hat für sie sogar einen passenden klinischen Namen vorgeschlagen: Fourier-Komplex. Darüber haben wir schon mehr gesagt.
Es gibt keinen späteren Ordoliberalen, der nicht - auf die eine oder andere Weise - die „Massen“ für die Große Depression beschuldigte, und es gibt keinen einzigen, der bei den damaligen „Eliten“ eine Schuld entdecken konnte. Was man am dringlichsten tun müsse, so folgerten sie, wäre den schädlichen Einfluss der „Massen“ zu stoppen und den Eliten und wissenschaftlichen Experten die Führung zu überlassen.
Rüstow erwog die Außerkraftsetzung der gerade erst geschaffenen Weimarer Demokratie, indem er in Anlehnung an den rechtskonservativen Soziologen Carl Schmitt „eine befristete Diktatur“ empfahl, „sozusagen eine Diktatur mit Bewährungsfrist.“ Röpke (1933) sprach davon, dass die „rücksichtslos zur Macht drängenden Massen“ in irgendeiner Weise beruhigt werden müssten, denn ...
„ ... diese Masse steht im Begriff, den Garten der europäischen Kultur zu zertrampeln, skrupellos, verständnislos. Kein Konservativer kann den Liberalen in der Überzeugung übertreffen, daß die Masse niemals aufbauen, sondern nur zerstören kann und daß die Tyrannei der Masse die ärgste von allen ist, weil es ihrem Wesen entspricht, für die Individualität auch nicht einen Funken des Verständnisses aufzubringen.
Wenn der Liberalismus daher die Demokratie fordert, so nur unter der Voraussetzung, daß sie mit Begrenzungen und Sicherungen ausgestattet wird, die dafür sorgen, daß der Liberalismus nicht von der Demokratie verschlungen wird.“
Und nicht anders als bei Mises, ist es auch für Röpke ganz selbstverständlich, „daß Wirtschaftsfreiheit sehr wohl mit einem illiberalen Wirtschaftssystem vereinbar ist.“ Ja, gewiss: Die Freiheit des Stärkeren den Schwächeren ökonomisch auszubeuten. Diese Verteidigung von autoritärer Staatsform und des kompetenten Diktators, die man heute als technokratische Regierung bezeichnet und die wir in Italien schon haben - man erinnert sich hier, dass auch der Faschismus in Italien begann - ist ein kennzeichnender Bestandteil des deutschen Liberalismus, welche Form er auch immer annimmt: ob die ordoliberale oder marktradikale. Die „marktkonforme“ Demokratie ist nur eine andere Bezeichnung dafür.
Ein weiterer berühmter Ordoliberale, dem wir den Begriff „soziale Marktwirtschaft“ verdanken, Müller-Armack, forderte die „Durchbrechung der internationalen Front der Arbeiter- und Unternehmersolidarität“. Wer interessiert ist mehr über die Einstellung der Ordoliberalen zur Demokratie, zur Masse und zur Arbeiterschaft zu erfahren, der ist mit dem Buch von Ralf Ptak, Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft, gut bedient. Hier nur in aller Kürze die Schlussfolgerung dieses Buches.
„Der Begriff ,Masse‘ stand ... bei den Ordoliberalen als Synonym für eine nicht gebildete, unzivilisierte, an primitiven Urinstinkten orientierte Bevölkerungsmehrheit, die sich und die zivilisierte Welt ins Verderben stürzt, wenn sie nicht durch eine starke, durchsetzungsfähige Elite geführt wird. Wenn die frühen Ordoliberalen wie Eucken, Rüstow, aber auch Röpke zu Beginn der dreißiger Jahre von ,Masse‘ sprachen, sich dabei auf Ortega y Gassets Der Aufstand der Masse stüzend, taten sie dies aus einem Gefühl tiefster Verachtung gegenüber dem Kollektivgedanken, in dem die Vorstellung von einem eigenständigen politischen Denken und Handeln der Bevölkerungsmehrheit keinen Platz hatte. Individualität und Subjektivität waren für sie prinzipiell an einen bürgerlichen Status gebunden. Rüstow glaubte gar in dem bereits erwähnten Plädoyer für einen autoritären Verfassungsstaat eine weit verbreitete Stimmung erkannt zu haben, nach der das eigentlich authentische Bedürfnis der ,Masse‘ darin bestünde, „anständig geführt zu werden“. Eucken sah in der Demokratisierung den Sieg der „chaotischen Kräfte der Masse", durch die „jede ordnende Kraft aus dem Völkerleben verschwand.“ Sie galt ihm als die eigentliche Ursache, sowohl für die innen- wie die außenpolitische Instabilität, aber auch der ökonomischen Störungen nach dem ersten Weltkrieg. „Wie die innere Struktur der Staaten in erster Linie unter dem Druck der Massen umgestaltet wurde, und so der heutige Wirtschaftsstaat entstand, ist auch das überkommene Staatensystem gerade infolge des wachsenden Einflusses der Massen zerstört worden.“ Eucken analysierte nicht, er entwarf ein Untergangsszenario, an dessen Ende aus der Enge seiner Argumentation nur totales Chaos oder die Befreiung des Staates vom Einfluß der Massen stehen konnte. Die Rücknahme der politischen Reformen ab 1918 erschien ihm als unabdingbare Voraussetzung zur gedeihlichen Entwicklung des Kapitalismus, die Forderung nach Revitalisierung der „alten ordnenden Prinzipien“.“
Auch im Buch Kritik des Neoliberalismus von mehreren Autoren ist der Ordoliberalismus ausführlich beschrieben. Dort wird folgendermaßen über ihn geurteilt:
„In der ordoliberalen Vorstellung gleicht die gesellschaftliche Struktur einer Pyramide, an deren Spitze eine Führerschicht steht. Die Einteilung der Menschen in eine irrationale Masse, die (missbräuchlich) über die Demokratie Marktkorrekturen erzwingt, und eine geistige Elite, welche die Führung übernehmen muss, um den interventionistischen Verfall von Wirtschaft und Gesellschaft zu stoppen, zeugt nicht nur von tiefem Kulturpessimismus und wenig Vertrauen in die Individualität der Menschen. Sie bringt den Ordoliberalismus auch in unmittelbaren Konflikt mit demokratischen Grundsätzen.“
Man sollte hier noch erwähnen, dass Röpke - der falscheste aller falschen Ordoliberalen - noch darüber faselt, dass das angebliche „Massenproblem“ etwas mit dem Rationalismus der Moderne zu tun hat, und als bestes Beispiel des „Irrwegs des Rationalismus“ die französische Revolution nennt. Er bezeichnet sie als „riesenhafte und noch heute nachwirkende Katastrophe“, ja sogar als „Tragödie, die den Beginn einer bis heute fortdauernden Weltkrise bedeutet.“ Das an sich verdient keinen Kommentar, man sollte nur bemerken, dass dieser Standpunkt haargenau dem des deutschen Faschismus entsprach. Hat nicht Goebbels emphatisch ausgerufen, mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten werde „das Jahr 1789 aus der Geschichte gestrichen!“ Röpke dazu wörtlich:
„So unermeßlich und befreiend auch die Wirkungen des Rationalismus gewesen sind und so wenig er überhaupt aus dem Werden der europäischen Zivilisation weggedacht werden kann, so unbestreitbar ist es, daß er als Ganzes, d. h. trotz aller rühmlichen Ausnahmen und schließlich doch erfolglosen Ansätze zur Besserung, jenen Irrweg ins Unbedingte und Absolute genommen und damit das große Zeitalter der Aufklärung um seine eigentliche Frucht gebracht hat. ... Nur das eine muß mit Nachdruck hervorgehoben werden, daß jenes quantitativ-mathematisch-naturwissenschaftliche Denken, zu dem wie kein anderer Descartes den Grund gelegt hat, eine entscheidende Ursache der Irrwege des Rationalismus gewesen ist, da ein solches Denken ja notwendigerweise gegen die Erfordernisse und Gegebenheiten des Lebens blind machen muß, - des Lebens, das Qualität, Struktur und Gestalt ist.“
Man fragt sich verwunderlich: Gäbe es überhaupt die Naturwissenschaften ohne den Rationalismus der Moderne? Und überhaupt: Worauf sollte man sich noch stützen, wenn man den Rationalismus ablehnt? Röpke erklärt es nicht näher, doch von den deutschen Faschisten wissen wir, dass anstatt der Ratio Instinkte dazu dienen sollten. Meinten sie etwa - wie es sich sehr bald herauskristallisierte - die des sozialdarwinistischen Killers?
Man fragt sich was Röpke an der Französischen Revolution so stören konnte? Dass ihre Parole nicht nur Freiheit war, sondern: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Oder dass sie nicht nur Bürgerrechte, sondern auch Menschenrechte definiert hat? Wahrscheinlich beides. Man kann sich weiter fragen, ob Röpke nur sehr naiv und realitätsfremd oder eine psychisch gestörte Persönlichkeit war.
Die Moral der „Massen“ und der Herren Ordoliberalen
Uns geht es jetzt nicht darum, die so genannten „Massen“ zu verteidigen, konkret die Deutschen und schon gar nicht das, was sie unter dem ihnen untergejubelten Diktator getan haben. Daran zu erinnern ist aber angebracht, um uns in Erinnerung zu rufen, was ein Mensch unter bestimmten Umständen fähig ist zu tun. Constantin Monakow, ein russisch-schweizerischer Neuroanatom und Neurologe hat das folgendermaßen auf den Punkt gebracht:
„Viel mühsam im Leben erworbene und sorgfältig gepflegte und gehütete, sogenannte moralische Prinzipien haben nur Bestand in ruhigen, unsere Existenz nicht erschütternden Zeiten. Jeder ernste Konflikt im Leben stellt unseren Charakter, überhaupt unsere Ethik auf eine harte Probe.“
Würden wir also heute ähnliche Umstände wie in der Weimarer Zeit zulassen, sollten wir für die Zukunft auch Ähnliche Ergebnisse erwarten. Deshalb ist es von existentieller Bedeutung zu verstehen, was damals geschehen ist und wie das überhaupt möglich war. Schauen wir uns kurz an, ob es damals wirklich so war, dass man die Menschen zur Verzweiflung trieb und sie in eine aussichtslose Lage brachte, was in ihnen das Verhalten wilder Bestien entfachte.
Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass die deutschen Machteliten - die Reichen und die Wirtschaftskapitäne - ihre neoliberale Wirtschaftspolitik ohne Rücksicht auf Verluste (anderer) blind und brutal durchgesetzt haben. Eine neoliberale Wirtschaftspolitik ist gelebter Sozialdarwinismus, ein Nullsummenspiel unter den angeblich niemals überwindbaren Umständen der universellen Knappheit, unter anderem auch der Knappheit an Überlebensmöglichkeiten. Der Neoliberalismus ist die dunkle Seite der menschlichen Seele. Was die deutschen „Eliten“ damals getan haben, war ein sozialer Genozid am eigenen Volk, der es direkt in den Wahnsinn trieb. Und dann geschah etwas, was sich noch kurz zuvor keiner vorstellen konnte. Dem „Dämon“ Hitler gelang es, ein neues Wirtschaftswunder zu schaffen, das die ganze Welt in Atem hielt. Nicht nur die Beseitigung der Arbeitslosigkeit machte die Anziehungskraft dieses Erfolgs aus. In Frankreich sind zum Beispiel „die wichtigsten Elemente des umfangreichen Wohlfahrtsstaates - Rentenversicherung, Kindergeld und die technokratische Überwachung der Wirtschaft - von dem faschistischen Vichy-Regime geschaffen worden, das während des Zweiten Weltkriegs mit Hitler kollaborierte“. Kein Wunder, dass Hitler in ganz Europa als Wohltäter und Menschenfreund bewundert wurde, etwa bei den spanischen Frankisten, den italienischen Anhängern Mussolinis, den kroatischen Ustascha - und selbst bei einigen serbisch-orthodoxen Popen. Einer von ihnen, der Hochwürdige Nikolaj Velimirović, erblickte in Hitler sogar einen Missionar, der mit dem Heiligen Sava (1175-1236) zu vergleichen sei, dem Begründer der serbisch-orthodoxen Kirche.
Aus rein ökonomischer Sicht ist es wichtig zu bemerken, dass Hitler seine großen Erfolge nicht den marktradikalen Rezepten zu verdanken hatte, sondern zum einen solchen, die ihm die Historische Schule zugeflüstert haben könnte - kein Wunder, dass Sombart zuerst von dem Diktator begeistert war, aber ihn schon bald nicht mehr leiden konnte - und zum anderen durch die Stärkung der Nachfrage. Hitler war in seinem wirtschaftspolitischen Handeln ein richtiger nachfrageorientierter Ökonom, so dass das Zweite deutsche Wirtschaftswunder ein großartiger Sieg der ökonomischen Nachfragetheorie war. Die bekannte britische Ökonomin Joan Robinson bemerkte dazu:
„Hitler hatte ein Mittel gegen die Arbeitslosigkeit gefunden, bevor Keynes seine Erklärung zu Ende geführt hatte, warum es überhaupt Arbeitslose gab.“
Die neoliberale Wirtschaftspolitik der Weimarer Zeit war gut für die paar Prozent, die die reichsten Deutschen an der Bevölkerung ausmachten, aber vom Zweiten deutschen Wirtschaftswunder konnten wenn auch nicht ganz alle, die meisten Deutschen profitieren: Hitler hatte den Deutschen ihre Menschenwürde zurückgegeben. Sie mussten manchmal ein bisschen klatschen und jubeln, aber nicht mehr hungern. Und was war damals mit der Freiheit, über die die falschen Liberalen des Schlages Mises und Hayek immer Krokodilstränen vergießen?
„Die meisten Deutschen fühlen sich unter Hitler nicht unfrei. Für vielleicht 90% der Deutschen ist das Dritte Reich die Rückkehr zu normalen Zeiten, zur geregelten Arbeit, zur Sicherheit der Lebensplanung. Gegenüber dieser lang entbehrten Erfahrung privaten Wohlergehens bleiben wahrgenommene Kriegs Vorbereitung und Terror gegen „Gemeinschaftsfremde“ und „Asoziale“ an den Rand gedrängt und aus der Alltagserfahrung - beinahe - ausgeschlossen.
Bis Kriegsbeginn 1939 ist das Dritte Reich weltoffener, als es heute scheinen mag. So finden 1938 in Deutschland 83 internationale Kongresse statt. Die deutsche Jugend wird keineswegs von der Welt abgeschottet. Allein in Berlin versechsfachen sich fast die Schülerreisen ins Ausland von 986 (1928-1932) auf 5370 (1933-1937), vor allem nach Frankreich und England, aber auch in die Vereinigten Staaten.“
Man erinnert sich in diesem Zusammenhang wieder an Hobbes, den ersten ökonomischen Liberalen der Moderne, der schrieb:
„Obgleich an den Toren und Mauern der Stadt Lucca das Wort FREIHEIT mit großen Buchstaben steht, genießt der Bürger dort keine größere Freiheit als der in Konstantinopel. An beiden Orten ist ihre Freiheit durch bürgerliche Gesetze beschränkt.“
Wie Recht er hatte! Nebenbei bemerkt, das was uns die Historiker über die private Freiheit der damaligen Deutschen berichten, ist nicht die Freiheit, die die Neoliberalen meinen. Ihre Freiheit hat nichts mit der Menschenwürde zu tun, sondern ist die Freiheit des Stärkeren, mit dem Schwächeren zu tun was ihm beliebt. Und eine Freiheit, die sehr viel mit Menschenwürde zu tun hat, hatte der einfache Deutsche damals ganz bestimmt. Man kann ihm auch nicht verübeln, dass er nicht wusste, was ihn noch erwartet - das wusste keiner -, denn er fühlte sich nach einer langen Zeit wirklich frei und er konnte ein normales Leben führen. Aber nach dem, was er in der Weimarer Zeit durchmachen musste, konnte er eben doch nicht ganz normal sein: Seine Seele war voll von den Narben tiefer Wunden. Jeder damals erwachsene Deutsche hatte Jahre des Hobbesschen Krieges - jeder gegen alle und alle gegen jeden - hinter sich, seine Biographie war eine unendliche Kette von Unterwerfungen und Demütigungen, die er von den Arbeitgebern ertragen musste, die sich in einer fast unwirklichen Position geradezu übermenschlicher Macht befanden: Für jede angebotene Stelle, egal wie schäbig sie war, lagen ihnen Hunderte oder Tausende zu Füßen, mit denen sie tun konnten, was ihnen gefiel. Der Gedanke, dass unter solchen Umständen eine normale Psyche nicht zerbrechen würde, ist absurd. Fügen wir dem noch Folgendes hinzu:
Die neoliberale Verherrlichung des Siegers, des „Triumphs des einen über die unterdrückten Bedürfnisse des anderen“ (Jürgen Habermas), wird gern als ein anthropologisches Faktum oder als die Folge der ureigenen Natur des Menschen dargestellt. Beweisen konnte es aber bisher keiner. Die Argumente dagegen sind vielfältig und belastend. Wenn wir uns etwa bei den so genannten primitiven Völkern ansehen wollten, wie der Mensch gemäß seiner wahren oder biologischen Natur leben müsste, dann käme man zu der Einsicht, dass in den modernen Gesellschaften etwas grundlegend schief läuft. Bei diesen noch naturnahen, stark sozialisierten Völkern sind zum Beispiel Neurosen und Selbstmorde nahezu unbekannt. Und je weiter der Prozess der Individualisierung voranschreitet, desto öfter wird das Individuum von psychischem Leid heimgesucht. Bereits im Jahre 1881 stellt George M. Beard in seinem Buch American Nervousness (Amerikanische Nervosität) fest, dass die Amerikaner „das nervöseste Volk in der ganzen Geschichte“ seien. Oberflächlichkeit, hastiges Tempo, Überschätzung der materiellen Güter, hemmungsloses Streben nach Rekordleistungen und rücksichtslose Ausbeutung von Natur und Menschenkraft hat mit dem eigentlichen Wesen des Menschen wohl recht wenig zu tun. Vielmehr wird die menschliche Natur durch diese Lebensweise erheblich geschädigt. Wenn das Gute nicht in der und durch die Gesellschaft eine Chance hat, sondern nur durch die Flucht vor ihr oder gar dem Kampf gegen sie, dann schwindet die Grenze zwischen ethischem Heroismus und Wahnsinn, und das destruktive Potential eines vollkommen asozialen Individualismus wird sich bei der erstbesten Gelegenheit mit einem heftigen Ausbruch entladen. Deshalb ist es nicht übertrieben zu sagen, dass die Ordnung, die auf der uneingeschränkten persönlichen Freiheit beruht, kompletter Verrat an allen moralischen und humanen Werten ist, mit denen die europäische Moderne angefangen hat. „Vieles von unserer heutigen Lebensweise in den USA wird man in achtzig Jahren für geisteskrank halten“, erklärte neulich der bekannte amerikanische Wissenschaftler Jared Diamond. Er sagt uns aber nicht, woher er seinen Optimismus nimmt.
Wie sonst könnte man erklären, was danach in Deutschland passierte, was diese „normalen“ Menschen bereit waren zu tun? Waren es aber nicht nur wenige, die Nazis, die das „Alles“ alleine angestellt haben? Eine überwältigende Mehrheit hätte gar nicht davon gewusst, was vorgegangen ist - so hörte man später immer wieder. So war es nicht. Es waren nicht die Nazis, sondern es waren die Deutschen - womöglich eine Minderheit von ihnen, aber dann zumindest eine sehr große. Und alle wussten was damals vor sich ging. Wir erwähnen jetzt nur wenige Tatsachen, die jeden Zweifel daran beseitigen:
1: Die Deutschen in der Wehrmacht: Sie haben sich im Westen noch ziemlich kultiviert benommen, im Osten dagegen haben sie buchstäblich nach der berühmten Hunnenrede von Wilhelm II. geplündert, gebrandschatzt und gemordet.
„Der Historiker Wolfram Wette schätzt, daß von rund 19 Millionen Wehrmachtsangehörigen ungefähr einhundert den Kriegszielen zuwiderhandelten, indem sie Menschen halfen, anstatt sie zu töten. Vielleicht hat Wolfram Wette schlecht gezählt, vielleicht waren es mehr. Und wenn es zehntausend gewesen wären, würde das etwas ändern?“
2: Die Deutschen und der Holocaust: Die Beteiligung an der Ermordung von mehr als 6 Millionen Menschen wurde später statistisch gut erforscht. Eine solche Menge von Menschen physisch zu „entsorgen“ hat mehrere Hunderttausend direkte Bediener nötig, zusammen mit den unentbehrlichen Helfern waren es bestimmt mehrere Millionen. Nun wollte man herausfinden, ob dies auf Befehl geschah, zu deren Ausführung die Deutschen genötigt wurden. Das Ergebnis ist erschütternd. In seinen Untersuchungen mit dem Titel Hitlers willige Vollstrecker stellt Daniel Goldhagen fest:
„Mit Gewißheit läßt sich sagen, daß im gesamten Verlauf des Holocaust kein Deutscher, ob SS-Angehöriger oder nicht, hingerichtet wurde, in ein Konzentrationslager oder Gefängnis kam oder sonst streng bestraft wurde, weil er sich geweigert hätte, Juden umzubringen. Wie aber läßt sich das mit Sicherheit sagen?.
Eine Befehlsverweigerung hätte schreckliche Konsequenzen gehabt: Das haben deutsche Angeklagte in Nachkriegsprozessen mechanisch wiederholt und versichert. Dem steht jedoch entgegen, daß in den gerichtlichen Untersuchungen, denen sich Zehntausende von Deutschen stellen mußten, tatsächlich nur in vierzehn Fällen geltend gemacht wurde, die Weigerung, einen Hinrichtungsbefehl - nicht nur gegen Juden - auszuführen, sei entweder mit dem Tod (in neun Fällen), mit Haft in einem Konzentrationslager (in vier Fällen) oder mit der Versetzung in eine militärische Strafeinheit (in einem Fall) bestraft worden. Und nicht in einem dieser Fälle hielt diese Behauptung einer genaueren Prüfung stand. Zwei gründliche Untersuchungen über die Möglichkeiten, die Deutsche hatten, einen Hinrichtungsbefehl zu verweigern, sind beide zu dem Ergebnis gekommen, daß derartige Behauptungen falsch sind. Unzweideutig heißt es in der einen: „In keinem Fall also konnte eine Schädigung an Leib oder Leben wegen Verweigerung eines Vernichtungsbefehls nachgewiesen werden.“.
Die Akten der SS- und der Polizeigerichte zeigen, daß niemand hingerichtet oder in ein Konzentrationslager eingeliefert wurde, weil er sich geweigert hatte, Juden zu töten. ... Und schließlich hat bislang noch niemand einen bestätigten Fall vorgelegt, daß ein Mann getötet oder in ein Konzentrationslager gebracht worden wäre, weil er einen Hinrichtungsbefehl nicht ausgeführt hatte. Die Wahrscheinlichkeit, daß wirklich ein SS-Mann jemals mit derartigen Strafen belegt wurde, weil er sich geweigert hatte, Juden zu töten, ist also äußerst gering. Dabei wurden durchaus alle Anstrengungen unternommen, entsprechende Fälle zu entdecken. Wenn man die Vielzahl und Zuverlässigkeit der Beweismittel berücksichtigt, muß man wohl davon ausgehen, daß es nie geschehen ist.“
Die genaueren Untersuchungen ergaben sogar, dass von ganz oben die Nicht-Willigen zu nichts gezwungen werden sollten:
„Es gab eine schriftliche Anordnung von Himmler, der zufolge sich jeder Angehörige der Einsatzgruppen auf eigenen Wunsch hin versetzen lassen konnte. Der Bericht eines Angehörigen der Einsatzgruppe A bestätigt dies: „Daraufhin gab Himmler einen Befehl heraus, wonach derjenige, der sich den seelischen Strapazen nicht mehr gewachsen fühlte, dies melden sollte. Diese Männer seien abzulösen und in die Heimat zurückzuversetzen.“
In seiner Erklärung dieser Ereignisse kommt Goldhagen immer auf einen besonderen mentalen Zustand der Deutschen zu sprechen, aber weiter kommt er nicht. Warum gerade die Juden?
Nun haben die Kirchen immer gegen die Juden gehetzt. Nachdem sie im Römischen Reich zur herrschenden Religion geworden waren, konnten sich die Christen nicht mehr mit ihren guten Taten von den Heiden und Falschgläubigen abheben. Eine der übrig gebliebenen Möglichkeiten war, sich durch die Abgrenzung von den „Christusmördern“ - also Juden - zu definieren. In der Tat haben sich die Kirchen, vor allem die Evangelische, im Dritten Reich besonders wenig mit Ruhm geklettert, wenn es darum ging, sich auf die Seite von Juden zu stellen. Aber trotzdem müsste man fragen: Wenn die Christen schon viele Jahrhunderte zuvor Juden wegen des „Christusmordes“ nicht ausgerottet haben, warum sollten sie es später tun wollen, als sie schon viel weniger gläubig waren?
Eine religiöse Erklärung befriedigt auch Goldhagen nicht. Rein „ökonomisch“ ist er allerdings auch nicht bereit zu argumentieren - das wäre für ihn zu „marxistisch“ -, aber schon ganz am Anfang des Buches stellt er trotzdem ganz klar fest:
„Wären Hitler und die Nationalsozialisten nicht an die Macht gelangt, hätte es auch keinen Holocaust gegeben. Und sie wären wahrscheinlich nicht an die Macht gekommen, hätte es keine wirtschaftliche Depression gegeben.“
Es ist aber schon eine sehr glaubwürdige Erklärung, die Bereitschaft der Deutschen mit solcher Gründlichkeit die Juden zu vernichteten mit den Traumata aus der Wirtschaftskrise zu begründen, mit den seelischen Deformationen, die sie dem besonders brutalen Umgang der deutschen „Eliten“ mit dem eigenen Volk zu verdanken hatten. Wie groß die Verzweiflung der Menschen damals gewesen sein muss, kann uns ein Beispiel verdeutlichen. Christina Schröder, Hitlers Sekretärin, sagte immer wieder, auch in ihrem Buch Er war mein Chef, sie wollte gar keine Nationalsozialistin sein: „Wenn damals 1930 die Annonce nicht von der NSDAP sondern von der KPD gewesen wäre, wäre ich vielleicht Kommunistin geworden“ Aber was hatte diese Wirtschaftskrise mit den Juden zu tun?
Auf den ersten Blick scheinen die Ökonomie und die Juden nicht viel gemeinsam zu haben. Aber auf den zweiten Blick sieht es schon anders aus. Das erste sichtbare Zeichen des zyklischen Zusammenbruchs der kapitalistischen Wirtschaft ist der Kollaps des Finanzsystems: der Banken und Börsen. Müsste dies dann auch die Ursache der Wirtschaftskrise sein? Anders gesagt: Muss ein Ereignis B, das zeitlich dem Ereignis A folgt, seine Ursache in Ereignis A haben? Diese Art zu schlussfolgern erfreut sich einer großen Verbreitung und allgemeiner Popularität, aber richtig ist sie trotzdem nicht. Erinnern wir uns an den allen vertraute Tatsache, dass viele Krankheiten in der Regel mit Fieberschüben beginnen. Das Fieber geht der Krankheit voraus, aber - das ist mittlerweile allgemein bekannt - ihre Ursache ist es nicht. Die Menschen neigen aber dazu, sich auf diese einfache Weise die Zusammenhänge zu erklären. Hobbes schreibt dazu:
„Ist man mit den natürlichen Ursachen der Dinge nicht bekannt, so entsteht daraus Leichtgläubigkeit, die oft so weit geht, dass man auch sogar Unmögliches Glaubt.
Unkenntnis der entfernten Ursachen bewirkt, dass man alle Ereignisse den unmittelbar wirkenden Ursachen zuschreibt, weil man keine anderen sieht.“
Auch im Herbst 2008 begann die Wirtschaftskrise im Finanzsektor, deshalb nannte man sie zunächst Finanzkrise. Dazu hat jeder eine ganze Menge von Einzelheiten aus den Medien erfahren können. Es stellte sich heraus, dass die Banken und Börsen spekuliert und viel Geld verloren haben, und dazu noch auf geradezu betrügerische Art und Weise in die eigenen Taschen gewirtschaftet haben. Die Gewinne vor der Krise haben sie immer privatisiert, die Verluste danach haben sie vor die Tür ihrer Gläubiger gekippt. Da wurden die Ersparnisse von Millionen vernichtet. Wie kann man das den Banken verzeihen? Wie kann man einem Menschen, der alles verloren hat, glaubwürdig erklären, so würde eben das System - die freie Marktwirtschaft - funktionieren. Er würde sich das auch deshalb nicht einreden lassen wollen, weil er noch bis vor kurzem von diesem System profitiert hat. Mehr noch: Er war von der Freiheit, „Geschäfte“ zu machen richtig besessen. Den Staat, der ihn da behindern wollte, hat er aus tiefstem Herzen gehasst, ja ihn für Teufelswerk gehalten. Nun kam nach der Finanzkrise 2008 die allgemeine Wirtschaftskrise, die noch andauert und ein Ende ist nicht abzusehen. Man kann sich gut vorstellen, dass ein Mensch, der sich über die Funktionsweise der Marktwirtschaft keine Gedanken machte, jetzt alles gern den Bankern und Börsenmaklern in die Schuhe schiebt. Diese Schlussfolgerung ist aber falsch, unabhängig davon, wie kriminell die Banker und Börsenmakler waren. Ihre Betrügereien und Raubzüge - anders kann man das nicht bezeichnen – sind trotzdem nicht die Ursache der Wirtschaftskrise. Sie ist die Folge des Marktversagens, darüber haben wir schon das Wichtigste gesagt.
Wenn die Menschen heute die Banker und Börsenmakler für alles verantwortlich machen, warum sollen sie damals, nach dem Ausbruch der Großen Depression anders gedacht haben? Die damalige Finanzkrise hatte eine Besonderheit, nämlich dass eine große Zahl von Bankern und Börsenmaklern Juden waren. Diese waren schon immer an der Durchführung von Geldgeschäften überdurchschnittlich stark beteiligt. Einerseits waren sie das deshalb, weil man ihnen viele andere Berufe verwehrt hat, und andererseits, weil es ihnen schon immer erlaubt war, von Fremden Zins zu nehmen - in den christlichen Ländern wurde der Zins erst im späten Mittelalter freigegeben. Und nun schien sich alles zu einem logischen Ganzen zusammenzufügen: Die bösen Juden hatten den Kapitalismus zugrundegerichtet. Das war der wichtigste Schwerpunkt in Hitlers Reden schon seit dem Jahre 1920:
„Wir wissen, dass diese Arbeit [der Juden] einst bestand im Ausplündern der wandernden Karawanen, und dass sie heute besteht im planmäßigen Ausplündern verschuldeter Bauern, Industrieller, Bürger usw. Und dass sich die Form wohl geändert hat, dass aber das Prinzip das gleiche ist. Wir nennen das nicht Arbeit, sondern Raub.“
Wenn jemand etwas ständig erzählt, und damit auch die anderen überzeugen kann, wie es bei Hitler der Fall war, dann ist es menschlich, dass er daran irgendwann auch selbst ehrlich glaubt. An die Macht gelangt hat Hitler alles für das „schaffende Kapital“ getan, das „raffende Kapital“ hat er an die Kandare genommen; alle dem Finanzsektor lieb gewonnenen ökonomischen Theorien hat er mit Hohn und Spot zurückgewiesen, und er war ökonomisch unglaublich erfolgreich. Wie konnte er dann nicht zutiefst überzeugt zu sein, dass der Kapitalismus eigentlich bestens funktionieren würde, nur die Juden brächten ihn immer wieder zu Fall. Das wurde auch den Deutschen ständig erzählt und auf die Tatsachen hingewiesen, die das angeblich bestätigen würden. Wie konnte sich dann ein „normaler“ Deutscher dieser „Wahrheit“ entziehen? Das ist in der Tat nicht vielen gelungen. Und das betraf nicht nur Deutsche, das war mehr oder weniger bei allen anderen Völker so – nur hatten sie nicht die Traumata der neoliberalen Weimarer Zeit durchlitten. Mit einem Wort, die Juden mussten für die Sünden des Kapitalismus zahlen.
Sie trugen aber wirklich keinerlei Schuld. Die Ökonomen sollten eigentlich besser wissen, wer der Schuldige war: der Kapitalismus Ja, die von der Historischen Schule wussten es schon, weil ihr Blick auf die Tatsachen unvergleichbar breiter war als der der Neoliberalen. Der Hauptvertreter der Historischen Schule, Werner Sombart, hatte keine Hemmungen, den Schuldigen zu benennen:
„Alles in allem: Wir sind nun auch reif für eine stationäre Wirtschaft und schicken die „dynamische“ Wirtschaft des Kapitalismus dahin, woher sie gekommen ist: zum Teufel.“
Von den Liberalen, auch von denen, die später zu Ordoliberalen wurden, würden wir so etwas nie hören. Kein Wunder, denn die späteren führenden Köpfe der Ordoliberalen standen am Ende der Weimarer Republik auf der Seite derjenigen, die in einer Beschränkung der parlamentarischen Demokratie die unbedingte Voraussetzung zur Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Krise sahen, auch diejenigen, die ins Exil mussten (Röpke, Rüstow) und sich nicht mit dem Naziregime arrangierten oder sogar Karriere machten. Auch dazu soll etwas gesagt werden, damit uns klarer wird, wie diese Menschen, denen die „Masse“ so suspekt war, „getickt“ haben.
Müller-Armack, der vom Programm Mussolinis beeindruckt war, trat 1933 der NSDAP bei, in der Hoffnung, „ein zentraler politischer Wille“, der durch keine parlamentarischen Kompromisse gehemmt wäre, könne eine bessere und stabilere Wirtschaftspolitik durchsetzen als der demokratische Staat der Weimarer Republik. Eucken konnte sich gar nicht beklagen, dass man ihn irgendwie behindert hätte oder nicht zu Wort kommen ließ:
„Es stellt sich zunächst die Frage, warum und wie es trotz der rigorosen politischen Unterdrückung durch den Nationalsozialismus - nicht zuletzt im wissenschaftlichen Bereich - an der Freiburger Universität gelingen konnte, „eine Art Naturschutzpark der liberalen Wirtschaftswissenschaft“ zu etablieren. Auch die vielfältigen Publikationsmöglichkeiten ordoliberaler Autoren in diesem Zeitraum sind wohl kaum ein Beleg für eine oppositionelle Haltung, sondern deuten zumindest auf eine nationalsozialistische Duldung gegenüber dem ordoliberalen Projekt hin.
Was bedeutet es, wenn Eucken im September 1939 als einer „von acht namhaften Wissenschaftlern“ zum Gutachter einer vom Reichswirtschaftsministeriums in Auftrag gegebenen Untersuchung zur Kriegsfinanzierung bestellt wurde? Wie erklärt sich, daß Euckens Grundlagen der Nationalökonomie im Jahresbericht der AfDR von 1941 als wichtigster Diskussionstext der zentralen Arbeitsgemeinschaft Volkswirtschaftslehre erwähnt wird, der „Ansatzpunkte zur Erörterung der Grundlagen und Begriffe einer neuen deutschen Volkswirtschaftslehre bietet“? .“
Und dieser Mensch wagte es, noch das Maul aufzureißen, um sich zur folgenden Aussage zu versteigen:
„Man muß sich über eines klar sein: Kollektive sind ohne Gewissen. Richtiger: sie haben stets ein gutes Gewissen.“
Schon die publizistische Arbeit der später ordoliberal ausgerichteten Wissenschaftler kann von keinem Widerstand dem Naziregime gegenüber zeugen, sondern sie deutet vielmehr darauf hin, dass sie in Bezug auf die Formulierung bzw. Umsetzung nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik mindestens teilweise involviert waren. Sie haben im Dienste des Regimes fleißig an den eigenen Karrieren gearbeitet.
„Erhards Arbeit im IfW, das sich im Nationalsozialismus zu einer bedeutenden privatwirtschaftlichen Forschungseinrichtung entwickeln konnte, wurde zu seinem Karrieresprungbrett. Von hier aus baute er sein Netzwerk in die verarbeitende Industrie auf, das ihm später zu führenden Positionen in Wirtschaft und Gesellschaft verhelfen sollte.
Erhard war sich bewußt, daß seine Arbeit in der Marktforschung zu den wirtschaftlichen Kriegsvorbereitungen gehörte, und er bot sie den nationalsozialistischen Machthabern im vollen Bewußtsein dieser Bedeutung an. Seine wirtschaftswissenschaftliche Gutachtertätigkeit ab 1939 zur ökonomischen Integration der durch die nationalsozialistische Expansion einverleibten Gebiete, zunächst in Bezug auf Österreich und Lothringen, dann in Hinblick auf Polen, bestätigt dies in aller Deutlichkeit. Es sprechen deshalb viele Fakten für die Charakterisierung von Erhard als „einen Ökonomen, der die Kriegswirtschaft der NS-Diktatur rückhaltlos bejahte und es sich zur Aufgabe machte, ihre Strukturen binnenwirtschaftlich wie annexionspolitisch zu effektivieren.“
Außerdem ist es so, dass wir darüber auch noch sehr wenig wissen, weil keinem daran gelegen ist, dass dies bekannt wird:
„Eine selbstkritische Aufarbeitung des Verhältnisses zwischen Ordoliberalismus und Nationalsozialismus existiert nicht einmal in Ansätzen. Statt dessen wird das Bild von einer durchgängig aufrechten, gegen den Nationalsozialismus opponierenden Haltung konstruiert - offensichtlich eine Legendenbildung mit dem Zweck, die führenden Vertreter des deutschen Neoliberalismus vom Vorwurf nationalsozialistischer Verstrickungen reinzuwaschen.“
War es aber in wirtschaftstheoretischer Hinsicht wichtig etwas darüber zu sagen, aus welcher Welt die Ordoliberalen stammen? Ja. Die Erfahrung bestimmt die Auffassungen und das Bewusstsein des Menschen. Uns interessiert aber noch mehr die wirtschaftstheoretische Substanz der Ordoliberalen, die wir im nächsten Beitrag erörtern werden.
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