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  Der real existierende Kapitalismus und Kriege als sein Schicksal und Verhängnis (5)
 

Diese geopolitische Lage hat sich durch das ökonomische Wunder in Deutschland nach den preußischen Reformen („Stein-Hardenbergsche Reformen“) geändert. Es geschah etwas, was davor vielleicht nicht vorstellbar war. Ein feudales Land bzw. seine Wirtschaft wurde ohne Kolonien nicht nur industrialisiert, sondern hat seine westlichen Nachbarn in wenigen Jahrzehnten ökonomisch eingeholt und überholt. Den ersten kapitalistischen Ländern ist es gelungen, die Marktwirtschaft funktionsfähig zu machen, indem sie deren Absatzprobleme und Nachfragemangel in die Kolonien „exportiert“ haben, aber warum war die deutsche Marktwirtschaft auch ohne Kolonien funktionsfähig? Die preußischen Eliten haben nach den Napoleonischen Kriegen etwas richtig verstanden, dass nämlich Deutschland ohne Industrie nicht zu retten wäre. Und es ist ihnen auch eine gleichermaßen einfache als auch geniale Idee eingefallen, die sie berechtigt, sich für eine Elite im echten Sinne des Wortes zu halten. Sie haben gleichzeitig Konkurrenz eingeführt und staatlich in Menschen (Ausbildung) und Industrie investiert. Warum das eine ohne das andere nicht funktionieren würde, kann man kreislauftheoretisch genau erklären. Eine beschleunigte Produktion der Produktionsgüter (YK) ist ein Faktor, der sehr effektiv das Entstehen des Nachfragemangels verhindert und somit bewirkt, dass die Wirtschaft nicht abstürzt, sondern weiter wachsen kann. Das habe ich theoretisch anderswo näher erörtert (Kapitel 3.2d), für uns ist jetzt wichtig, daraus eine notwendige Schlussfolgerung zu ziehen. Ein Wachstum im Bereich der Produktion von Produktionsgütern lässt sich aus objektiven Gründen nicht immer weiter fortsetzen. Wenn eine Industrie auf dem aktuellen technischen Wissen einmal (real) aufgebaut ist, ist es so gut wie unmöglich, dort weiterhin zu investieren. Eine gegenteilige Auffassung, wie etwa die von Marx über die ständige Akkumulation des Kapitals (Kapitel 10.3a) ist einfach nur eine realitätsfremde metaphysische Schnapsidee. Und nun, was tun, wenn die deutsche „verspätete Nation“ ihre kapitalistischen Nachbarn in der industriellen Entwicklung eingeholt und überholt hat?

Einfach gesprochen, am Ende des 19. Jahrhunderts ist Deutschland im Kapitalismus angekommen und seine Probleme sind die gleichen geworden wie die der alten kapitalistischen Wirtschaften: Absatzprobleme und Nachfragemangel. Und eine originelle Lösung für diese sozusagen „klassischen“ Probleme der Marktwirtschaft ist der preußischen Elite nicht eingefallen. Die preußische Elite ist auf das alte mentale Niveau der Junker zurückgefallen, zu einer üblichen kapitalistischen Oligarchenkaste geworden. Das erste und eigentlich das einzige deutsche Wunder war vorbei und aus Deutschland waren für sein Überleben Kolonien unbedingt nötig. Nachdem aber Kolonien unter den klassischen kapitalistischen Ländern bereits aufgeteilt waren, wurde den verbürgerlichten Junkern  schnell klar, dass sie ihren „gerechten“ Anteil am Weltmarkt und den Weltressourcen nicht anders als nur mit Kriegen erzwingen können. Bildlich gesprochen, Deutschland ist zu einem typischen kapitalistischen Raubtier geworden. Um beim deutschen Volk Zustimmung für den Krieg zu erzeugen, also den kollektiven Instinkt zur Selbstopferung zu wecken, brauchte man dazu eine Ethik von Gut und Böse. Aber als „verspätete Nation“ konnte Deutschland nicht den Anspruch erheben, man würde für Kolonien kämpfen, um sie angeblich zu zivilisieren. Diese „Bürde“ hatten nämlich schon andere auf sich genommen und die waren nicht bereit, sie  jemand anderem abzugeben. Man brauchte also eine neue überzeugende Ethik von Gut und Böse, um das eigene Volk, jetzt waren es Wehrpflichtige, in Kriege um Kolonien zu schicken. Die metaphysisch verseuchte deutsche Philosophie seit Kant stand für eine solche Ethik zur Verfügung.

Ganz oben ist es schon näher erörtert worden, dass Kant  in seiner Tugend- oder Gesinnungsethik den „guten Willen“ ganz explizit über Tatsachen stellt. Wenn „der moralische Wert der Handlung nicht in der Wirkung, die daraus erwartet wird, liegt“, kann es jedoch nichts anderes bedeuten, als dass das Gute für seine empirischen Folgen keine Verantwortung trägt. Diese anmaßende Ethik der deutschen Metaphysik wurde von den patriotisch-romantischen Literaten fleißig unterstützt, woraus bald ein Mythos über das „deutsche Wesen“, an dem „einmal noch die Welt genesen mag“, geboren wurde, also ein Mythos über Einzigartigkeit und Überlegenheit der deutschen Kultur. Es wäre seltsam, wenn als der nächste Gedanke nicht käme, diese angeblich überlegene Kultur und Sittlichkeit weltweit zu verbreiten. Deutschland habe, wie der Theologe Friedrich Fabri (1879) es formulierte, eine „Cultur-Mission“. Haben also früher Religionen ihre Völker zu „auserwählten“ erklärt, für das deutsche Volk haben es seine metaphysischen Philosophen getan.

Wenn man dem Guten bedingungslos verpflichtet („kategorischer Imperativ“) ist und empirische Tatsachen keine Relevanz haben - sie wären so etwas wie Schatten in der Platonischen Höhle -, warum sollte man sich da bei der Wahl der praktischen Mittel noch große Gedanken machen? Einen weiteren Schritt in Richtung dieser fatalen Ethik verdankt man Hegel. Mit seiner Auffassung vom Fortschritt als ständigem Kampf hat er ins Schwarze der deutschen imperialen Seele getroffen. Wenn nun die „Geschichte ein Schlachthof ist“ (Hegel), dann könnten Kriege für kulturellen Fortschritt nicht gegen Moral verstoßen, im Gegenteil. Sie würden, auf die Moral gestützt, den kulturellen Fortschritt beschleunigen und auf eine höhere Stufe bringen - wie bei Marx später. Und wer sollte solche Kriege nach Hegel führen, wenn nicht das Kaiserliche Reich, das Hegel schon für das „Ende der Geschichte“ erklärte. Man soll sich also nicht wundern, wenn die Philosophie von Hegel eine frenetische Begeisterung im Kaiserreich hervorgerufen hat. Nebenbei bemerkt, auch der metaphysische Bellizismus von Hegel war keine originelle Idee, sondern ein alter Wein in neuen Schläuchen, was die ganze deutsche Philosophie beginnend mit Kant wesentlich kennzeichnet. Hegel hat nur Heraklit von Ephesos  mit dessen These, wonach „Krieg der Vater aller Dinge ist“, in einen neuen sprachlichen Wirrwarr eingekleidet.

Der 1. Weltkrieg ging für Deutschland verloren und hat es weiterhin ohne Kolonien gelassen. Nach diesem Weltkrieg ist die geopolitische Lage in der Welt jedoch anders geworden. Vor allem hat sich bei den Kolonien etwas geändert. Hatten sie davor gar nichts zu sagen gehabt,  begann sich bei ihnen nun ein Selbstbewusstsein zu entwickeln. Eine noch weitreichendere Wirkung hatte die in Russland siegreiche kommunistische Revolution. Zum ersten Mal in seiner Geschichte war der ganze westliche Kapitalismus existenziell bedroht, seine ganze „freiheitliche“ Kultur. Und dann, wie es nicht anders kommen konnte, ist auch die nächste periodische Krise im westlichen Kapitalismus ausgebrochen (1929) – eine schlimmere als je zuvor. Wie schon erwähnt, war es aus ihrer langen Erfahrung heraus der westlichen Oligarchenkaste bewusst, dass die freie Marktwirtschaft nicht aus eigener innerer Kraft heraus in den nächsten Zyklus (Aufschwung, Boom, Rezession, Krise) übergehen kann, und als einzige praktisch funktionierende Lösung hat sich nur der Krieg angeboten. Unter den neuen geopolitischen Bedingungen war aber die „zivilisatorische Mission“ untauglich, neue Kriege zu rechtfertigen und zu legitimieren, die „Cultur-Mission“ war dazu besser geeignet denn je. Der Kommunismus wurde zur schlimmsten Negation jeder Moral und Kultur erklärt, der als solcher mit allen Mitteln bekämpft und vernichtet werden sollte. Das erfolgreichste Narrativ für diese „Cultur-Mission“ hat der Faschismus bzw. Nazismus entworfen. Was war der Faschismus eigentlich?

Massenbewegungen bringen immer Persönlichkeiten an die Spitze, die am überzeugendsten Botschaften der Bewegungen formulieren und mit diesen weitere Menschen für sich gewinnen. Mussolini war bekanntlich Führer der faschistischen Bewegung in Italien. Die Ziele seiner Bewegung hat er in aller Deutlichkeit verkündet: „Wir haben alle geoffenbarten Wahrheiten zerfetzt, wir haben auf alle Dogmen gespuckt, wir haben alle Paradiese abgelehnt und über alle Scharlatane – die weißen, die roten und die schwarzen – gespottet, die mit Wunderdrogen hausieren, die der Menschheit das ,Glück‘ bringen sollen. Wir glauben nicht an Programme, an Pläne, an Heilige, an Apostel; wir glauben erst recht nicht an das Glück, an das Heil, an das gelobte Land … Wir kehren zurück zum Individuum“ (Popolo d’Italia, 1. Dezember 1920). Um sich persönlich zu überzeugen, was Mussolini als „Duce“ in Italien angerichtet hat, reiste Churchill nach Rom und zutiefst beeindruckt erklärte er Mussolini zum „italienischen Genius“. Bei Churchill hat also nichts in Italien irgendwelche Zweifel geweckt, etwa dass der Faschismus  mit dem Kapitalismus nicht kompatibel wäre, auch wenn im Programm der italienischen Faschisten gewisse sozusagen „sozialistische“ Maßnahmen zu finden waren - wie auch später im Programm des Nazionalsozialismus. Die Vorstellung, mit Freiheit statt Wohlstand den Kapitalismus zu retten, haben dann Theoretiker des Liberalismus zum moralischen Imperativ erklärt, wie etwa Ludwig Mises (1881–1973), der als Leuchtturm des europäischen Liberalismus zwischen den Weltkriegen galt. In seinem Hauptwerk Liberalismus schreibt er: „Es kann nicht geleugnet werden, daß der Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und daß ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. Das Verdienst, das sich der Faszismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben“ (Mises 1927: 45). Ethisch betrachtet beruhte der Faschismus auf zwei Ideen: der Idee der Freiheit und der metaphysischen Idee des Guten. Es stimmt, dass Hitler das Gute nicht mit der Freiheit gleichsetzte. Aber ökonomische Freiheit war für ihn unantastbar, Kantianisch gedeutete Freiheit, als „eine bloße Idee, deren objective Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgend einer möglichen Erfahrung, dargethan werden kann“, konnte für Hitler nicht das geringste Problem sein. Ein so praktischer Mensch wie Hitler konnte schnell begreifen, dass diese Freiheit jedoch keine solche Anziehungskraft haben konnte, dass die Deutschen für sie in den Krieg ziehen würden, aber um die höhere deutsche Kultur - das „deutsche Wesen“ - vom Bösen zu befreien bzw. zu retten, schon. Die Mission der Freiheit von Mussolini ist gescheitert, die „Cultur-Mission“ von Hitler hat sich als unvorstellbar erfolgreich erwiesen. Hitler konnte das alte Europa vereinigen und in einen Kreuzzug gegen den Kommunismus und eigentlich den Rest der Welt schicken.

Da nun der 2. Weltkrieg sehr „unglücklich“ endete, will man alle seine Leiden, Zerstörungen und Tote auf einige Menschen mit dämonischen Kräften zurückführen. Um die zivilisatorische Schuld des Kapitalismus zu umgehen und zu vertuschen, hat dieser seine Schuld personifiziert. Aus heutigen Erzählungen im Westen bekommt man den Eindruck, dass Hitler fast eigenhändig alle Juden in die Gaskammern zerrte, Gashähne öffnete, slawische und andere Völker massakrierte usw. Sehr merkwürdig, wenn man bedenkt, wofür  man dieses angebliche Monster vor dem Kriege hielt. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern wurde Hitler geradezu vergöttert, wie man es sich  heute schwer in der Phantasie vorstellen kann. Sehr peinlich! Wie „hochentwickelt“ hätte eine solche Zivilisation tatsächlich sein können, wenn es angeblich einigen wenigen Psychopathen gelungen ist, ach so aufklärte und rationale Menschen an der Nase herumführen zu können? Den damaligen Eliten, die keine Eliten waren, fiel auch gleich die übliche „Erklärung“ dafür ein, nämlich alle Schuld den sogenannten „Massen“ in die Schuhe zu schieben. Aber es gibt viele Tatsachen aus zuverlässigen Quellen, die eindeutig dagegen sprechen. Ziemlich verständlich kann es uns da noch vorkommen, wenn die Großkapitalisten in Hitler die einzige Hoffnung, den Kapitalismus zu retten, erblickten und ihn großzügig unterstützt haben. Aber wie konnte es Hitler gelingen, eine überwältigende Mehrheit der Geisteswissenschaftler und „bedeutenden“ deutschen Philosophen zu begeistern? So rief Heidegger im Jahre 1933 mit all seinem Prestige als Denker und als Rektor der Universität die Freiburger Studenten auf: „Nicht Lehrsätze und Ideen seien die Regeln eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz.“ Dafür hat sich Heidegger nie entschuldigt, was für sich spricht. Popper, der gerade seine Karriere als ein zorniger liberaler Kämpfer gegen den Totalitarismus begonnen hatte, fand, obwohl er als Jude vor den Nazis fliehen musste, trotzdem nie Zeit, sich mit dem faschistischen Totalitarismus auseinanderzusetzen.

Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass es in jeder Gesellschaft und in jeder ihrer Schichten und Gruppen Räuber, Verbrächer, Sadisten, Soziopathen, Geisteskranke und auf verschiedene Weise sozial unangepasste und psychisch gestörte Individuen gibt, zu denen auch solche mit höchster Intelligenz gehören. Aber es ist genauso eine unbezweifelbare Tatsache, dass ihre Zahl immer klein ist. Die bösen Taten des Nazismus haben Menschen ausgeübt, die überzeugt waren einer Mission zu dienen, die zivilisatorisch so wichtig und so wertvoll wäre, dass es nicht dagegen sprechen sollte, eine beliebig große Zahl von „unverbesserlichen“ Artgenossen zu vernichten. Das lässt sich aus beliebig vielen Biographien entnehmen. Fangen wir gerade mit Hitler an. In all seinen Reden hielt er sich für einen Menschen des Friedens, der auch tatsächlich mit allen Friedensabkommen schloss: mit dem Vatikan, dann mit anderen europäischen Ländern und schließlich auch mit Stalin. Aber die anderen wollten nach Hitler gar keinen Frieden, sondern nur Krieg, da sie einfach nur böse Wesen waren und dadurch ihm schließlich Kriege aufgezwungen hätten. Bemerkenswert ist, dass Hitler Vegetarier war und gern damit kokettierte, wie widerlich ihm Fleisch  wäre, da es ihn ekelte, wenn er daran denke, wie in Schlachthäusern die Schlachter bis zu den Waden im Blut stehen. Nach eigenem Verständnis hielt sich Hitler für einen Menschen mit höchster Moral und als solchen gab er sich in ganz Europa, dem „zivilisiertesten“ Teil unseres Planeten, glaubwürdig aus. Als ein intelligenter Mensch mit einer raschen Auffassungsgabe war es ihm auch vollkommen klar, dass kein Volk im Verhältnis zu seiner Größe so viel für die Zivilisation geleistet hat wie die Juden, deshalb hat er ihnen auch nicht kognitive und andere Fähigkeiten abgesprochen, sondern ihn hat ihre angeblich außerordentliche moralische Verkommenheit immer wieder in Schauder und Entrüstung versetzt (Weikart: 303, 309). Und auch der Kommunismus war für ihn deshalb teuflisch, weil er marxistisch und damit „jüdisch“ war. Wahrscheinlich hat er fest daran geglaubt, dass die deutsche Hyperinflation absichtlich vom bösen Finanzjudentum verursacht wurde.

Für Teilnehmer einer kulturellen Mission haben sich schließlich sogar die Betreiber der KZs gehalten, die meinten auf ihre Weise würdige Kämpfer für alles Gute gegen alles Böse zu sein. Bei der Vergasung der Juden ließen sie Bach und Beethoven abspielen, was ein Sieg einer höheren und fortschrittlicheren Kultur gegen eine verkommene und gemeine symbolisieren sollte. Und damit man jetzt nicht auf den Gedanken käme, die Naturwissenschaftler und Techniker wären damals, aus welchen Gründen auch immer, bessere Menschen gewesen, dürfte vielleicht schon ein Beispiel reichen, um auch hier Klarheit zu schaffen. So hat ein Ingenieur von Topf & Söhne eine Innovation für die KZs vorgelegt, „einen vierstöckigen Verbrennungsofen, der ohne Koks oder Erdöl betrieben werden konnte: Die Leichen selbst gaben in dieser Konstruktion den Brennstoff her“ (Arendt 2006: 193). Aus dem „grünen“ Blickwinkel war das in der Tat eine saubere Lösung. Dr. Mengele wäre ein Vorzeigebeispiel für die Moral der Medizin - derjenigen mit dem Hippokratischen Eid. Zur moralischen Entlastung der Naturwissenschaften lässt sich als mildernd nur ein Umstand anführen: Sie waren und sind nicht berufen, Lösungen für soziale und ökonomische Probleme der Gesellschaft und damit auch des real existierenden Kapitalismus auszuarbeiten, sondern das ist die Aufgabe der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, die in den letzten zwei Jahrhunderten nicht weniger als katastrophal versagt haben. 

Bei der oben durchgeführten allgemeinen Untersuchung der Ethik von Gut und Böse wurde auch noch festgestellt, dass ihre sozusagen letzte Ursache eine existenzbedrohende Lage der Population ist, wenn diese, um selbst zu überleben bereit wird, dafür eine andere Population zu opfern. Dabei ist unwichtig, wie die existenzbedrohende Lage entstanden ist. Eine solche kann auch durch die betroffene Population selbst verursacht werden, bzw. durch die politische und ökonomische Ordnung, die sie selbst errichtet hat, wie es mit der kapitalistischen Ordnung der Fall ist, die immer wieder wegen der freien Marktwirtschaft periodisch zusammenbrechen muss. Ein solcher Zusammenbruch begann damals mit dem Crash der New Yorker Börse (1929), als die große Depression begonnen hat. Deutschland war von ihr noch viel schlimmer betroffen als andere kapitalistische Länder, da die Lage schon davor ökonomisch sehr schlecht gewesen ist, wegen des verlorenen Krieges. Schließlich haben nicht wenige mit Recht festgestellt: „Wären Hitler und die Nazianalsozialisten nicht an die Macht gelangt, hätte es auch keinen Holocaust gegeben. Und sie wären wahrscheinlich nicht an die Macht gekommen, hätte es keine wirtschaftliche Depression gegeben“ (Goldhagen: 7). Als bei den Nürnberger Prozessen Goering gefragt wurde, wie man das deutsche Volk dazu gebracht hätte, die schrecklichsten Dinge zu tun, antwortete er: „Es war sehr einfach, es hat nichts mit Nationalsozialismus zu tun, es hat etwas mit menschlicher Natur zu tun. Man kann es in einem nationalsozialistischen, kommunistischen Regime, in einer Monarchie und sogar in einer Demokratie tun. ... Wenn du es schaffst, einen Weg zu finden, um Menschen Angst zu machen, kannst du sie zu allem bringen, was du willst.“ Was er dabei verschwiegen hat, sei es ungewollt oder mit Absicht, ist seine blindwütige Agitation für den Kampf gegen das Böse, für den Sieg des Reiches des Guten auf der Grundalge des „deutschen Wesens“ bzw. des deutschen Übermenschen.

Es gibt viele Berichte darüber, wie schwer sich die normalen Menschen von den Nazis umerziehen ließen, um bereit zu sein, Kinder, Alte und Freuen zu töten. „Am Anfang waren sie noch verstört, hatten Alpträume und mussten sich übergeben. Wenige Wochen später aber machte es ihnen nichts mehr aus. Sie betranken sich, töteten nach Vorschrift, mitleidlos und ohne Skrupel, weil sie sich einredeten, einen Ehrendienst zu verrichten. Sie taten, woran andere zerbrochen wären, nicht aus niedrigen Beweggründen, sondern weil sie sich einredeten, die Menschheit von ihren Übeln zu befreien“ (Baberowski: 163) - so der amerikanische Historiker Christopher Browning, der diese Ereignisse erforschte. Wie es dem Menschen dann ebenso schwergefallen ist, sich von der Phantasie zu lösen, man hätte nur dem „kategorischen Imperativ“ gefolgt und dem Guten gedient, konnte man bei einem gewissen Krämer klar diagnostizieren. Vor dem Krieg war er wie viele Deutsche ein braver Bürger, dann hat er sich für den Tod zehntausender Menschen verantwortlich gemacht. Er hat sich während des ganzen Prozesses gegen ihn offensichtlich ganz ehrlich für einen Guten und Unschuldigen gehalten. Deswegen nannte ihn die Presse „Bestie von Belsen“. „Denn er sah sich nicht als Mörder, sondern als unbestechlicher Ordnungshüter, der sich nichts vorzuwerfen hätte. Noch in der Gefängniszelle glaubte er, dass auch die Ankläger ihren Irrtum einsehen und am Ende verstehen müssten, dass er nichts Verwerfliches getan habe. ... Er hätte sich auf eine schwere Kindheit berufen, auf Arbeitslosigkeit und Elend verweisen können, als Karrierist und Fanatiker, als Verführter oder Unbelehrbarer“ (Baberowski: 24) - hat  jedoch nichts davon nutzen wollen. Es bot sich auch der Eindruck, seine Taten hätten ihm selbst nicht an sich gut erschienen, aber er betrachtete sich als einer, der aus der moralischen Pflicht, Deutschland zu retten, handelte.

Diese kurze Erinnerung an die metaphysischen und moralischen Grundlagen  Nazideutschlands, an seine „Cultur-Mission“, ist nicht nur von theoretischer Bedeutung. Die heutige Ethik von Gut und Böse des kollektiven Westens in seinem Kampf gegen die ökonomische Krise, die seit 2008 dauert und sich vertieft, ist auch nur eine Spielart der kulturellen Mission. Die erbliche westliche Oligarchenkaste ist sich sehr wohl bewusst, dass eine solche Krise nicht von alleine verschwinden wird und dass sie nolens volens einen ordentlichen Krieg anzetteln muss, bevor die Menschen nicht wieder beginnen gegen den Kapitalismus zu rebellieren. Dazu muss die Oligarchenkaste eine Zustimmung für den Krieg beim Volk erzeugen, den kollektiven Instinkt für die Selbstopferung bei ihm wecken, und daran wird fleißig gearbeitet. Zum einen werden existenzielle Ängste bei der Bevölkerung geweckt: Ozonloch, Waldsterben, Pandemie, Klimakatastrophe ... und zum anderen werden für das Versagen des Kapitalismus angeblich unterentwickelte Kulturen verantwortlich gemacht und angeprangert. Aber so einfach wie vor und zwischen den Weltkriegen lassen sich nicht mehr eine gute und eine böse Kultur definieren. Für die neue kulturelle Mission musste eine neue Sprache („Neusprech“) erfunden werden, was sich aber auch nicht als besonders schwierig erweisen sollte. „Demokratie“ und „Menschenrechte“, wie man sie im real existierenden Kapitalismus versteht, sind das Gute, alles andere ist das Böse und soll vernichtet werden. Die Stimmung für Krieg wird im kollektiven Westen überall und in allen möglichen Formen geschürt, so dass es eigentlich überflüssig ist, Beispiele dafür vorzulegen. Und es wird zur Eile ermahnt. Würde man angeblich „Demokratie und Menschenrechte“ nicht verteidigen, auch um den Preis eines „gerechten“ Krieges, würde die höhere westliche Kultur  durch den bösen Gegner bestimmt zerstört werden, warnen uns alle, die sich für unsere demokratischen Vertreter und Verteidiger von „unseren“ Werten halten. Beispiele dazu erübrigen sich eigentlich auch. Eins ist jedoch erwähnenswert, da es sich auf die höchste politische Stelle bezieht, auf den EU-Chefdiplomaten Borrell. Bei einem Treffen mit jungen Diplomaten (Brügge, 13.10.2022) hat er die Zielrichtung der westlichen Geopolitik klar bezeichnet: „Wir sind ein Garten ... der Rest der Welt ist ein Dschungel. Die Gärtner müssen in den Dschungel gehen.“ Es wäre natürlich kein Angriffskrieg, so etwas wäre einer höher entwickelten Kultur unwürdig, sondern es wäre nur ein Verteidigungskrieg. Das kennt man aus der Geschichte nur allzu gut.

Die Frage zu beantworten, ob es zum nächsten Weltkrieg kommt oder nicht, würde jede wissenschaftliche Methode überfordern und schließlich wird auch hier eine solche Vorhersage nicht gewagt. Eine seriöse Wissenschaft kann aber Faktoren untersuchen, die den Ausbruch des Weltkriegs auf eine oder andere Weise relevant beeinflussen. Wie schon erwähnt,  gehören zu den wichtigsten dieser Faktoren  nach meiner Auffassung die neuen Informations- und Kommunikationstechniken. Diese meine Auffassung beruht auf der Annahme, dass sie die Wahrnehmung der „einfachen Menschen“ bestimmen oder zumindest wesentlich beeinflussen, und auf die Forschung der Geisteswissenschaften zwar indirekt aber trotzdem wesentlich wirken. Wir untersuchen jetzt diese Wirkungen konkret, im kollektiven Westen und im globalen Süden. Daran anknüpfend werde ich meine Überlegungen vorlegen, wie sich vielleicht  unter gewissen glücklichen Umständen  nicht nur ein drohender Krieg und andere Katastrophen verhindern ließen, sondern es zur Entwicklung einer neuen Epoche kommen könnte, die unsere erschöpfte, degenerierte und weitgehend kollabierte Epoche der Moderne würdig ersetzen könnte.

Fortsetzung folgt

 
 
 
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