Über die Grundidee des neuen wirtschaftswissenschaftlichen Paradigmas
  c - Die methodischen Fragen der Kreislauftheorie und das Modell 3.0
       
   
Nur Komplexität kann Komplexität reduzieren.
 
  Niklas Luhmann,  bekannter deutscher Soziologe und Gesellschaftstheoretiker    

Unser einfaches Beispiel mit den Bauern, die Weizen anbauen, ließ uns zu Schlussfolgerungen kommen, die sich auf keinerlei Weise in die logisch-analytische Struktur des neoliberalen Gleichgewichtsmodells einordnen lassen. Sie sind mit den Gedankengängen dieses Modells nicht kommensurabel, oder wie es heute die Programmierer sagen würden: nicht kompatibel. Bei der Verallgemeinerung unserer Schlussfolgerungen wird schließlich alles auf den Kopf gestellt, was ein angebotstheoretisch domestizierter (gehirngewaschener) Ökonom für selbstverständlich hält und was sein ganzer Stolz ist. Für ihn würde dies alles so aussehen, „als wäre er plötzlich auf einen anderen Planeten versetzt worden, wo vertraute Gegenstände in einem neuen Licht erscheinen und auch unbekannte sich hinzustellen“ (Thomas Kuhn). Wie würde er darauf reagieren?

Er würde voraussichtlich zuerst versuchen, die formale Schlüssigkeit unserer Überlegungen in Frage zu stellen. Würde er merken, dass sich hier nichts erreichen lässt - die Logik des Beispiels an sich ist in der Tat zwingend und unerbittlich -, würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als das Musterbeispiel für realitätsfremd zu erklären, so dass dieses als unbrauchbar nur ignoriert werden müsste.

Es lässt sich in der Tat unendlich lange darüber streiten, ob eine erklärende Hilfskonstruktion, die dermaßen einfach ist wie unser illustratives Musterbeispiel, überhaupt irgendwas Relevantes über die „wahre“ Wirklichkeit aussagen kann. Die Wirklichkeit ist zweifellos unvergleichlich komplizierter. Wären aber die gedanklichen Vereinfauchungen und bildliche Analogien nutzlos, dann müsste man sich fragen, warum die Wirtschaftswissenschaft voll von Robinsonaden und einfachen Musterbeispielen ist. Die Modelle der Neoliberalen sind übrigens nichts anderes und nichts mehr, also solche trivialen Musterbeispiele - nur mathematisch überfrachtet. Wenn einfache Beispiele wirklich von keiner wissenschaftlichen Bedeutung sein sollten, dann müsste man sogar auf das ganze abstrakte Denken verzichten. Aber wie dem auch sei, wir haben es nicht nötig, mit viel Aufwand und Inbrunst so ein einfaches Beispiel wie unseres zu verteidigen, weil wir dieses in den nächsten Beiträgen sowieso durch ein besseres austauschen werden: durch ein numerisches Beispiel mit drei Sektoren. Dieses Beispiel wird keine Annahmen mehr beinhalten, die man als eine rein logische Abstraktion bezeichnen kann, so dass es sozusagen eine Marktwirtschaft in Kleinformat sein wird, die sich im Prinzip praktisch realisieren ließe.

Unserem dreisektoralen numerischen Beispiel ist eine Entscheidung vorangegangen, die von grundlegender methodischer Bedeutung für alle weiteren Analysen und Schlussfolgerungen ist: die Auffassung über die Wirtschaft als Kreislauf. Wir ließen uns von diesem Hintergedanken schon leiten, als wir den weizenanbauenden Bauer in unsere ökonomischen Überlegungen einbezogen haben. Die durch Jahreszeiten bestimmte Landwirtschaft ist nämlich einer der wichtigsten natürlichen Kreisläufe, so dass es nicht Wunder nimmt, dass das erste Modell in der Wirtschaftswissenschaft das landwirtschaftliche Kreislaufmodell war. Es wurde von François Quesnay Mitte des 18. Jahrhunderts entworfen. Sehr bald haben sich aber die Ökonomen gar nicht mehr für numerische und mathematische Modelle interessiert - Marx war eine seltene Ausnahme -, bis Walras am Ende des 19 Jahrhunderts ein völlig anderes, das partikel-mechanische Modell des allgemeinen Gleichgewichts entworfen hat. Seitdem spielt dieses Modell die entscheidende Rolle in der ökonomischen Theorie. Es ist sozusagen Hüter der Idee der freien Marktwirtschaft und der sogenannten „ökonomischen Vernunft“.

Wir haben uns mit dem Modell von Walras (und Pareto) schon ausführlich beschäftigt und dabei festgestellt, dass es völlig falsch ist zu behaupten, wie es die überwältigende Mehrheit der Ökonomen bis heute tut, das Modell würde die Funktionalität der Marktwirtschaft prinzipiell erfassen und erklären. Es kann nur sehr wenig von alldem berücksichtigen, was in der Marktwirtschaft wirklich vor sich geht. Dazu kommen wir gleich. Wenn es aber so lange seinen Platz in der ökonomischen Theorie behaupten konnte, ist es jedoch nicht ganz verkehrt, auch darüber nachzudenken, das Modell einfach weiter zu entwickeln. Aber ist das überhaupt möglich?

Aus der Erkenntnistheorie wissen wir, dass dies nicht immer möglich ist. Jedes einigermaßen schlüssiges Modell kann nur eine bestimmte Zahl der Phänomene analytisch artikulieren. Wenn also ein Modell zu eng für alle wichtigen Phänomene eines Forschungsbereich ist, dann bleibt nichts anderes übrig, als eine bessere Alternative zu suchen. Diesem Problem der richtigen Methode werden wir uns später in mehreren Beiträgen widmen, die wir einem gemeinsamen Haupttitel unterordnen, der so heißen wird wie der Titel dieses Beitrags. Jetzt wollen wir konkret sein, und das heißt, dass das partikel-mechanische Modell einige wichtige Phänomene in der Marktwirtschat analytisch nicht erfassen kann. Das Kreislaufmodell ist die Alternative.

Das kreislauftheoretische versus partikel-mechanische Modell

Der freie Tausch der Güter gehört ganz bestimmt zu den wichtigsten Phänomenen der freien Marktwirtschaft. Dieser Meinung war auch Walras, und in der Absicht, den Tausch zu erklären, hat er das partikel-mechanische Modell in die ökonomische Theorie eingeführt. Für die Anhänger dieses Modells gilt es bis heute als selbstverständlich, dass dieses Modell den Tausch richtig artikuliert. Die Fähigkeit, optimale Preise der Güter (den „optimalen Preisvektor“) herauszufinden und nachzuweisen, ist der ganze Stolz dieses Modells. Trotzdem soll uns dies nicht verunsichern und nicht davon abhalten, nachzufragen und nachzuforschen, was dieses Modell überhaupt kann.

Am wenigsten lässt sich dem partikel-mechanischen Modell abstreiten, das es imstande ist, den Tausch einer Gruppe von Gütern zu erklären, die als Konsumgüter bezeichnet werden. Das haben wir bei der Untersuchung der neoliberalen Theorie anhand eines illustrativen Beispiels verdeutlicht.dorthinWie es Walras - eigentlich schon Gossen vor ihm - festgestellt hat, lässt sich der psychische Bezug eines jeden Menschen zu einem Konsumgut mit den Prinzipien des abnehmenden Grenznutzens und der individuellen Nutzenmaximierung gut erfassen, so dass das Modell, das auf diesen Prinzipien beruht, die Preise der Konsumgüter prinzipiell richtig erklären kann. Etwas Besseres für die Erklärung der Preise der Konsumgüter ist bisher keinem eingefallen. Das neoliberale Modell bleibt also ein nützliches analytisches Werkzeug für die quantitative Erklärung der Preise bzw. der Tauschwerte auf den Konsummärkten. Zusammenfassend könnte man also sagen:

Im Sinne des Gesetzes vom abnehmenden Grenznutzen und des Genussausgleichgesetzes, wie sie der deutsche Ökonom Hermann H. Gossen (1810-1858) aufstellte, ist die „grenznutzentheoretische Tauschwertlehre nicht Gegenstand unserer Kritik. Sie hat ... nur einen historischen, nicht einen logischen Zusammenhang mit der reinen Wertlehre. Diese Tauschlehre ist heute als wissenschaftliches Instrument Allgemeingut.“ ... >

Aber das mathematische Gleichgewichtsmodell war nicht nur für den Tausch der Güter in einer Wirtschaft ohne Arbeitsteilung gedacht, sondern es sollte auch die Funktionsweise der industriell entwickelten Wirtschaften erklären, bei denen auch Kapitalgüter von großer Bedeutung sind, die schließlich auch auf den Märkten getauscht werden. Ist aber dieses Modell wirklich geeignet, auch eine solche Wirtschaft zu erklären? Das ist es nicht. Gerade die mathematisch versierten Ökonomen haben schon längst herausgefunden, dass das Modell mit dem Kapital große Probleme hat. Aber das Problem mit dem Kapital ist vor allem nur ein Symptom für ein viel größeres Problem dieses Modells: es ist vielmehr nicht imstande, die Produktion analytisch zu integrieren.

Bei der Produktion gibt es nämlich drei Phänomene: Kumulation, Gerichtetheit und Struktur, die im Rahmen des partikel-mechanischen Modells analytisch nicht unterzubringen sind. Das wollen wir uns jetzt näher anschauen und zeigen, dass das Kreislaufmodell dies kann, und dass es gerade deshalb die richtige Alternative ist. Die Bauernwirtschaft unseres bisherigen Beispiels ist auch ein Kreislauf, so dass uns die Bauern mit ihrem Weizen noch einmal helfen können, die Phänomene der Produktion zu veranschaulichen. Für ihre tiefere und genauere Analyse ist dieses rustikale Beispiel jedoch nicht geeignet, so dass wir uns von ihm verabschieden und es in den nächsten Beiträgen - wie bereits angedeutet - mit dem dreisektoralen numerischen Beispiel ersetzen werden.


1: Fangen wir mit dem Kapital an. Wie bereits hervorgehoben, hat das partikel-mechanische Modell große theoretische Probleme mit dem Kapital. In unserem Musterbeispiel mit der landwirtschaftlichen Produktion gibt es nur ein Gut - Weizen - was es ein bisschen schwieriger macht, über das Kapital zu reden. Wenn man aber sagt, zum Kapital gehören Güter, die nicht konsumiert werden, die für die weitere Produktion verwendet werden, lässt sich das Kapital auch in unserem Beispiel einwandfrei identifizieren: Das Kapital ist bei uns der Weizen, den man als Saatgut verwendet. Der Weizen als Kapital, sobald es „investiert“ bzw. gesät ist, amortisiert sich vollständig während nur einer einzigen Reproduktionsperiode, was bei den Kapitalgütern in der Industrie normalerweise nicht der Fall ist. Man denkt da an die Maschinen, Anlagen, Fahrzeuge, Gebäude ... Diese Güter übertragen ihren Beschaffungswert erst nach einer längeren Zeit auf die mit ihrer Hilfe erzeugten Güter. Die Menge der Güter, die zum Kapitalstock gehören, ist bekanntlich heute etwa viermal größer als die Menge der Güter, die sich mit diesem Kapitalstock jährlich herstellen lassen. Warum sind diese Kapitalgüter ein unlösbares Problem für das partikel-mechanische Modell?

Da diese Güter schon irgendwann in der Vergangenheit beschafft worden sind, stehen ihre Preise fest. Über sie wird schließlich nicht mehr verhandelt - Firmenverkäufe vernachlässigen wir jetzt -, aber sie sind trotzdem ein wichtiger Faktor der Preisbildung aller aktuell hergestellten und angebotenen Güter. Deshalb lässt sich nicht im Geringsten daran zweifeln, dass auch die irgendwann früher akkumulierten Güter, solange sie sich nicht vollständig amortisiert haben, die Funktionsweise der Wirtschaft wesentlich bestimmen. Was kann das neoliberale Modell mit diesen Gütern anfangen? Gar nichts. In dem Modell des allgemeinen Gleichgewichts können sie nicht aufgenommen werden. Das Modell kann nämlich, weil es mathematisch so aufgebaut ist, nur die Güter berücksichtigen, die unmittelbar zuvor produziert bzw. angeboten worden sind. Es kann folglich nur einen deutlich kleineren Teil der Güter, welche in der Wirtschaft die Produktionskosten bestimmen, erfassen. Mit Recht stellt also Walter Eucken, der mit Abstand wichtigste Theoretiker des deutschen Ordoliberalismus, fest:

„Man denke an Walras und Pareto ... Ihnen stellt sich der Wirtschaftsprozeß so dar, als ob er auf einen Schlag abliefe. Nach dem Walras-Paretoschen Bilde der Wirtschaft produziert der Hochofenarbeiter heute Güter, die heute konsumiert werden können - während in Wirklichkeit Jahre und Jahrzehnte verstreichen, bis seine heutige Leistung konsumiert wird.“ ... >

Woher kommt es aber, dass das „allgemeine“ Gleichgewichtsmodell auf eine so jämmerliche Weise unvollständig ist? Es hat vor allem mit seinem Ursprung zu tun. Wie bereits erörtert, ist der Geburtsort des Modells die klassische Mechanik. Jedes Objekt, bzw. die Masse in der Welt der Mechanik unterscheidet sich von jeder anderen nur quantitativ. In dieser Welt gibt es also nicht zwei Gruppen von Körpern: solche, die den aktuellen Zustand des Systems beeinflussen und von ihm selbst beeinflusst werden, und die anderen, die zwar das System beeinflussen, aber selbst vom System nicht beeinflusst werden. Und was es in einer solchen Welt nicht gibt, das brauchten die damaligen Physiker, die an dem partikel-mechanischen Modell gearbeitet haben, auch nicht mathematisch zu berücksichtigen. In der Fachsprache der Mathematiker bedeutet dies, dass das Gleichungssystem des Modells nur eine Gleichung für jedes neu hergestellte Gut hat, für das sie folglich auch den Preis (numéraire) bestimmen kann, obwohl die aktuelle Preisfindung sowie die Funktionsweise der Wirtschaft allgemein auch durch die früher hergestellten Kapitalgüter mitbestimmt werden. Um nicht ganz abstrakt zu sein, kann uns unser illustratives Beispiel verdeutlichen, worum es konkret geht.

In den vorigen zwei Beiträgen haben wir mit Hilfe von Balkendiagrammen verfolgt, was geschieht, wenn sich die Preise ändern. Im ersten Fall sind die Preise gestiegen, im zweiten Fall sind sie gefallen. Betrachten wir das Jahr t+1. Einen Teil der neuen Ernte, das Saatgut - also das „Kapital“ - , hat im Jahre t+1 folglich zwei (nominale) Preise: Auf der Kostenseite steht in den Büchern der (nominale) Preis des Vorjahres (t), auf der Einkommensseite der (nominale) Preis, der nach der Ernte im betrachteten Jahr (t+1) erzielt worden ist. Einer realen Menge der Produktionsgüter stehen also 2 nominale Preise gegenüber. Die Folge: Ohne beide nominalen Preise zu berücksichtigen, ist es unmöglich, das insgesamt verfügbare (effektive) Nettoeinkommen der einzelnen Betriebe und damit auch die gesamte verfügbare (effektive) Nachfrage der ganzen Wirtschaft zu ermitteln. Hier stößt das Modell des allgemeinen Gleichgewichts auf seine inneren analytischen bzw. mathematischen Grenzen. Das Modell ist nicht allgemein, sondern fast unbegreiflich unvollständig. Und dieses Modell sollte für die Untersuchung des Gleichgewichts und der Stabilität des Marktes geeignet sein?

Wie auch immer man es drehen und wenden mag, es steht also fest: Das neoliberale partikel-mechanische Modell kann mit dem früher hergestellten Gütern, also mit dem akkumulierten Kapital, gar nichts anfangen. Es kann das Phänomen der Ansammlung oder Kumulation bestimmter Güter, welche die Tauschebene verlassen, aber die Wirtschaft weiterhin bestimmen, nicht analytisch artikulieren. Wen wundert es dann schon, dass die neoliberalen Ökonomen, die das Wirtschafswachstum untersuchen, das Walrasche Modell nach einer tiefen Verbeugung schnellst möglich verlassen und sich eifrig der mathematischen Akrobatik mit Ein-Gut-Modellen widmen. Erst dort lässt sich das herzaubern, was mit dem „allgemeinen“ Modell völlig unmöglich ist: das Kapital analytisch überhaupt zu artikulieren. Damit wird natürlich nicht gesagt, dass diese neoliberalen Ein-Gut-Modelle etwas taugen. Sie sind eine ab absurdum geführte Abstraktion, die mit der Realität gar nichts zu tun hat. Was tun?

Da gibt es nichts zu tun. Das Modell kann mit dem Kapital nichts anfangen, weil es dafür nicht vorgesehen ist. Man muss sich nach einem besseren Modell umschauen. Das Kreislaufmodel ist die richtige Alternative. Es kann das Phänomen Kumulation artikulieren:


2: Gerade weil es langlebige Güter, also Kapitalien gibt, ist die Wirtschaft ein Prozess, bei dem jeder nächste Schritt durch den vorigen wesentlich mitbestimmt ist. Die Reproduktionsperioden überlappen sich sozusagen. Solche Prozesse, die in eine bestimmte Richtung fortlaufen, bei denen die Vergangenheit die Richtung für die Zukunft bestimmt, lassen sich als historische Prozesse bezeichnen. Die ganze deutsche philosophische und sozialwissenschaftliche Tradition hat also mit Recht immer auf die Gerichtetheit der gesellschaftlichen Prozesse hingewiesen. Einer der schärfsten Kritiker der neoliberalen Lehre, Joan Robinson, hat daraus die einzig mögliche Folgerung gezogen:

„Wenn wir einmal zugestehen, daß eine Wirtschaft in der Zeit existiert, und daß die Zeitläufe von der Vergangenheit, die nicht wiederkehrt, in die Zukunft, die unbekannt ist, gerichtet sind, wird ein Gleichgewichtskonzept unhaltbar, das auf der mechanischen Analogie von im Raum hin- und herschwingendem Pendel gründet. Die traditionelle Ökonomie muß insgesamt neu überdacht werden.“ ... >

Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass solche irreversiblen oder gerichteten Prozesse auch in der Physik schon seit langer Zeit bekannt sind. Das klassische Beispiel ist die Thermodynamik. Nachdem es nämlich klar wurde, dass sich mit dem atomistischen Modell der klassischen Physik keine Fortschritte machen lassen, ließen sich die Physiker andere Methoden und Modelle einfallen. Man erinnert sich, welchen Widerstand damals die Philosophen, die auch sonst zu den treuesten Sklaven des Zeitgeistes gehören, geleistet haben, wie etwa Descartes. Er war felsenfest überzeugt, die Wärmelehre würde nur dann eine exakte Wissenschaft bleiben können, wenn sie die Wärme und die mit ihr verbundenen Phänomene methodisch bei den Schwingungen und Bewegungen der einzelnen Atome und Moleküle zu untersuchen anfängt. Trotzdem haben die Physiker diese reduktionistische Methode in der Thermodynamik abgelehnt, und gerade deshalb haben sie die Thermodynamik zu einer exakten Wissenschaft aufgebaut. Andere Beispiele aus der Physik lassen sich auch leicht finden. Was tun wir aber in der Wirtschaftswissenschaft?

Es lässt sich nichts anderes tun, als die reduktionistische Methode und das pars-pro-toto Modell ebenfalls zu verwerfen. Das Kreislaufmodell ist die richtige Alternative: Es kann das Phänomen Gerichtetheit artikulieren.


3: Die Welt der klassischen Physik ist einerseits streng deterministisch, aber andererseits bietet es allen Partikeln eine uneingeschränkte Freiheit, sich in jede beliebige Richtung in einem unendlichen Raum hin und her zu bewegen. Jedes Partikel kann sich mit jedem andren zusammentun und sich trennen. Gibt es eine solche uneingeschränkte Freiheit auch im Leben des Menschen? Wenn man den Konsum vor Augen hat, scheint dies ziemlich der Fall zu sein. Die Präferenzen des Verbrauchers - vorausgesetzt das Einkommen ist vorhanden - scheinen wirklich keinen Beschränkungen zu unterliegen. Da kommt uns die fernöstliche Küche in den Sinn. Dort wird bekanntlich alles, was kriecht, krabbelt, schwimmt und fliegt (vorausgesetzt es ist essbar) miteinander problemlos kombiniert. Der Chinese würde sagen: Wenn es schmeckt - warum nicht. Oder man denkt an die amerikanische Mode. Der Amerikaner zieht alles an, was sich anziehen lässt, und zwar in beliebigen Kombinationen. Er würde sagen: Wenn man damit auffällt bzw. die eigene Einzigartigkeit zur Schau stellen kann - warum denn nicht?

Die uneingeschränkte Freiheit, die der Welt der mechanischen Bewegung innewohnt, ähnelt also durchaus der uneingeschränkten Freiheit der Konsumenten. Walras musste diese Ähnlichkeit beeindrucken, als er die mathematischen Gleichungen für die mechanischen Kräfte auf die Präferenzen der Konsumenten umgeschrieben hat. Hätte er es bei den Konsummärkten belassen (1874), dann wäre sein Gleichgewichtsmodell eine mathematisch elegante - wenn auch zu praktischen Zwecken unbrauchbare - Beschreibung des Verhaltens der Konsumenten. Aber Walras hatte nicht nur die Erklärung der Nutzenmaximierung bei den Konsumenten im Sinne, sondern er hat nach ein paar Jahren (1877) sein Modell mit den Produktionsgütern und der Produktion fortentwickelt.

Auf so eine irrsinnige Idee muss man erst kommen können. Dies verwundert desto mehr, als man sich bewusst wird, dass Walras Ingenieur war. Seine erste Wahl war dies jedoch nicht. Er begann ein Ingenieur-Studium an der École des Mines erst, als er an der von ihm favorisierten Hochschule (Ecole Polytechnique) nicht angenommen wurde, und zwar wegen mangelnder mathematischer Kenntnisse. Aber aus welchen Gründen auch immer, er vernachlässigte sein Studium, und ob er trotzdem einen Abschluss als Ingenieur gemacht hat, lässt sich nicht zweifelsfrei klären. Er beschäftigte sich immer mehr mit Literatur, Philosophie, Geschichte, Kunstkritik und Literaturkritik sowie Wirtschaftspolitik und Sozialwissenschaft. Später versuchte er sein Glück als Romancier, aber weit hat er es nicht gebracht. Diese Neigung, von der Realität abzuheben, kann als nicht unwichtiger Teil der Erklärung dienen, warum Walras später kein Problem damit hatte, dass in seinem Modell auch die Produktionsfaktoren an dem Spiel mit der uneingeschränkten Freiheit teilnehmen. Die Produktionsgüter sind bei ihm genauso exzessive Individualisten wie die Konsumenten, die ebenfalls alle denkbaren Bündnisse miteinander eingehen können: nach Lust und Laune. So etwas hat mit der Praxis in den Betrieben nicht das Geringste zu tun. In der Produktion wählt man zwischen verschiedenen Technologien, also Kombinationen von Produktionsfaktoren, und nicht zwischen den einzelnen Produktionsfaktoren. Hier schlug bei Walras die Phantasie eines Romanciers voll durch.

Nun würde ein Verteidiger des Gleichgewichtsmodells Folgendes sagen können: Rein prinzipiell betrachtet, lässt das Modell jedem elementaren Produktionsfaktor frei, sich mit jedem anderen zu liieren, aber die Unternehmer, die sich mit der Produktion auskennen, fassen ausschließlich technologisch sinnvolle Kombinationen ins Auge und wählen die kostengünstigste aus. Das schon, aber das mathematische Modell von Walras kann diese produktionstechnischen Entscheidungen, von denen die Existenz der Unternehmen abhängt, nicht erfassen. Alle Gesetzmäßigkeiten im Bereich der Produktion werden den Präferenzen untergeordnet und letztendlich den weiter nicht nachvollziehbaren Gefühlen (Präferenzen) zugeschrieben. Und das ist theoretisch völlig unzureichend. Auf den Punkt gebracht: Das Modell lässt alles, was in der Produktion wirklich relevant ist, einfach weg. So eine Theorie ist nicht universal gültig, sondern nur universal leer.

Ein Modell, das das allgemeine Gleichgewicht im wahrsten Sinne des Wortes allgemein analytisch artikulieren kann, muss also auch die Produktion berücksichtigen. Es muss nicht nur Produktionsfaktoren einzeln erfassen können, sondern unbedingt auch ihre Kombinationen, und zwar deshalb, weil sich diese Güter, anders als Konsumgüter, nicht auf beliebige Weise kombinieren lassen. Sie sind nicht uneingeschränkt „substituierbar“. Die elementare Kalkulationseinheit in der Produktion kann also nicht der einzelne Produktionsfaktor sein, sondern die produktionstechnisch funktionierende Kombination von Faktoren. Das Kreislaufmodell - mit seinen technischen und distributiven Koeffizienten - kann diese Kombination analytisch artikulieren, und deshalb ist es auch hier die bessere Alternative. Das Kreislaufmodell kann Struktur erfassen.


Zusammengefasst: Der alte Vorwurf, dass das neoliberale Gleichgewichtsmodell mit dem Kapital nicht richtig umgehen kann, ist also noch ein sehr harmloser Einwand, so harmlos, dass er fast falsch ist. Die ganze Wahrheit lautet, dass das Modell über die Produktion gar nichts sagen kann. Es ist kein Totalmodell des Marktes, sondern nur eine totale akademische Idiotie. Als solche hätte es nie das Licht der Welt erblicken dürfen.   
 

Ein kurze Geschichte des Kreislaufmodells und die Rolle der Mathematik

Wir wissen, dass mehr Mathematik eine Wissenschaft nicht unbedingt besser macht. Man möchte sogar sagen, dass gerade die Wirtschaftswissenschaft das abschreckende Beispiel dafür ist, wie viel Schaden die Mathematik anrichten kann. Darin steckt ein ordentliches Stück Wahrheit, aber nicht die ganze. Der Frage, ob die Wirtschaftswissenschaft mathematisch sein kann oder soll, werden wird später einen ganzen Beitrag widmen. Jetzt soll nur angemerkt werden, dass genau genommen nicht die Mathematik in der ökonomischen Theorie versagt hat, sondern die falschen Modelle der Wirtschaft, wie etwa das gerade aufgeführte partikel-mechanische Modell. Für das Kreislaufmodell gilt dies nicht. Man kann für dieses Modell sogar sagen, dass es gerade durch zu wenig und durch falsche (Marx) Mathematik in seiner wahren Möglichkeiten verhindert wurde. Diese alten Modelle könnte man als die Version v.1.x bezeichnen. Mitte des 20. Jahrhunderts war das Kreislaufmodell zum ersten Mal wirklich mathematisiert, so dass man von einer neuen Version v.2.x sprechen kann. Ich schlage die nächste Möglichkeit der Weiterentwicklung des Kreislaufmodells vor, die folglich als v.3.0 bezeichnet werden kann.

Kreislaufmodell 1.x: François Quesnay (1694 -1774) nannte das von ihm entwickelte erste Kreislaufmodell (1758) einfach Tableau économique. Diese tabellarische Darstellung der Wirtschaft ist das erste schlüssige Modell der Wirtschaft überhaupt. Häufig wird die nahe liegende Vermutung geäußert, dass er seine medizinischen Kenntnisse des Blutkreislaufs auf die Volkswirtschaft übertrug. Dieses Modell hat das Wesentliche aller Kreislaufmodelle zum Ausdruck gebracht, dass nämlich Ausgaben nicht einfach verbraucht werden und irgendwie verschwinden, sondern an anderer Stelle als Einnahmen wieder erscheinen, die nun wieder Ausgaben möglich machen und so weiter und so fort. Mit Hilfe von geschickt strukturierten Zahlen konnten nicht nur einzelne Phänomene des Wirtschaftslebens tabellarisch untersucht werden, sondern es entstand ein komplexes Schema, aus dem erkennbar wurde, wie Produktion, Verteilung und Verbrauch zusammenhingen und einander bedingten. Die formale Schlüssigkeit dieses Schemas vermittelt den Eindruck, die Wirtschaft würde sich sozusagen naturgesetzlich selbst regulieren, so dass dieses Kreislaufmodell zugleich auch die Idee des allgemeinen Gleichgewichts verkörpert.

Marx hat dieses Modell übernommen und es in einfache Reproduktion umbenannt. Im zweiten Schritt hat er etwas getan, was keinem vor ihm eingefallen ist: Er hat noch das Wachstum und die Kapitalakkumulation ins Modell eingefügt. Er nannte dieses Schema erweiterte Reproduktion. Die Idee an sich, die Wirtschaft nicht als ein für allemal erreichten optimaler Zustand, sondern als eine historische Entwicklung zu betrachten, war zweifellos genial. Weil aber Marx keine analytische Methode eingefallen ist, wie er seine Idee des Wachstums und der Kapitalakkumulation analytisch artikulieren könnte, ist er rein intuitiv vorgegangen, hat die Zahlen willkürlich hin und her geschoben und, wie man sich denken kann, nur Unsinn hinterlassen.

Kreislaufmodell 2.x: Auf eine mathematische Formulierung musste das Kreislaufmodell fast zwei Jahrhunderte warten. Man sollte es fast nicht glauben. Es waren die Arbeiten des Neoricardianers Piero Sraffa (1898-1983), die endlich eine moderne mathematische Grundlage für das Kreislaufmodell geschaffen haben. Das Kreislaufmodell konnte man seitdem als ein System von Gleichungen schreiben. Die wichtigste Innovation dieser Gleichungen ist darin zu sehen, dass nicht mehr die einzelnen Produktionsfaktoren als die elementaren logischen Einheiten gelten, wie in der Neoklassik bzw. im Neoliberalismus, sondern ihre technologischen Kombinationen. Weiterentwickelt haben dieses Modell die Postkeynesianer, vor allem Jean Robinson, Pierangelo Garegnani und Luigi Pasinetti. Als Höhepunkt dieser Entwicklung könnte man die Input-Output-Analyse von Wassily Leontief (1905-1999) betrachten. Seitdem ist es in diesem Bereich still geworden.

Das mathematische Kreislaufmodell hat eine Zeit lang für Unruhe, oder noch besser gesagt für einen richtigen Aufschrei in der heilen Welt der neoliberalen mainstream Theorie gesorgt. So einen Gegner hat der Neoliberalismus seit seiner Entstehung noch nicht erlebt. Das neoliberale Modell wurde zum ersten Mal von einem mathematisch gleich gut ausgerüsteten und durchtrainierten Konkurrenten herausgefordert, von dem es auf einigen theoretischen Feldern bittere Niederlagen einstecken musste (Reswitching-Problem, Leontief-Paradox). Aber auch die mathematisch vollentwickelte Version 2.x des Kreislaufmodells blieb immer noch - sowie die Tableau économique - an das allgemeine Gleichgewicht gebunden und nur zu komparativ-statischen Zwecken brauchbar.

Kreislaufmodell 3.0: Es ist schon merkwürdig, dass sich das Kreislaufmodell so lange nur für die sogenannte Statik interessiert hat, bzw. nur dort Erfolge erzielen konnte. Im Kreislaufmodell sollte das soziale und ökonomische Leben als ein vergängliches Stadium der Geschichte dargestellt werden, die einem Fluss ähnelt, der aus den Tiefen der Vergangenheit entspringt, sich dann beim kurzen Vorbeigehen an der Gegenwart unter die scheinbar unbewegliche Oberfläche schleicht, und dann stürmisch weiter in eine ungewisse Zukunft rauscht. Es kann nur an unzulänglichen Techniken liegen, dass das Kreislaufmodell bisher zwischen der Vergangenheit und der Zukunft hängen geblieben ist. Mit den distributiven Koeffizienten wird es zum ersten Mal möglich, es in Richtung Vergangenheit und Zukunft zu öffnen. Durch diese Koeffizienten sollte das Kreislaufmodell die Grundlage für eine mikroökonomisch fundierte, dynamische Analyse der Funktionsweise der Marktwirtschaft bieten.

 
 
     
 
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