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  Der real existierende Kapitalismus und Kriege als sein Schicksal und Verhängnis (2)
 

Die „ursprüngliche Kapitalakkumulation“ (Marx) und der „protestantische Geist“ (Weber) sind die einzigen Erklärungen des Entstehens des Kapitalismus, die noch einige Anhänger haben, aber nicht viele, da sie nicht überzeugend sind. Mit der Entdeckung der neuen Kontinente lässt sich das Entstehen des Kapitalismus viel besser und analytisch strenger erklären, nämlich durch die erhöhte  Nachfrage, die der Raub dieser Kontinente den Ländern entlang der atlantischen Küste eine längere Zeit brachte. Diese Nachfrage konnte nämlich den Nachfragemangel kompensieren bzw. überkompensieren, den die freie Marktwirtschaft spontan produziert und sie zum Zusammenbruch führt. Fangen wir mit dem Gold an, das in der vormodernen Zeit die wichtigste Form des Geldes und der Nachfrage war.

Die Menge des Goldes in der alten Welt war immer klein und nicht wesentlich gewachsen, so dass die Imperien die Tributzahlungen von ihren Vasallen direkt oder indirekt in Naturalien erhalten haben. Die neuen Kontinente hatten keine Bevölkerung, die Tribut zahlen konnte, aber viel Gold und andere Edelmetalle, die von den Kolonialmächten geraubt werden konnten. Gold als Geld ist schon eine Nachfrage an sich, es vergrößert die Nachfrage einer Wirtschaft direkt (exogen), aber auch indirekt (endogen), wie es die kreislauftheoretische Analyse zeigt, nämlich durch Preissteigerung bei industriellen Gütern (Kapitel 4.1), aber zugleich auch über ihre immer größere Produktion. Die Nachfrage nach diesen Gütern haben zwei Ursachen vergrößert: (1) Solche Güter brauchte man immer mehr in den Kolonien, um die natürlichen Ressourcen auszubeuten, und (2) durch sie hat man steigende Löhne kompensiert, was die Folge der Auswanderung war. Mathematisch genau gesprochen, dies alles hat die Größe YK vergrößert, was Sparen (S) und Investitionen (I) auf einem beachtlichem Niveau ermöglichte. Die Sparsamkeit war damit aber nicht die Ursache (Weber), sondern die Folge der neuen Umstände, wie es sie in der früheren Geschichte nie gab. 

Schließlich war auch die Kapitalakkumulation (Marx) nicht die Ursache, sondern die Folge der neuen Umstände, indirekt der steigenden Nachfrage, direkt der Lohnsteigerung. Gerade die Verteuerung der Arbeit hat dazu geführt, dass sich die Anwendung der Maschinen für die Produktion ausgezahlt hat. Zum ersten Mal in der ganzen menschlichen Geschichte hat es sich buchhalterisch gelohnt, die Arbeit durch Kapital zu ersetzen. Für diesen Zusammenhang spricht die den Historikern gut bekannte Tatsache, dass es nicht die Erste industrielle Revolution war, die (einfache) mechanische Maschinen oder besser gesagt Mechanismen erfunden hat. Man hat mit solchen schon lange Zeit vorher verschiedene Effekte an den Höfen der Könige und Reichen erzeugt, damit sich diese nicht langweilten. Für die Produktion haben sich Maschinen damals einfach nicht gelohnt, da die menschliche Arbeit billig wie Dreck war. Dazu brauchte man am Beginn der Erste industrielle Revolution keine Theorien, das haben einfachste Kalkulationen der Unternehmer ergeben. Diese Problematik behandelt analytisch streng die Theorie über die Wiederkehr der Techniken – auf Englisch Reswitching(Kapitel 4.2). Mathematisch lässt sich nämlich genau nachweisen, dass bei der Lohnsenkung die freie Wirtschaft unter alternativen Techniken nicht unbedingt jene auswählt und betrieblich anwendet, die makroökonomisch betrachtet der Wirtschaft (in Toto) Arbeit maximal spart. Schließlich konnte es nicht anders sein, als dass die Arbeitsproduktivität nach der neoliberalen Konterrevolution sinken musste. Die Innovationen führen seitdem einerseits zur Rückentwicklung der Produktion und andererseits zu neuen Produkten des Konsums. Schließlich fällt es dem westlichen Bürger immer schwerer, grundlegende - körperliche und psychische - Bedürfnisse zu befriedigen, er wird aber überflutet mit billigen Waren, die zur kulturelleren Regression und geistigenDegeneration der Menschen führen. „Was der reiche Westen heute feiert, ist der offizielle Tod seiner eigenen Vergangenheit. ... Die Vergangenheit ist mit Schmach und Schande ins Grab gesunken“ (Bauman: 214) - dazu später mehr.

Die Erste Industrielle Revolution war keine Folge der Naturwissenschaften - die standen damals nur an ihrem Anfang. Sie beruhte auf dem technischen Wissen aus den vormodernen Jahrhunderten und Jahrtausenden. Dieses Wissen ging nicht weiter, als gerade mal zum Ersatz der menschlichen und tierischen Arbeit durch sehr einfache Maschinen oder besser gesagt Werkzeuge. Lassen wir dazu die Historiker zu Wort kommen, die das gut erforscht haben. „Man muß nur einmal mit den Augen eines Industriearchäologen durch England wandern, um zu bemerken, daß bis lange nach 1800 neue Anlagen fast in jeder Industrie üblicherweise Wasser statt Dampf zum Betrieb ihrer Maschinen verwendeten. Der erste Abschnitt der Industriellen Revolution verließ sich weitgehend auf mittelalterliche Energiequellen“ (Cipolla: Bd. 3. 121). Das betrifft noch mehr die anderen damaligen Innovationen, die allesamt fast ausschließlich der Baumwollindustrie dienten. Es lässt sich verallgemeinernd sagen, dass die „Anfänge der Industriellen Revolution – annähernd bis 1800 – hauptsächlich im Gebrauch mittelalterlicher Verfahren bestanden, die man bis an ihre Grenzen trieb“ (ebd.: 121). Es waren dementsprechend sehr einfache Innovationen „die keine besondere Eignung oder Ausbildung voraussetzten. Jeder intelligente Mensch konnte sie machen, der genügend Begeisterung und genügend Vorstellungsvermögen für kommerzielle Chancen hatte. Ein bloßes genügend starkes ,Wollen‘ war eigentlich alles, was dazu nötig war“ (ebd.: 124). Neu an der (ersten) Industriellen Revolution war die Größenordnung der Veränderung, nicht deren qualitativer Gehalt oder radikaler Bruch mit der Vergangenheit. „Das Zeitalter, dem die großen Gelehrten Kopernikus, Galilei und Newton angehörten, wurde in technischer Hinsicht nicht durch die Leistungen der Gelehrten geprägt, sondern war das Werk von Praktikern“ (ebd.: Bd. 2. 165). Die populären Erklärungen, wie etwa die mit der Entdeckung der Dampfmaschine, liegen da auch schief. Als Smith im Jahre 1776, - nach elf Jahren Arbeit - sein epochales Buch Der Wohlstand der Nationen veröffentlichte, war James Watt gerade so weit, den Prototyp der ersten industriell anwendbaren Dampfmaschine der Öffentlichkeit vorzustellen. Das Walzverfahren in der Eisenindustrie (1780), der mechanische Webstuhl (1785) und vieles mehr sind erst danach erfunden worden.  

Smith hat also völlig richtig beobachtet. was in seiner Zeit der Morgenröte der Industrialisierung und des Kapitalismus in der Produktion vorging. Er hat das in seinem Werk mit dem Beispiel einer Stecknadelfabrik verdeutlicht, das vielleicht das bekannteste seines berühmten Buches ist. Ein ungelernter Arbeiter könne alleine vielleicht 20 Nadeln an einem Tag anfertigen. Wenn der Herstellungsprozess jedoch in seine einzelnen Arbeitsschritte aufgeteilt werde und sich der einzelne Arbeiter auf das Ausziehen, Begradigen oder Zuschneiden des Drahtes, das Schleifen der Nadelspitze, das Anfertigen des Stecknadelkopfes, das Bleichen oder das Verpacken der fertigen Nadeln spezialisiere, könnten zehn Personen schon mit einfachen mechanischen Einrichtungen an einem einzigen Tag 48.000 Nadeln fertigen. Nichts ist für Smith so wichtig für die Vermehrung des Wohlstandes, als ein hoher Grad der Arbeitsteilung. Was Smith dabei doch übersehen hat, war die Lohnsteigerung. Die Arbeitsteilung selbst ist jedoch seit langer Zeit bekannt, schon Platon hat ihre Bedeutung klar gesehen und nicht nur innerhalb der beschränkten Wirtschaftsräume. Man denke etwa an die Seidenstraße, die bereits in der Antike als dichtes Netz die alten Zivilisationen sozusagen „globalisierte“. Zur Industrialisierung und Kapitalakkumulation hat das nicht geführt, weil das niedrige Löhne nicht zugelassen hätten. Die neoliberale Theorie konnte erst recht nicht die Bedeutung von höheren Löhnen für die Produktivitätssteigung sehen und zugeben, da sie nichts anderes war als nur eine Ideologie der Reichen mit dem einzigen Ziel, die Löhne zu senken und die Reichen reicher zu machen.

Es ist angebracht, auch noch etwas zur Marxschen Erklärung des Beginns des Kapitalismus bzw. der Industrialisierung durch die „ursprüngliche Kapitalakkumulation“ zu sagen, die auf niedrigen Löhnen beruht und damit mit der neoliberalen sehr kompatibel ist. Die Amerikaner konnten zwar die Indianer ausrotten, aber ihnen kein Kapital rauben, was ihre rasante Industrialisierung erklären würde. Kapital lässt sich akkumulieren, lateinisch für anhäufen, wenn es schon existiert, also davor produziert wurde, und warum es produziert wurde, lässt sich nicht mit niedrigen Löhnen erklären, da sie schon Jahrtausende lang zuvor niedrig waren. In der neoliberalen Wachstumstheorie wird das Kapital nicht durch Ausbeutung der Arbeiter gebildet („akkumuliert“), dort beutet sich der Sparer angeblich selbst aus, indem er auf Konsum verzichtet. Auch hier bleibt völlig unerklärt, warum so etwas nicht schon seit mehreren Jahrtausenden geschehen ist und die Industrialisierung begonnen hat.

Indem jetzt äußere Umstände für die Entstehung des Kapitalismus erörtert werden und ihre Wichtigkeit hervorgehoben wird, ist nicht gesagt, dass der Verlauf der Geschichte und der Zivilisation eine bloße Folge der glücklichen Umstände gewesen wäre. Zum Beispiel sind größte Mengen von Gold und Edelmetallen eine lange Zeit nach Spanien geflossen, aber es haben sich trotzdem keine Ansätze für die Entstehung des Kapitalismus gezeigt. Der Bodenaristokratie ist es gelungen, die alte feudale Ordnung zu erhalten, und der katholischen Kirche, die geistige Vorstellung von jeglicher Art von Veränderung zu verhindern. In England dagegen hat der menschliche Geist seine Sternstunden erlebt, zu deren Ergebnissen die Entstehung der modernen Wissenschaften gehörte, auch der ökonomischen, damals Politische Ökonomie genannt. Neue Gedanken haben neue Sichtweisen und Einstellungen in der Gesellschaft erzeugt, auch die über die freie Konkurrenz, mit der sich  der Wohlstand am besten steigern lässt. Der Mensch ist also nicht ein passives Objekt der Verhältnisse, sondern er kann diese durch seine Gedanken bzw. Theorien selbst ändern. Sind diese Gedanken bzw. Theorien in Bezug auf aktuelle gesellschaftliche und ökonomische Verhältnisse richtig, können sie  sogar den Gang der Geschichte verändern.

10.2f  Kriege und Revolutionen als zwangsläufige Folgen des Nachfragemangels der freien Marktwirtschaft

Wegen der Größe der neu entdeckten Kontinente war es Jahrhunderte lang möglich, sie auf eine brutal-banditenhafte Weise zu berauben und sie als externe Absatzmärkte zu nutzen. Aber irgendwann war alles geraubt, was sozusagen auf der Oberfläche lag, und die Territorien wurden bevölkert, die dann als Kolonien zwischen den kapitalistisch gewordenen Kolonialländern aufgeteilt waren. Das hat ökonomisch viel geändert. Die Kolonien sind zu Binnenmärkten der einzelnen kapitalistischen Wirtschaften geworden und haben damit ihre frühere Funktion als externe Absatzmärkte verloren. Bei ökonomischen Krisen hatte man zwar die Möglichkeit, alle negativen Folgen der Krise auf die Bevölkerung der Kolonien zu überwälzen, um die eigene von sozialen Unruhen abzuhalten, aber ein existenzielles Problem der freien Marktwirtschaft lässt sich dadurch nicht beseitigen. Die freie Marktwirtschaft ist durch eigene Kräfte nicht fähig, eine Krise zu beenden und einen neuen Aufschwung anzustoßen. In der kreislauftheoretischen Analyse wird dieses Problem durch Nachfragemangel erklärt, während in der Politischen Ökonomie nach dem neoliberalen Modell dieses Problem gar nicht  entstehen kann. Und wenn sich innerhalb einer Theorie ein Problem nicht einmal analytisch streng formulieren lässt, kann die Theorie auch keine Vorschläge für seine Lösung anbieten. Theoretiker bzw. Akademiker haben bekanntlich das Privileg, die von ihnen unlösbaren Probleme zu Paradoxien und außergewöhnlichen Ereignissen zu erklären und bequem immer weiter “schwarze Schwäne zu jagen”, also darüber „wissenschaftliche“ Aufsätze zu schreiben und damit ihre Karrieren zu fördern. Praktiker sind aber in einer ganz anderen Position.

Jede Krise der freien Marktwirtschaft treibt immer sehr viele Menschen in Not und Verzweiflung, die dann - angespornt durch ihren Instinkt der Selbsterhaltung - zu rebellieren beginnen. Nebenbei bemerkt, schon Platon hat solche Situationen als die (einzige) Ursache des Untergangs eines Staates betrachtet. Um das zu verhindern, müssen Praktiker etwas tun, aber ohne theoretische Unterstützung können ihnen üblicherweise nur grobschlächtige Lösungen einfallen. Die typischste praktische Lösung der Praktiker, die eigene Wirtschaft aus der Krise zu reiten, ist bis heute die, durch Kriege die Absatzmärkte und Kolonien der anderen zu berauben. England war da am erfolgreichsten, weshalb man sich nicht zu wundern braucht, dass über dem British Empire die Sonne nie untergegangen ist. Der Krieg war zuerst der Vater des Kapitalismus und später sein Schicksal. Deshalb ist es alles andere als zufällig, dass die USA als das erfolgreichste kapitalistische Land „nur gerade mal 16 Jahre von ihren 242 Jahren als Nation ohne Krieg verbracht hat“ (Ganser: 25). Obwohl sie nie von einem äußeren gefährlichen Feind bedroht waren, machen ihre Militärausgaben 40% der Ausgaben der ganzen Welt für militärische Zwecke aus, und in mehr als der Hälfte aller Staaten der Welt haben sie ihre militärischen Basen. Dass dies nicht einfach nur zur Abschreckung diente, bezeugen ihre 16 Millionen Kriegsveteranen, die zu solchen kaum im Fall ihres ausschließlichen Einsatzes im eigenen Lande geworden wären. Der 39. Präsident der USA, Jimmy Carter, hat seine eigene Nation als die kriegerischste in der Geschichte der Welt bezeichnet. Erinnern wir uns daran, dass es der amerikanischen Regierung „den Preis wert war“ (Madeline Albright), eine halbe Million irakischer Kinder sterben zu lassen, um weiterhin die irakischen Ölfelder ausrauben zu können. Heute will man den Stellvertreterkrieg gegen die „bösen Russen“ in der Ukraine „bis zum letzten Ukrainer“ führen (Senator Lindsey Graham), um den Ukrainern Tschernosem zu rauben. 

Angesicht dieser und zahlreicher weiteren Tatsachen ist es unvorstellbar, dass die Superreichen in den klassisch kapitalistischen Ländern dies alles zufällig machen und schon gar nicht unbewusst. Es handelt sich um eine erbliche Klasse, die größtenteils noch aus dem feudalen Adel stammt, die man sehr trefflich als Oligarchenkaste bezeichnen kann - die heute populäre Bezeichnung „tiefer Staat“ ist zu abstrakt und zu geheimnisvoll. Rein menschlich betrachtet ist es selbstverständlich und kann gar nicht anders sein, dass die ältere Generation dieser Oligarchenkaste die jüngere in „schmutzige Geheimnisse“ ihrer Herrschaft einweiht. Dazu gehört, dass der real existierende Kapitalismus eine Ordnung ist, die periodisch zusammenbricht, und wenn man dann das Volk nicht in einen Krieg schickt, das Volk gegen sie rebellieren würde. Natürlich darf das Volk diese Strategie der Herrschenden nicht erfahren, und dazu dienen verschiedene mediale Meinungsmacher, professorale „Experten“, Politiker, sowie ein ganzes Arsenal von Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen, die sich bei dieser Oligarchenkaste geistig prostituieren. Zu ihrer Aufgabe gehört es, die Wahrheit über die kapitalistischen Kriege dieses Herrschaftssystems als „Verschwörung“ zu denunzieren und lächerlich zu machen. Es ist dabei an sich jedoch nichts „verschwörerisch“. Die westliche Oligarchenkaste hat nämlich eigene Interessen und versucht sie mit allen Mitteln zu realisieren, nicht anders als etwa die Gewerkschaften oder die Bauern. Wenn Machteliten Strategien entwerfen, um ihre Ordnung auf Kosten der Gesellschaft zu retten, ähnelt das einer „Verschwörung“ nur insoweit, als diese Menschen beliebig viel Geld und Zeit haben, sich zu treffen wo sie niemand sieht und hört. So wie man es von den Mafiabossen kennt, wo wir auch nicht von „Verschwörung“ sprechen.

Wenn man die Dinge so offen ausspricht, ist es vielleicht nicht überflüssig, etwas hervorzuheben. Das alles spricht nicht für eine besondere Bosheit der Reichen im Kapitalismus. Es war schon immer so, dass die herrschenden Klassen innere Probleme durch expansionistische Kriege zu lösen versucht haben, die im Kapitalismus tatsächlich herrschende Oligarchenkaste unterscheidet sich von den früheren nur in einer Hinsicht ganz deutlich: Früher sind fatale Lagen hauptsächlich durch Dürren, Überschwemmungen, Erdbeben, Epidemien und Überbevölkerung - sowie Inkompetenz und Degeneration der Herrschenden - entstanden, im real existierenden Kapitalismus kommt dazu noch als wichtige Ursache die innere Instabilität der ökonomischen Ordnung, also die periodischen Krisen.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann sich im kapitalistischen Westen wieder einmal etwas zu ändern. Die Entwicklung des Kapitalismus hat sich nicht auf die Länder entlang der atlantischen Küste beschränkt, sondern auch andere sind kapitalistisch geworden. Es waren solche, die davor nicht Jahrhunderte lang die neue Welt beraubt hatten. Deutschland ist das beste Beispiel dafür. Dort haben sich bekanntlich Landadel und Kriegerkaste explizit als Aufgabe und Ziel gesetzt, das Land zu industrialisieren, und das ist außerordentlich gut gelungen. Durch die preußischen Reformen (nach ihren Hauptinitiatoren auch „Stein-Hardenbergsche Reformen“ genannt) sollte sich Preußen aufbauend auf „das dreifache Primat der Waffen, der Wissenschaft und der Verfassung“ modernisieren, um im Kreis der schon entwickelten kapitalistischen Länder seinen „Platz an der Sonne“ zu erhalten. Dank der Reformen im Bildungswesen, die hauptsächlich von Wilhelm von Humboldt entworfen wurden, sind die Deutschen zum ersten allgemein gebildeten Volk in der Menschheitsgeschichte geworden. Eine große Mehrheit der bedeutenden Namen in den Naturwissenschaften waren damals deutsch. Es konnte nicht verwundern, dass die Zweite Industrielle Revolution hauptsächlich in Deutschland stattgefunden hat. Ob ein durch den Staat organisiertes Schulsystem gegen Liberalismus verstößt, lässt sich diskutieren, aber für vieles andere, was damals zu der deutschen Wirtschaftspolitik gehörte, desto mehr. Erwähnen wir dazu nur, dass der deutsche Staat den Prozess der Industrialisierung aktiv gefordert und gefördert hat, sie protektionistisch geschützt und die negativen Auswirkungen einer völlig freien Konkurrenzwirtschaft  juristisch verhindert hat. Und auch entgegen der Auffassung der reinen liberalen Lehre war diese Entwicklung sozial begleitet. Es war ein adliger Konservativer, Bismarck, der in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland die Renten- und Krankenversicherung einführte. „Der Glaube an die Harmonie der Interessen“, sagte er damals, „hat in der Geschichte bankrott gemacht. Gewiss kann der einzelne viel Gutes tun, aber die soziale Frage lösen kann nur der Staat“. Einen radikaleren und dreisteren Verstoß gegen das Prinzip des puren laissez-faire kann man sich kaum vorstellen.

Nebenbei bemerkt, es waren Maßnahmen, die nach der kreislauftheoretischen Analyse spontan die Nachfrage steigern, und haben gerade dadurch das erste deutsche Wirtschaftswunder ermöglicht. Wichtig hervorzuheben ist, dass damals Deutschland einen starken empirischen Nachweis dafür geliefert hat, dass die Marktwirtschaft erfolgreich  und zugleich auch sozial sein kann, aber eine völlig freie Marktwirtschaft kann sie dann nicht sein. Man sollte nun meinen, Deutschland hätte seinen Sonderweg zum Kapitalismus immer weiter verfolgt, aber das Gegenteil war der Fall. Obwohl er so erfolgreich war, wurde er, als die deutsche Wirtschaft die Wirtschaften der älteren kapitalistischen westlichen Nachbarn eingeholt oder gar überholt hatte, verlassen und vom liberalen Weg der westlichen Nachbarn ersetzt. Zwei Gründe  dürften dafür wichtiger als alle anderen gewesen sein:

Als der deutsche Landadel in den bürgerlichen Anzug schlüpfte, wurde für ihn auch die Ideologie des Kapitalismus attraktiver als die alte feudale. Das wäre ein mentaler oder psychologischer Grund, warum die staatlich geförderte und geforderte Wirtschaftspolitik immer mehr zugunsten des freien Markts verlassen wurde. Der andere Grund ist vor allem theoretischer Art. Den deutschen Weg zum Kapitalismus hat bekanntlich die „historische Schule der Nationalökonomie“ theoretisch begleitet und unterstützt. Zumindest soll hier die Theorie der Entwicklung der produktiven Kräfte von Friedrich List (1789-1846) erwähnt werden, die sich um die staatliche Industrialisierung besonders verdient gemacht hat. Aber diese spezifische deutsche ökonomische Schule hatte eine Schwäche, die sie nur für bestimmte Umstände brauchbar machte und auch für eine lange Zeit.

Wie der Name schon sagt, war die historische Schule historisch. Ihre Methode war es, die Geschichte sorgfältig und umfangreich zu untersuchen, um gewisse universale Tendenzen und Zusammenhänge zu erkennen und herauszufinden, welche Lösungen dabei die besten wären. Auch List wollte vor allem die amerikanische Erfahrung kopieren. Allgemein gesprochen gilt für die ökonomische Lehre der historischen Schule, dass sie nie analytisch, sondern rein erzählerisch oder gar metaphysisch war. Dann kann es zu willkürlichen und somit falschen Verallgemeinerungen kommen. Zum Beispiel, Sparen kann zweifellos nützlich und notwendig sein, solange sich eine Wirtschaft industrialisiert, danach aber nicht. Dann braucht die Wirtschaft nicht viel mehr für neue Investitionen, als was bereits Amortisation bringt. Die Theoretiker konnten daran immer weiter glauben, aber der neuen deutschen Klasse der Wirtschaftskapitäne war schnell klar, dass das nicht das eigentliche Problem war. Sie konnten einfach nicht übersehen, dass sie am Ende des 19. Jahrhunderts mehr, billiger und bessere Güter herstellen konnten als ihre Konkurrenz, nur Kunden hatten sie nicht genug, bei denen sie das alles absetzen konnten. Die historische Schule konnte ihnen keine Lösungen für die neuen Umstände vorschlagen, und die Lehren aus der  Geschichte mussten bald selbst  Geschichte werden.

Als die Theorie nicht helfen konnte, mussten die deutschen Wirtschaftskapitäne sich schließlich anderswo erkundigen, was in ihrer kapitalistisch gewordenen Wirtschaft passiert. Schon weil sie weitgehend aus dem feudalen Adel stammten, waren sie beständige Gäste in den Residenzen ihrer westlichen Nachbarn und konnten nicht nur mitbekommen, dass diese auch Absatzprobleme hatten, sondern auch, wie man sie tatsächlich lösen kann, nämlich durch Kriege um Absatzmärkte und Ressourcen, konkreter gesagt durch Kriege um Kolonien. Hier musste man sozusagen von vorne anfangen, da Deutschland nicht dabei war, als neue Kontinente entdeckt und die wichtigsten Kolonien verteilt wurden. Erst ab den 1880er Jahren ist es dem Deutschen Reich gelungen, hie und da etwas zu ergattern, es war aber für eine so ambitionierte Wirtschaft zu wenig. Nebenbei bemerkt, man hat Kolonien offiziell als „Schutzgebiete“ bezeichnet, heute würde man „Wirtschaftspartner“ sagen.

Da die Vorfahren der deutschen Wirtschaftskapitäne mit den westlichen Adeligen seit Jahrhunderten befreundet und verwandt waren, haben sie auf eine „gerechtere Verteilung“ der Kolonien gehofft, sind jedoch nicht auf Verständnis gestoßen. Es war klar, was man tun muss. Das neue industrialisierte Deutschland musste sich seinen „Platz an der Sonne“ mit der Waffe erkämpfen „Denn einerlei wie der Erfolg ist – dieser Krieg ist groß und wunderbar“, so der gerade erwähnte Weber (im August 1914). Es gibt einige wenige Philosophen und Sozialwissenschaftler in Deutschland, die im Krieg keine Lösung der Probleme des real existierenden Kapitalismus gesehen haben, aber sie waren die sprichwörtlichen „Rufer in der Wüste“. Die Geschichte nahm ihren Lauf und so hat sich bekanntlich das Zwanzigste als das tragische „deutsche Jahrhundert“ (Jäckel) erwiesen.

Der erste deutsche Versuch den „gerechten“ Anteil an Kolonien zu erhalten, also der Erste Weltkrieg, ist misslungen. Aber das war erst der Beginn des „deutsche Jahrhunderts“. Als Verlierer dieses Krieges war Deutschland sehr bald auch noch von der Großen Depression betroffen. Die damaligen herrschenden Parteien und insbesondere der fatale Kanzler Brüning haben bekanntlich alles getan, was ihnen die neoliberalen „Experten“ geraten haben, nichts hat geholfen. Das ökonomische Versagen der deutschen Wirtschaftspolitik vor dem Ersten und zwischen den Weltkriegen war ein klares Versagen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Der einzige Ausweg, um den inneren Frieden zu retten, bestand darin, die Macht einem Diktator auszuhändigen, der bereit wäre, auch durch Krieg der deutschen Wirtschaft externe Nachfrage (Märkte) und Naturressourcen zu besorgen. „Hitler kam nicht aus eigener Kraft an die Macht. Er hatte keine Mehrheit, weder unter den Wählern und damit im Volke noch im Reichstag oder in der Regierung. Es ist nicht wahr, was fast alle populären Deutungen behaupten, daß die Deutschen seine Ernennung zum Reichskanzler gewünscht hätten. Zwei Drittel von ihnen wünschten es nicht.“ (Jäckel: 157) Die Wahlergebnisse im November 1932 waren für die NS-Partei bedrohlich rückläufig, obwohl Hitler einen kostspieligen Wahlkampf führte, wie man ihn davor nie kannte, was seltsam ist, wenn er angeblich ein Führer von Ganoven und Habenichtsen gewesen sein sollte. Obwohl man später mit allen Mitteln versuchte die Spuren der Nazis zu der deutschen Oligarchenkaste zu verwischen, konnten die Historiker eine ausreichende Menge davon dokumentieren. Die „Machtergreifung“ ist auch nur ein Mythos, oder wie man  heute sagen würde „fake“. Hitler wurde zum Reichskanzler (30. Januar 1933) berufen, woran vor allem preußische Junker wesentlich beteiligt waren sowie bedeutende Gruppen der Industrie – auch aus den USA. Auch das Narrativ von den Reparationen ist an sich falsch. Ihre Höhe war nicht einmal im Versailler Vertrag festgelegt, sie waren zu hoch vor allem deshalb, weil man die Wirtschaft auf Teufel komm raus mit liberalen Maßnahmen beleben wollte und dabei katastrophal scheiterte. Hitler hat diese Maßnahmen seines Vorgängers Brüning verworfen und war für einige Jahre ökonomisch erstaunlich erfolgreich, bewundert von der ganzen  Welt, was ihn auf die wahnwitzige Idee von einem Tausendjährigen Dritten Reich gebracht hat, die bekanntlich fatal endete.

„Wehe den Besiegten!“, so lautet ein bekanntes lateinisches Sprichwort, aber nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg sollte Deutschland nicht nur keine ernsthaften Reparationen zahlen müssen, sondern wurde darüberhinaus noch beschenkt. Nicht aus irgendeiner samaritanischen Gutherzigkeit der Sieger heraus, sondern aus einem knallharten Kalkül. Deutschland sollte als Schaufenster gen Osten die Verbreitung des Kommunismus verhindern. Bereits die Währungsreform wurde von den Amerikanern organisiert und durchgesetzt, das Etikett „Ludwig Erhard“ sollte sie verdeutschen. Und so ging es weiter. Es flossen amerikanische Kredite, amerikanische Investitionen, aber das alles war nicht wesentlich für die Zukunft der deutschen Wirtschaft, sondern etwas ganz anderes. Nach ihrer unglaublich erfolgreichen Industrialisierung in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts brauchte die deutsche Wirtschaft eigentlich nur Absatzmärkte für ihre Güter. Und auch dafür haben die Amerikaner gesorgt, indem sie genug Dollars gedruckt haben. Sie konnten sich das erlauben, da sie nach der Großen Depression auf keynesianische Wirtschaftspolitik umgestiegen waren, und die hat ihnen und dem ganzen Westen drei Jahrzehnte lang ein „goldenes Zeitalter des Kapitalismus“ beschert. Diese Leistung ist ein weiterer Beweis dafür, dass eine ökonomische Ordnung, die auf Konkurrenz und Privatkapital beruht, dann sowohl stabil als auch sozial sein kann, wenn der Staat auf richtige Weise interveniert.

Schon die staatlich geforderte und geförderte Industrialisierung hat deutsche Ökonomen für das Problem des Nachfragemangels blind gemacht. Als dann Amerikaner die ganze Zeit nach dem Weltkrieg der „letzte Abnehmer“ (William Greider) für kapitalistische Länder waren, hat sich dieser Irrtum bei den deutschen Ökonomen noch mehr befestigt. Es galt für sie als empirisch bestätigt, dass in einer freien Marktwirtschaft Nachfragemangel nicht entstehen kann. Ihrem oberflächlichen und dogmatischen Geiste konnte es nicht in den Sinn kommen, dass der amerikanische Markt bzw. die deutschen Exportüberschüsse die mangelnde Nachfrage der deutschen Wirtschaft hätten aufgesaugt haben können. So war Keynes, dessen Wirtschaftspolitik dem Kapitalismus seine besten Zeiten bescherte, nirgendwo dermaßen abgelehnt und bekämpft wie in Deutschland und das hat sich bisher keinen Deut geändert. Als dann Ludwig Erhard eingefallen ist, den Kapitalismus als „soziale Marktwirtschaft“ zu bezeichnen, begann man zu glauben, dass die freie Marktwirtschaft auch an sich sozial ist. Seitdem glauben die Deutschen nicht nur, dass sie nicht mehr im Kapitalismus leben, sondern dass diese Worte den bösen Kapitalismus erschrecken und ihn moralisch besser machen. Da kommt einem eine Bemerkung Goethes in den Sinn, der den deutschen Geist wohl sehr gut gekannt hat: „Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“

Für das amerikanische Volk konnte es äußerst vorteilhaft sein, die „letzten Abnehmer“ zu sein, also für bedruckte Papierchen richtige Güter aus der ganzen Welt umsonst zu bekommen, aber für die Oligarchenkaste waren die keynesianischen Jahrzehnte die schlimmsten seit mehreren Jahrhunderten. Nicht nur, weil sie einen spürbaren Anteil von „ihrem“ Reichtum für höhere Löhne und Sozialausgaben opfern mussten, damit das Volk nicht von kommunistischen Ideen verführt wird und auf dumme Gedanken kommt. Ein wohlhabendes Volk war schon immer der größte Alptraum der Reichen, was Orwell mit einfachen aber sehr klaren Worten beschrieben hat: „In einer Welt, in der jedermann nur wenige Stunden arbeiten musste, in der jeder genug zu essen hatte, in einem Haus mit Badezimmer und Kühlschrank wohnte, ein Auto besaß ... in einer solchen Welt wäre die augenfälligste und vielleicht wichtigste Form der Ungleichheit bereits verschwunden. ... Sobald alle gleicherweise Muße und Sicherheit genossen, würde die große Masse der Menschen, die normalerweise durch die Armut abgestumpft war, sich heranbilden und selbstständig denken lernen. Und war es erst einmal soweit, so würden sie früher oder später dahinterkommen, dass die privilegierte Minderheit keine Funktion hätte, und würde sie beseitigen. Auf lange Sicht war daher eine hierarchisch geordnete Gesellschaft nur auf einer Grundlage von Armut und Unbildung möglich“ (1984). Also  musste man mit dem bequemen Leben des westlichen Bürgers Schluss machen und die Chance dafür ist immer größer geworden. Nach den erstaunlichen ökonomischen Erfolgen während der Stalinzeit (es gab damals Jahre, in denen das Wachstum 14% betrug,) haben die Wachstumsraten der kommunistischen Wirtschaften begonnen, erstaunlich schnell und tief zu fallen, und der Abstand zu den kapitalistischen Ländern hat sich immer weiter vergrößert. Die westlichen Machteliten haben richtig erkannt, dass die Zeiten günstig sind, damit zu beginnen, den Wohlstand für alle abzuschaffen. Mit den Reformen nach dem neoliberalen „Washington Consensus“ von Reagan und Thatcher wurde die keynesianische Wirtschaftspolitik durch eine neoliberale ersetzt. Die Leistung der westlichen Wirtschaften hat sich zwar im Vergleich zu jener der keynesianischen Jahrzehnte halbiert, was nicht nur für Wissenschaftler, sondern für alle mit gesundem Menschenverstand begabte Zeitgenossen  ein endgültiger Beweis sein müsste, dass die neoliberale Marktwirtschaft im Vergleich mit der keynesianischen kläglich gescheitert ist, aber die Oligarchenkaste hat das nicht betroffen, im Gegenteil. Seitdem ist das ganze Wachstum - eigentlich sogar mehr als das - in die Taschen der vorher schon Reichen und der Reichen insgesamt geflossen. Die neoliberale Konterrevolution mit dem Ziel, Reiche reicher zu machen, war vielleicht viel erfolgreicher, als man es am Anfang gehofft hatte.

Fortsetzung folgt

 
 
 
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