11.3c Die neue Informations- und Kommunikationstechnik und die nächste globale epochale Wende
Zumindest bis heute kann man erleichtert und erfreut feststellen, dass die Bellizisten im Westen bei den „einfachen“ Menschen nicht viel erreicht haben. Das müsste auch damit zu tun haben, dass diese durch das Internet und die sozialen Netze über die Lage in der Welt viel mehr wissen als das, was die Medien und Politiker einheitlich berichten und ständig wiederholen. Wäre dem nicht so, warum müssten die westlichen Regierungen alle Medien aus sogenannten „diktatorischen Regimen“ verbieten und immer mehr Zensur einführen? Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum im Westen nicht so viele Menschen wie früher begeistert in den nächsten Krieg ziehen wollen. In nur zwei Jahrhunderten ist es dem real existierenden Kapitalismus gelungen, die soziale Natur in den Menschen verkümmern zu lassen, fast so wie in der orwellschen Dystopie beschrieben: „Wir haben die Bande zwischen Kind und Eltern, zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mann und Frau durchschnitten. Niemand wagt es mehr, einer Gattin, einem Kind oder einem Freund zu trauen. Aber in Zukunft wird es keine Gattinnen und keine Freunde mehr geben. ... Es wird keine Treue mehr geben ... keine Liebe ... kein Lachen ... keine Neugier ... keine Lebenslust.“ Und wenn das freie Individuum alles sein soll und die Gesellschaft nichts, warum sollten solche Individuen zu Patrioten werden und ihr Leben für die Gesellschaft opfern wollen? Das antike Rom hat damals in einer ähnlichen Lage, bekannt auch als „römische Dekadenz“, in seine Legionen Barbaren als Söldner aufgenommen, so wie es der kollektive Westen heute mit den Ukrainern macht. Der Untergang des Imperiums ließ sich dadurch aber auch nicht verhindern.
Sogar eine oberflächliche Betrachtung der westlichen Lebensweise weckt den Eindruck, dass die liberale Oligarchenkaste den Bogen überspannt hat. Das soziale Gewebe ist zerrissen und vergammelt. Herrschaft statt Gemeinschaft, Egoismus statt Empathie, Konsum statt Beziehung, Animation statt Denken, Extravaganz statt Kreativität, Narzissmus statt Selbstverwirklichung. Es ist genau das geschehen, wovor der große klassische Liberale Mill so eindringlich gewarnt hat. Solche Leichtfertigkeit bei der westlichen Oligarchenkaste lässt sich kaum anders erklären, als dass sie sich nach dem Verschwinden des Kommunismus eingebildet hat, ihre Herrschaft würde jetzt ewig dauern. So haben die Herrschenden während der ganzen Geschichte gedacht und immer wieder wurden ihre damals fortgeschrittenen Zivilisationen von den Barbaren besiegt. Schon der arabische Historiker und Politiker Ibn Chaldun (1332-1406) hat sich darüber Gedanken gemacht und festgestellt: Wenn eine Zivilisation ihren Höhepunkt erreicht hat, beginnt sie zu degenerieren und zu zerfallen. Sie wird dann von Barbaren, die eine sozial zusammenhängende Gruppe sind, besiegt. Nach ihrem Sieg werden die Barbaren von den verfeinerten Lebensformen der besiegten Kultur, wie Alphabetisierung und Kunst, angezogen, treiben diese Kultur zu einem Höhepunkt, wonach wieder eine Periode des Verfalls folgt, in der sie von den nächsten Barbaren besiegt werden und sich alles wiederholt.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Chaldun ein Modell oder Paradigma für historische Entwicklungen entworfen hat, das sowohl für die vormoderne Zeit als auch die Zeit der Moderne eine empirisch glaubwürdige Deutung anbietet, zumindest glaubwürdiger als jede andere - vor allem als die Marxsche. Die russische „proletarische“ Revolution bzw. der Kommunismus ist bekanntlich aus dem Zerfall und der Degeneration der zaristischen Ordnung hervorgegangen. Den Kommunismus zu besiegen war so lange unmöglich, bis er in sich zusammengebrochen und der Kapitalismus in Russland einfach nur einmarschiert ist. Es ist durchaus vorstellbar, dass die heutigen „Barbaren“ in den westlichen „Garten“ - der kein Garten mehr ist - auch einfach nur einmarschieren werden, da die westliche Oligarchenkaste aus Angst vor dem eigenen Volk dieses verkommen ließ. Nur in einer Hinsicht ist die Deutung der Geschichte von Chaldun nicht auf die heutige Zeit anwendbar und das ist für uns sehr wichtig.
Die Barbaren haben früher bei den zivilisierten Völkern nur materiellen Reichtum gesehen und begehrt. Nicht selten wollten sie nur rauben und sich zurückziehen - wie bei manchen Überfällen der Barbaren auf das antike Rom. Auf damalige Gegebenheiten bezogen, war dies eine zutreffende Annahme, heute hat sich daran einiges geändert. Wie schwer es auch für den kollektiven Westen zu verstehen und zu akzeptieren ist, der „Rest der Welt“ ist ihm überlegen, was natürliche, militärische, demographische, technologische und fast alle anderen Ressourcen betrifft. Gier alleine könnte also nicht ein ausreichender Grund sein, warum der globale Süden einen Krieg gegen den kollektiven Westen nicht wollen könnte. Er setzt sich heute sogar ein eigenes geopolitisches Ziel, nämlich eine multipolare Welt im Gleichgewicht. Ein solches Gleichgewicht im kalten Krieg hat damals den heißen Krieg verhindert. Was man natürlich nicht ausschließen kann, sind unvorhersehbare Katastrophen im globalen Süden, so dass die Menschen bzw. Völker dort aus Verzweiflung ganz böse sein könnten und den heutigen „Garten“ angreifen würden. Das vernachlässigen wir, da es eine Problematik ist, die sich streng wissenschaftlich nicht untersuchen lässt.
In der folgenden Untersuchung gehen wir also stillschweigend davon aus, dass sich wegen des geopolitischen Gleichgewichts der Kräfte die Geschichte nicht, wie bei Chaldun, als eine Wiederkehr desselben fortsetzen wird. In der vormodernen Zeit konnte dies gar nicht anders sein. Die damaligen Barbaren waren Jäger und Sammler, sowie nomadisch lebende Hirten- bzw. Reitervölker, die weit entfernt von den entwickelten Zivilisationen lebten und über diese kaum mehr Bescheid wussten, als dass dort die Menschen viel reicher als sie selbst sind. Als sie dann die höhere Zivilisation besetzt haben, konnten sie nur die alte Ordnung unter ihrer Herrschaft wiederherstellen. Wie bereits angedeutet, hat sich gerade das dank der neuen Informations- und Kommunikationstechniken verändert und hat die Kraft, den Verlauf der Geschichte zu ändern. Dank dieser Techniken können die nichtwestlichen Völker das Leben und die Ordnung des kollektiven Westens gut beobachten und sich Gedanken machen, was dort nicht richtig läuft und wie man das selbst ändern könnte, um das Leben bei sich zu verbessern, ohne Kriege und ohne Ausbeutung der anderen. Eine neue Epoche könnte geographisch außerhalb des Westens entstehen, was in der Geschichte üblich war, aber es muss nicht so sein. Wie seltsam es uns auch vorkommen mag, aber die kritische Einstellung des globalen Südens kann durchaus dem kollektiven Westen helfen, sich selbst besser zu erkennen. „Die eigenen Fehler erkennt man am besten mit den Augen anderer“ hat Konfuzius gesagt - hätte genauso auch von Smith stammen können. Würde der Westen dies berücksichtigen, könnte er seine geistigen Potenziale ausnutzen, sich aus seiner heutigen historischen Sackgasse zu befreien und einen Weg in eine neue Epoche herausfinden. Ob dies dem Westen gelingt oder es anderswo geschieht, lässt sich nicht wissenschaftlich vorhersagen, man kann einige Tendenzen erkennen, die es deutlich machen, dass die Moderne, wie wir sie kennen, keine Zukunft hat. Der Kommunismus, als eines seiner zwei zivilisatorischen Modelle ist untergegangen, das zweite, der real existierende Kapitalismus ist gerade dabei.
Für Menschen aus unterentwickelten Ländern, die im Westen angekommen sind, fiel es schon immer schnell ins Auge, dass man dort im Großen und Ganzen lebt um zu arbeiten. Heute braucht man nicht mehr selbst den Westen zu besuchen, das kann man dank der neuen Informations- und Kommunikationstechniken schon aus der Ferne erfahren. Des Weiteren merkt man, dass er die Güter, die sich der arbeitende Mensch im Westen leisten kann, hauptsächlich alleine konsumiert. Auch bei Massentreffen, wie etwa Fußball, Konzert oder Stadtfest, stehen zwar viele dicht nebeneinander aber ohne persönlichen Kontakt - sie sind auch hier nur einsame autonome Konsumenten (D. Riesman, Die einsame Masse, 1956). Der Mensch im Kapitalismus hat seit mehreren Generationen seine Existenz auf Arbeit und Konsum reduziert, alles andere erledigt er nur nebenbei. Das Soziale ist bei ihm auf ein Minimum reduziert und ist dementsprechend erschreckend verkümmert. Würde aber ein solches Leben den Menschen im Kapitalismus wirklich glücklich machen, würde er nicht nach Dopingmitteln und Opiaten greifen. Was im Kapitalismus von untergeordneter Bedeutung ist, hat in den vormodernen Gesellschaften gerade den größten Sinn und Wert, nämlich ein reiches und vielseitiges soziales Leben. In allen vorkapitalistischen Gesellschaften war der Mensch Vater, Mutter, Verwandter, Freund, Gatte, Gattin, Gast, Gastgeber usw. in sozusagen umfangreicher und vielseitiger Umgebung. Das soziale Wesen des vormodernen Menschen kommt insbesondere im Bedürfnis nach Feiern zum Ausdruck. Bei solchen Feiern ist nämlich jeder gleichzeitig Akteur und Zuschauer (Konsument). Erinnern wir uns daran, dass zum Beispiel „zu Beginn des 18–ten Jahrhunderts das Arbeitsjahr in den österreichischen Alpengebieten aus 161 Tagen bestand, die übrigen 204 Tage waren Feiertage“ (Cipolla: Bd. 2. 165). Beim Philosophen David Hume lesen wir, dass damals „in Irland, aufgrund der Größe und Fruchtbarkeit des Bodens und der geringen Bevölkerung alle Lebensnotwendigkeiten so billig sind, daß ein arbeitsamer Mann mit zwei Tagwerken genug verdienen kann, um sich für den Rest der Woche ernähren zu können“ (Politische und ökonomische Essays: 247). Es liegt in der menschlichen Natur, nicht zu leben um zu arbeiten, sondern zu arbeiten um zu leben.
Es ist schon hervorgehoben worden, dass die sogenannte individuelle Freiheit in den vormodernen Zivilisationen nicht zu den geschätzten Werten gehörte. Dagegen sprach schon die tägliche Erfahrung jedes Menschen, dass die individuelle Freiheit, also das zu tun und zu lassen, wie es einem gerade gefällt, ein süßes Gift ist. Solche Freiheit ist an sich das Gegenteil von Respekt, Rücksicht und Gesetz. Zur alltäglichen Erfahrung jedes Menschen gehörte ebenfalls, dass die wahrgenommene individuelle Freiheit gegen Verantwortung, Organisation und Leistung verstößt. Als sich die Beschäftigten in kommunistischen Wirtschaften immer mehr individuelle Freiheiten (selbst) genehmigt haben, sind diese Wirtschaften in Anarchie geraten und zusammengebrochen. Die kapitalistischen Unternehmen würden auch nie effizient arbeiten, wenn es dort irgendwelche individuellen Freiheiten und nicht eiserne Disziplin geben würde. Der „freie“ Bürger meint, für seine Unfreiheit am Arbeitsplatz erwerbe er die Freiheit beim Konsum. Aber wie viel Freiheit hat er denn dort? Alles, was der Konsument wählen kann, ist erschreckend konfektioniert, und auch dann, wenn sich ein „Lifestyle“ geändert hat, entscheiden darüber die Marketingabteilungen der Monopole, die Konsumgüter herstellen. Zum Beispiel ist es einmal modisch, breite Hosen zu tragen, ein andermal ziehen alle enge an oder, wie zuletzt, zerfetzte - was für ein ästhetischer Fortschritt! Womöglich werden Soziologen herausfinden und behaupten, dass sich die nicht funktionsfähige freie Marktwirtschaft ohne die Idee der Freiheit nicht retten ließe, man also der Idee der Freiheit schließlich gewisse historische Verdienste zuerkennen müsse. An sich war sie eine Kopfgeburt der nicht logisch denkenden Philosophen bzw. Metaphysiker - bei Kant lässt sich das „schön“ erkennen.
Indem die Menschen während der ganzen Geschichte die („Idee“) Gerechtigkeit insbesondere geschätzt haben, ist den heutigen Ideologen des Kapitalismus eingefallen, die Freihielt auch als ein sozusagen gerechtes Mittel gegen die „Diskriminierung der Minderheiten“ zu deuten. Gegen die Diskriminierung zu sein scheint jedem gerecht und human, solange man es abstrakt betrachtet, konkret kann sie absonderliche Formen annehmen, wie heute Genderismus und Transhumanismus. Würde es der Menschheit nicht gelingen, solche Projekte der globalen Oligarchenkaste zu verhindern, würden diese zweifellos zur Abschaffung der menschlichen Zivilisation führen. Entweder, indem sich die Menschen nicht mehr biologisch reproduzieren würden, oder der Mensch als Individuum wird zu einer Maschine werden. Ob eine Welt der Maschinen in sich zusammenbrechen oder zu einer Fortentwicklung fähig sein würde, die der biologischen Evolution ähnlich wäre, würde für uns Menschen unwichtig sein, weil es dann die Spezies Mensch schon nicht mehr geben wird. Den Menschen zu entbiologisieren muss schon jedem „einfachen“ Menschen mit dem gesunden Menschenverstand unverständlich und widerlich sein, im globalen Süden ruft das Herumbasteln am Menschen aber auch aus einem anderen Grund ein kaltes Grauen und schauriges Entsetzen hervor.
Allen großen Religionen ist gemein, dass sie Gott weit entfernt von den Menschen in den Himmel transzendiert haben. Der Grund dafür ist unschwer zu erkennen. Es gehörte zur ältesten Erfahrung der Menschen, dass die Mächtigen sich immer in ihrer Phantasie eingebildet haben, Götter zu sein - wie etwa im alten Ägypten. Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sich eigentlich auch so fühlten. Solche psychisch kranken Phantasien haben die Begründer der monotheistischen Religionen sehr zu Recht verboten. Man kann nicht sagen, dass die Ideologie der individuellen Freiheit als Ziel explizit einen gottähnlichen Menschen hat, aber sie verbietet es auch nicht. Indem „der Mensch zur Freiheit verurteilt ist“, so einer der berühmtesten und einflussreichsten Philosophen des vorigen Jahrhunderts, Jean-Paul Sartre (1905–1980), dürfte nichts der Auffassung widersprechen, dass „der Mensch im Grunde Begierde ist, Gott zu sein“. Sartre fand die Begierde Gott zu sein vielleicht auch deshalb für selbstverständlich, weil er nach der französischen Tradition der Salon-Philosophen seine Zeit mit anderen abgehobenen und hochtrabenden Intellektuellen, Literaten und Müßiggängern vergeudet hat. Bei den sogenannten einfachen Menschen hätte er die Begierde Gott zu sein kaum gefunden. Und gegenwärtig erweckt der Fortschritt der Naturwissenschaften bei den Reichen und Mächtigen im kollektiven Westen wieder einmal die Lust, aus dem Menschen einen „Homo Deus“ (Harari) zu erschaffen. Die Religion hat im säkular gewordenen Westen keine Macht mehr, den Angriff zu parieren. Ob Voltaire, der erklärte Fürst der Aufklärung und Gegner des Christentums, es geahnt hat, als er erklärte, wenn es keinen Gott gäbe, müsste man ihn erfinden? Ob er meinte, ohne die Furcht vor Gott würden sich die Stärkeren den anderen gegenüber wie der Fuchs im Hühnerstall benehmen?
Es ist interessant zu bemerken, welche „Diskriminierung von Minderheiten“ die heutigen Kämpfer für die individuelle Freiheit nie erwähnen und nie im Sinne haben. Dazu gehört als einzige und alleinige die soziale Ungleichheit. Das ist höchst erstaunlich und historisch betrachtet sogar einmalig. Nicht nur im Kommunismus, sondern davor auch in allen Religionen hat man ausgerechnet die soziale Ungleichheit als ein großes Problem betrachtet. Begründer von Religionen haben sich hierbei als beste Kenner - Soziologen, Anthropologen, Psychologen - des realen Lebens erwiesen. Je reicher ein Mensch ist, desto mehr reale Macht besitzt er in der Gesellschaft. Die ermöglicht ihm, nach Wunsch richtig unmoralisch und böse zu sein. Er selbst tut meistens nichts derartiges, das erledigen alles von ihm gekaufte Söldner, die für seine Unversehrtheit und die seines Vermögens sorgen, wie auch von ihm ebenfalls gekaufte und sich geistig prostituierende Söldner ihm die moralische Rechtfertigung für all seine Taten liefern. Es ist merkwürdig, wie die Ideologen des Kapitalismus nie müde werden, vor dem Missbrauch der Macht zu warnen, eine Gefahr, die sie an erster Stelle beim Staat, den Gewerkschaften und allen anderen sehen, nur nicht bei den Reichen. Verlogener und zynischer kann man kaum sein. Wen wundert es dann, wenn die von Klaus Schwab organisierte oligarchische Internationale in Davos uns „einfachen“ Menschen schon offen verkündet, dass wir nämlich „nichts besitzen und glücklich sein werden“. Also Freiheit statt Wohlstand - Mussolini lässt grüßen. Die religiösen Menschen waren zwar nie egalitaristisch, aber es war ihrem Gerechtigkeitsgefühl zuwider, wenn jemand eigenen Reichtum nicht als Gottes Gnade betrachtete, sondern als eigenen gerechten Verdienst. Und wie die Wirklichkeit ohne soziale Gerechtigkeit tatsächlich aussieht, sieht man heute schon auf den Straßen in Amerika.
Für eine sozusagen „humanere“ Verbreitung der „Demokratie und Menschenrechte“ hat der Westen in den letzten Jahrzehnten die sogenannten „Farbenrevolutionen“ organisiert. Sie sind aber im globalen Süden schon sehr in Verruf geraten. Die vom Westen zu Helden und Heiligen erklärten und finanzierten Kämpfer für „Freiheit und Demokratie“ haben sich sehr schnell als Menschen mit sehr zweifelhafter Moral erwiesen - diplomatisch ausgedrückt. Um das Versagen der neuen „Demokratien“ zu rechtfertigen, wird erzählt, die neuen Demokratien würden eben einige Zeit brauchen, um Demokratie zu lernen. Sollten sie aus den Erfahrungen der sogenannten entwickelten Demokratien lernen, würde man auf sehr seltsame Erscheinungen stoßen. Zum Beispiel hätten Multikulti, Genderismus und Transhumanismus nie als eine demokratische Bewegung von unten entstehen können. Sie sind offensichtlich ein ideologisches Projekt von denen, die wirklich die Macht in der kapitalistischen Gesellschaft besitzen, des „tiefen Staates“ wie man es heute nennt, also der Oligarchenkaste, die Politiker sind nur ihre Vollstrecker.
Und last but not least, lehnt der globale Süden die westliche kapitalistische Ordnung aus dem sozusagen „klassischen“ Grund ab: Der real existierende neoliberale Kapitalismus hätte nie entstehen und bis heute überleben können, wenn er seine Probleme nicht auf Kosten des „Rests“ der Welt gelöst hätte - rücksichtslos, brutal und blutig. Davon erfahren die Menschen im globalen Süden schon von ihren Vätern und Großvätern. Und dank der neuen Informations- und Kommunikationstechniken erfahren die Völker des globalen Südens, dass dasselbe wie sie auch viele andere Völker im Bezug auf den Westen kennengelernt haben und dass sich diese Praxis auch heute als angeblicher Kampf für „Demokartie und Menschenrechte“ weiter fortsetzt. Auch diesbezüglich erübrigt es sich, hier Beispiele dafür vorzulegen. Man kann einfach feststellen, dass sich der heutige kollektive Westen genauso verhält, wie sich alle früheren Imperien in der Zeit ihres historischen Untergangs verhalten haben. Unter andern auch das Imperium Romanum, was der bekannte Historiker Tacitus (* um 58, † um 120) in seiner berühmten Rede vor dem Senat mit folgenden Worten beschrieben hat: Dem römischen „Hochmut trachtet man vergeblich durch Gehorsam und Unterwürfigkeit zu entgehen. Als Räuber der Welt durchstöbern sie jetzt das Meer, nachdem ihnen, den Alleszerstörern, die Länder ausgegangen sind. Ist ihr Feind reich, so sind sie habgierig, ist er arm, sind sie unersättlich in ihrem Machtanspruch. … Verschleppung, Gemetzel und Raub benennen sie mit dem verlogenen Ausdruck Imperium, und wo sie eine Wüste schaffen, heißt das Frieden.“
Erwähnt wurden jetzt nur einige der wichtigsten Gründe, warum der „Rest“ der Welt die „Demokratie und Menschenrechte“ entschieden ablehnt. Im kollektiven Westen findet man das alles nicht der Rede wert, es wären ja nur unzufriedene „Massen“, die sonst nichts zu sagen hätten, aber vor allem ist man überzeugt, dass es heute in der Welt sowieso keine Alternative zum real existierenden Kapitalismus gibt (Thatcher). Das mag immer noch der Fall sein, aber geschichtlich betrachtet kann das nicht richtig sein. Die Geschichte hat immer eine Alternative gefunden. Betrachten wir als Beispiel das Entstehen der Moderne. Als ihren Beginn nimmt man üblicherweise das Ende des 19. Jahrhunderts an, als die Epoche der Aufklärung und des Rationalismus zu Ende gegangen ist. Seit dem Mittelalter sind dann aber schon mehrere Jahrhunderte vergangen. Man teilt diese Zeit sogar auf drei Epochen auf: Humanismus und Renaissance, Barock und abschließend Aufklärung und Rationalismus. Vielleicht würde man dazu bemerken, dass man historische Zeitabschnitte beliebig bestimmen kann, wenn aber diese Aufteilung nicht sinnvoll und berechtigt wäre, würde sie nicht von so vielen Historikern, Philosophen, Geistes- und Kulturwissenschaftlern geteilt. Auch manche Erklärungen dieser Reihenfolge gibt es, was wir jetzt nicht behandeln können. Für uns ist jetzt nur die Frage interessant, ob in dieser Zeit bestimmte geistige Prozesse von Bedeutung verlaufen sind. Könnte es etwa so gewesen sein, dass lange Zeit nichts passiert ist, und dann, am Ende der Aufklärung und des Rationalismus einigen Philosophen und Denkern ganz plötzlich und unerklärlich all das eingefallen ist, worauf die Moderne begonnen hat sich zu entwickeln? Der Schein spricht dafür, aber glaubhaft ist es nicht. Nach meiner Auffassung waren die Entdeckungen am Ende der Epoche Ergebnisse eines längeren geistigen Prozesses, der nach dem Mittelalter begonnen hat. Mit einer bekannten Erscheinung aus der Chemie könnte ich es veranschaulichen. Wird eine Substanz immer weiter in eine Flüssigkeit hinzugefügt, löst sie sich einfach auf; zuerst geschieht nichts und irgendwann, auf einmal, beginnt diese Substanz schöne Kristalle zu bilden. Ich bin also der Auffassung, dass die geistigen Grundlagen, die am Ende von Aufklärung und Rationalismus von einzelnen Denkern und Philosophen formuliert wurden, ein Ergebnis des geistigen Prozesses waren, der davor mehrere Jahrhunderte im Gange war. Nicht alle Menschen waren daran beteiligt, es war nicht die „Masse“, aber es war eine ausreichend große Minderheit und innerhalb dieser Minderheit hatten einige mehr Glück, auf richtige Gedanken und Ansätze zu kommen und Durchbrüche zu erzielen. Dasselbe ist uns aus den erfolgreichen Naturwissenschaften gut bekannt, wenn neue Paradigmen entstanden sind.
Bei Paradigmenwechsel hat sich auch noch etwas ergeben, dass nämlich ein neues Paradigma von Menschen entworfen wurde, die das alte Paradigma bestens gekannt haben. Indem die Moderne ein Produkt und Ergebnis der abendländischen Philosophen und Denker ist, könnte man einfach annehmen, ihre heutigen westlichen Nachfolger wären die kompetenteste Gruppe, die sich dem Entwurf des Paradigmas für die nächste Epoche widmen sollte. Bei Paradigmenwechseln haben wir aber auch festgestellt, dass sich eine viel größere Mehrheit der kompetenten Wissenschaftler kompromisslos gegen die „wissenschaftliche Revolution“ (Kuhn) gestellt hat. Die Naturwissenschaftler können genauso hartnäckig konservative Menschen sein wie alle anderen. Der Konservatismus und Dogmatismus bei den heutigen Philosophen und Geisteswissenschaftlern hatte aber immer nicht nur persönliche, sondern auch objektive Ursachen. Sie waren schon immer dem Druck der Ideologie ihrer Zeit ausgesetzt. Diese Lage der Philosophen und Sozialwissenschaftler haben die neuen Informations- und Kommunikationstechniken wesentlich verschlechtert. Mit ihnen lässt sich schnell und leicht die ideologische Einstellung jedes Einzelnen prüfen, und wenn er nicht loyal genug ist, kann man seine Karriere vernichten oder ihn sogar arbeitslos machen - ihn etwa zwingen als Taxifahrer sein Geld zu verdienen. Es ist bekannt, dass es in jeder Gesellschaft und Ordnung originelle und kreative Denker gab, die sich nicht materiell korrumpieren ließen, aber ihre Zahl war schon immer klein. Eine viel größere Gruppe sind diejenigen Geisteswissenschaftler, die sich in ihrer aktiven Lebenszeit dem ideologischen Druck gewissermaßen gebeugt und erst danach begonnen haben, ihre eigentlichen Auffassungen öffentlich zu vertreten. Mit ihnen kann man ernsthaft rechnen. Schon diese Lage ist in einigen Ländern des globalen Südens anders. An sich haben wir es hier mit keiner besonderen und seltsamen geschichtlichen Erscheinung zu tun.
Die Jahrhunderte der frühen Moderne, ihre drei Epochen, waren eine Zeit, als die Kirche ihre Macht, die geistigen Strömungen zu bestimmen, verlor und die neue Klasse der reich gewordenen Bürger eine solche Macht noch nicht erlangen konnte. In manchen Ländern des globalen Südens ist heute die Lage ähnlich. Es sind ärmere Gesellschaften, die wenig Mittel haben, ihre Philosophen und Geisteswissenschaftler zu korrumpieren, sind auch noch nicht politisch so verfestigt, um alles kontrollieren zu können - wie etwa in Russland. Dank der neuen Informations- und Kommunikationstechniken kann man sich in solchen Gesellschaften nicht nur über Ereignisse in der ganzen Welt informieren, sondern sich auch mit dem geistigen und kulturellen Erbe der westlichen Zivilisation einfacher und schneller bekanntmachen. Dazu hat auch viel die ökonomische Globalisierung beigetragen, da sich dank ihrer westliche Sprachen immer weiter verbreitet haben. Die Philosophen und Geisteswissenschaftler im globalen Süden haben also gute Möglichkeiten, die geistigen Grundlagen der westlichen Zivilisation kennenzulernen, wo sie kaum in Bezug auf ihre westlichen Kollegen benachteiligt sind. Sie haben aber auch Vorteile, die ihre westlichen Kollegen nicht haben.
Das betrifft insbesondere diejenigen in den Ländern, die einmal eine kommunistische bzw. sozialistische Gesellschaftsordnung aufgebaut haben. In diesen Gesellschaften hat man bekanntlich Bildung sehr gefordert und gefördert. „Lernen, lernen, nochmals lernen“, so Lenin damals. Was Philosophie und vor allem Geisteswissenschaften betrifft, hat man diese im marxistischen Sinne gestaltet. Gerade die so ausgebildete „Intelligenzija“ hat sich beim Zusammenbruch des Kommunismus am bittersten beklagt, ihr würde der Mund verboten. Danach hat sich jedoch herausgestellt, dass sie gar nichts zu sagen hatte. Sie hat dann nur das fortgesetzt zu tun, was sie auch früher getan hat, nämlich Ideologie zu predigen, aber nicht mehr im Dienste der Kommunisten, sondern des ehemaligen Klassenfeindes - er bezahlte sie viel besser. Auch wenn das langsam begonnen hat sich zu ändern. Archive der kommunistischen Zeit wurden geöffnet und man begann sie zu untersuchen - Russland ist ein gutes Beispiel dafür. Aus diesen Archiven ließ sich entnehmen, dass der Kommunismus weder das gewesen ist, als was er sich selbst propagierte, aber noch viel weniger so, wie er im Westen dargestellt wurde. Man hat endlich die richtigen Tatsachen kennengelernt, ohne die keine echte Wissenschaft möglich ist.
Dank der jetzt zugänglichen Archive ließ sich schnell feststellen, mit welcher Kaltschnäuzigkeit und welchem Zynismus die abstrusesten Lügen und Verleumdungen im Westen über den Kommunismus produziert und propagiert wurden. Das antikommunistische Narrativ ist im Westen hauptsächlich auf die Weise entstanden, dass man das nacherzählt hat, was die Geflüchteten erzählten. Diese wussten natürlich, dass, je schrecklicher ihre „persönliche Erfahrung“ klingen würde, sie desto mehr und bessere „Willkommensgeschenke“ im Westen erhalten könnten. Der raffinierteste von ihnen war Solschenizyn, der sich Erzählungen ausgedacht hat, wie Stalin fast eigenhändig bis zu 60 Millionen Menschen umgebracht habe – zusammen mit der Kriegszeit sollten es 110 Millionen sein. Dafür hat man Solschenizyn im Westen zur Lichtgestalt erhoben und ihn mit allen möglichen Auszeichnungen überschüttet. Aus den Archiven haben seriöse Historiker jedoch etwas anderes herausgefunden. In den Jahren der Stalinschen Herrschaft (1921-1953) sind nicht mehr als 800 Tausend zum Tode verurteilt worden, über 80% davon in den Jahren 1937-38. Und bei weitem nicht alle von ihnen waren politisch Verfolgte und nicht alle von ihnen wurden letzten Endes auch exekutiert. Aber sei es wie es sei, die Zahl der politischen Opfer entspricht etwa der Zahl der irakischen Kinder, die „heroisch“ ihr Leben für die westliche Demokratie geopfert haben (Albright). Und die Säuberungen waren nur eine von vielen Geschichtsfälschungen. Erwähnen wir noch die Stalinschen Lager. Das Leben im Lager kann nie gut sein, die Stalinschen Lager waren jedoch Arbeitslager, wo man Häftlinge zur Arbeit auch motivierte und sie auch bescheiden bezahlte. Als im Jahr 1996 in den USA mehr als 1,6 Millionen Menschen unter teils unmenschlichen Bedingungen inhaftiert waren, hat die gesamtgesellschaftliche Sträflingsquote diejenige der stalinistischen Sowjetunion zur Zeit des Gulag überschritten, stellte die liberale Wirtschaftswoche verwundert fest (Hand abhacken, Nr. 52, 1997). In einer Hinsicht war Solschenizyn ein wirkliches Genie. Um seine Leistung hätte ihn der legendäre Lügenbaron von Münchhausen richtig beneidet. Einen Aderlass am russischen Volke von historischen Ausmaßen hat nicht die Stalinsche Säuberung, sondern die Liberalisierung unter Jelzin angerichtet. Das durch sie verursachte demographische Loch ist ein nicht wegzuinterpretierendes empirisches Zeugnis dafür, Stalin hat kein demographisches Loch hinterlassen. Als er starb, war die Sowjetunion um 60 Millionen Bewohner größer, die nicht mehr überwiegend einfache Bauern, sondern Techniker, Ingenieure, Atomphysiker, Kosmonauten, Ärzte und vieles mehr waren.
Überraschend und erstaunlich dabei ist, wie viele sowjetische Bürger den im Westen produzierten Lügen selbst geglaubt haben. Vor allem war es die Folge der Zensur, so dass die Menschen selbst nichts überprüfen konnten und jeden Unsinn ernst genommen haben. Hier haben wir ein gutes Beispiel dafür, dass das Recht auf Information nicht nur ein abstrakter Wert ist, sondern langfristig dem gesellschaftlichen Leben schadet. Situativ betrachtet, dürfte die damalige Zensur sogar eine vernünftige Entscheidung gewesen sein. Da die Sowjetbürger auf Konsum verzichten mussten, um das Land zu industrialisieren und nach dem Weltkrieg wieder aufzubauen, hätte das Kennenlernen des Lebens im weit reicheren Westen sie demotivieren können. Was das damalige Leben betrifft, ist noch etwas weiteres angebracht zu erwähnen. Da die überwältigende Mehrheit der Menschen immer und überall entpolitisiert sind, hatten auch die Bürger in der Sowjetunion nicht das Gefühl, unfrei, kontrolliert und verfolgt zu sein. Nicht anders war es mit den Deutschen während der Nazizeit (Goldhagen 1996).
Aus den Archiven der damaligen Zeit hat sich auch ergeben, dass die sogenannte Säuberung ein Kampf innerhalb der Parteispitze war. Am heftigsten war dieser nach der Revolution, zwischen den marxistischen Talibans wie etwa Trotzky, denen nur eine proletarische Weltrevolution im Kopf spukte, und den Anhängern von Stalin, die zuerst in einem einzigen Land den Kommunismus aufbauen wollten. Es war ein großes Glück für Russland, dass sich Stalin durchgesetzt hat. Unter und dank ihm wurde Russland industrialisiert, was dem degenerierten russischen Zarismus davor nicht gelungen war. Ohne den politischen Sieg von Stalin, ohne seine gelungene Industrialisierung, hätte es dem vereinten Europa unter der Führung von Hitler gelungen, aus den Russen die neuen Indianer zu machen. Die unter Stalin geschaffene Industrie zu vernichten ist sogar den Liberalen der Jelzin Zeit nicht gelungen und dank ihrer gelingt es jetzt auch dem von den USA geführten Westen nicht, die Russen zu den nächsten Indianern zu machen. Kann man sich nicht gut vorstellen, dass die westliche Oligarchenkaste so einen Menschen wie Stalin nicht abgründig hassen sollte?
Das sind empirische Tatsachen, die sozusagen auf der Oberfläche liegen, die Aufgabe der Wissenschaft besteht aber darin, in einem sozusagen zweiten Schritt die Zusammenhänge unter dieser empirischen Oberfläche zu erklären. Die Stalinsche Industrialisierung war eine nachholende, nie ein Ergebnis der Effizienz der kommunistischen Wirtschaftsordnung. Stalin war ein hartgesottener Pragmatiker und nicht nur deshalb so erfolgreich. Er war belesen und gebildet wie kaum ein Regierungschef seiner Zeit und offensichtlich ein außerordentlich talentierter „Manager“ - wie man es heute ausdrücken würde. So ist es ihm während der großen Depression gelungen, eine Anzahl von technischen Spezialisten aus den USA in die Sowjetunion zu holen, wo sie für gute Bezahlung einige große Projekte der Industrialisierung ausgearbeitet haben. Die ersten zwei Fünfjahrespläne hießen „Technik löst alles“ bzw. „Kader lösen alles“. In der Tat waren technische „Spezialisten“ unter Stalin sehr privilegiert - sogar Dienerschaft haben sie bekommen, was das Proletariat damals nicht erfahren durfte. Auch so etwas wie kleinere und mittlere private Betriebe hat Stalin bei der Produktion der Konsumgüter erlaubt, die untereinander auch frei konkurrierten. Aber schon sein total unfähiger Apparatschik Chruschtschow hat all das verworfen, um angeblich die nächste „höhere“ Stufe zum Kommunismus einzuleiten. Seitdem begann die ökonomische Stagnation und schließlich der Untergang des Kommunismus. Die theoretischen Prinzipien der kommunistischen Wirtschaft, die sich in der Praxis als fatal erweisen mussten, habe ich im Kapitel 10.3 kurz dargelegt. Wie der schleichende ökonomische Verfall konkret aussah, habe ich anderswo näher untersucht. Aber um ein ziemlich klares Bild darüber zu bekommen, braucht man eigentlich nichts von Marxismus zu wissen. Dazu reicht es, die Kritik der Aktiengesellschaften von Smith zu lesen. Er hat das aus der menschlichen Natur hergeleitet.
Nebenbei bemerkt, aus historischen Untersuchungen beginnt man zu erkennen, dass dem großen Inquisitor Chruschtschow zumindest nicht weniger Blut an den Händen klebt als Stalin. Das ist für uns nicht so interessant, aber was die Opfer des Kommunismus im Allgemeinen anbelangt muss ich dennoch meine Meinung kurz hinzufügen. Hätte der Kommunismus ökonomisch nicht versagt, würde man heute kaum über seine Opfer reden. Diese waren unvergleichlich viel geringer als die Opfer des Kapitalismus, der wesentliche Unterschied liegt nur darin, dass für die Fehler und das Versagen des Kommunismus die eigenen Bürger zahlen mussten - wer sonst -, für das Versagen des Kapitalismus und insbesondere für seine Krisen jedoch die Menschen aus den Kolonien. Wie schmerzlich die Krisen für die Menschen im Kapitalismus auch waren, während des Aufschwungs konnte die kapitalistische Oligarchenkaste ihnen ein wenig von der Beute aus den Kolonien überlassen, deshalb hat die proletarische Revolution nie in den entwickelten kapitalistischen Ländern gesiegt, wie es Marx irrigerweise prophezeite. Heute leben wir in einer Zeit, wo sich der globale Süden immer weniger ausbeuten lässt, so dass vielleicht jetzt die Stunde der Wahrheit für den Kapitalismus schlägt. Wie bei den Epochenwenden üblich, kann diese Zeit auch sehr fatal sein. Der Kommunismus wird nicht zurückkommen, aber damit wir nicht wieder eine falsche Alternative zum Kapitalismus bekommen, sollte man sich vor allem über die falschen erkenntnistheoretischen Grundlagen des Kommunismus im Klaren sein.
Schon die Fünfjahrespläne offenbaren das prinzipielle Problem der Funktionsweise des Kommunismus. Diese Pläne wurden nach draußen als gut durchdachte, logisch aufeinander folgende Stufen zum Kommunismus präsentiert, aber das waren sie nicht einmal im entferntesten Sinne. Liest man Protokolle aus der sowjetischen Praxis, begreift man schnell, wie sie wirklich gewesen ist. Was in einem konkreten Fünfjahresplan stand, war die Auffassung einer Gruppe aus der Parteispitze, die sich davor im dialektischen Gequatsche durchgesetzt hatte, die Unterlegenen mussten sich aus „gesundheitlichen Gründen“ aus der Politik verabschieden, die Hartnäckigsten hat man zu Feinden des Kommunismus erklärt. Auch in den Sozialismen nicht sowjetischer Prägung - das beste Beispiel ist der jugoslawische - war es nicht anders. Warum konnte es prinzipiell nicht anders sein? Nach Marx sollte der „geistige Überbau“ spontan aus der „materiellen Basis“ herauswachsen, aber aus Nichts kam nur Nichts. Es ist möglich, dass Stalin dieses Problem geahnt hat, als er sagte: „Ohne Theorie sind wir tot, tot, tot!“ Gemeint hat er die Theorie der zukünftigen Gesellschaftsordnung. Als einem Revolutionär der ersten Stunde war es ihm unmöglich sich auch nur vorzustellen, Schuld daran wäre die Marxsche Philosophie. Diese dialektische Philosophie war nichts anderes als die frühere sterile und sinnlose mittelalterliche Scholastik, die Bacon als eine „Professorenweisheit“ (sapientia professoralis) anprangerte: „Worte müßiger Greise für unerfahrene Jünglinge. ... Zum Schwätzen bereit, aber zum Zeugen unfähig; denn ihre Weisheit ist zwar reich an Worten, aber arm an Werken.“
Prinzipiell betrachtet scheiterte die kommunistische Ordnung an der intuitiv-analogischen Denkweise der reduktionistischen Philosophie bzw. ihrer Erkenntnistheorie, aus genau demselben Grund, aus dem auch die kapitalistische Ordnung der neoliberalen Prägung gescheitert ist. Erfolgreich sind im Kapitalismus bis heute nur die Naturwissenschaften, die nach wie vor auf der systemisch-empirischen Erkenntnistheorie bzw. Wissenschaftsphilosophie beruhen. Diese Wissenschaften sind eine bewundernswerte, aber zugleich die einzige Errungenschaft des real existierenden Kapitalismus. Die Aufgabe der ganzen Menschheit ist es, einen Weg zu finden, auch die Geisteswissenschaften auf die systemisch-empirische Erkenntnistheorie bzw. Wissenschaftsphilosophie umzustellen - sie sozusagen zu zwingen, logisch streng zu denken. Vielleicht wird das Zeit brauchen. Wie schon bemerkt, auch unserer Epoche der Moderne sind drei Reifungsstufen vorausgegangen: Humanismus und Renaissance, Barock und schließlich Aufklärung und Rationalismus. Womöglich wird sich auch die nächste Epoche, für die man den Namen noch finden muss, nach drei Reifungsstufen herausbilden. Zwei hätten wir vielleicht sogar schon bewältigt: Kommunismus oder Sozialismus und Restauration oder Neoliberalismus, die dritte Stufe nennen wir vorläufig neue Aufklärung und Rationalismus. Der Sozialismus war eine spekulative und mystische Hoffnung, die aus metaphysischen und romantischen Phantasien über den Menschen entstanden ist, ähnlich wie damals in der Renaissance, als der Mensch zu einem „göttlichen Geschlecht in menschlicher Verkleidung“ (Ficino) erklärt wurde; während des Neoliberalismus ist das Pendel in die Gegenrichtung ausgeschlagen, hat sich also die Auffassung durchgesetzt, dass gerade schlechte Menschen eine gute Ordnung schaffen können; der neue Rationalismus soll wieder zurück zum Menschen „wie er wirklich ist“, indem auch in den Geisteswissenschaften ernsthafte logisch komplexe Denkweisen angewendet werden.
Abschließend soll auch noch ein Grund zumindest kurz erörtert werden, warum nicht alleine die Denkweisen und Denkmodelle der westlichen Moderne zur Herausbildung der paradigmatischen Grundlagen der nächsten Epoche wichtig sein müssten. Zum globalen Süden gehören nicht nur junge Völker, sondern auch solche mit einer Jahrtausende alten Zivilisation. In vielfacher Hinsicht ist hier China erwähnenswert und vor allem sein wichtigster Denker und Philosoph Konfuzius. Konfuzius bezeichnet man als Traditionalisten, aber das soll man nicht oberflächlich sehen, indem es ihm angeblich nur um den Erhalt der Rituale ging. Er hatte eine Auffassung über die Gesellschaft als ein Ganzes, also eine holistische Auffassung, wonach alle verschiedenen Teile zu einer Harmonie des Ganzen beitragen sollen, und zwar indem jeder Teil bestimmte Rechte und Pflichten hat. Als ein Schüler fragte, was Weisheit sei, antwortete Konfuzius: „Zu den Pflichten stehen, die man gegenüber dem Volke hat, die Geister verehren, aber nicht darin aufgehen – das kann man Weisheit nennen.“ Die Konzeption von Rechten und Pflichten ist nicht nur mit der frühmodernen und frühliberalen konsequentialistischen Ethik vereinbar, sondern auch mit der Auffassung vom Gleichgewicht der Macht. Als Beispiel fällt uns hier sofort die Auffassung von der Rolle des Privatkapitals bei Adam Smith ein, das nach ihm nichts mit irgendeiner Leistung zu tun hätte, sondern lediglich eine Lösung der Frage wäre, wie man Menschen zur Verantwortung zwingt und verpflichtet.
Eine richtige Ordnung wäre nach Konfuzius eine hierarchische, aber in ihr ist auch der oberste Herrscher nur eine Instanz, die ganz klare Pflichten hat. Das wäre nicht die Ordnung, die wir als aufgeklärten Absolutismus kennen. Nicht irgendeine abstrakte Klugheit soll die erste Tugend des Herrschers sein, sondern dass er dem Volke als Beispiel dienen soll. Der chinesische Kaiser hielt sich für einen Sohn des Himmels. Das ist durchaus vergleichbar mit Jesus, der sich auch nur für einen Sohn Gottes hielt, im praktischen Auftrag, ein Vorbild für die Menschen zu sein. Diese Auffassung von der guten Ordnung ist eine völlig andere, als etwa die von Sokrates. Dieser erklärte, die Philosophen wären durch den Besitz gewisser Worte („Ideen“) zur höchsten Instanz der Wahrheit gelangt, was sie dafür prädestiniere, über alle anderen totalitär zu herrschen. Man kann sich gut vorstellen, dass die Bürger in der demokratischen athenischen Ordnung davon gar nichts hören wollten. War Sokrates deswegen auf eine vorbildlich demokratische Weise zum Tode verurteilt? Soviel gilt als sicher, dass Sokrates den Putsch der „Dreißig Tyrannen“ gegen die athenische Demokratie (404 v. Ch.) wohlbehalten überlebt hat, was zu seinem späteren Todesurteil beigetragen hat. Diese Tyrannis der dreißig Oligarchen hat nämlich in wenigen Monaten 5% der athenischen Bevölkerung getötet – einfach ohne gerichtliche Entscheidungen. Einer von diesen Oligarchen, Caritas, ein ehemaliger Schüler von Sokrates, wird von den Historikern wegen seiner besonderen Grausamkeit und Unmenschlichkeit auch als „der erste Robespierre“ beschrieben. Nebenbei bemerkt, dem verurteilten Sokrates wurde vielleicht mit Absicht ermöglicht, aus der Haft zu flüchten, hat diese Möglichkeit aber deshalb nicht ergriffen, weil ihm klar gewesen ist, dass keine der vielen griechischen Stadtstaaten einen solchen machtbesessenen Besserwisser und eingebildeten Bessermenschen bei sich haben wollte. Außerdem hat Sokrates den herrschenden Eliten des „idealen Staats“ auch „nützliche Lügen“ großzügig genehmigt. Eigentlich sollte es einem zumindest peinlich sein, wenn die westliche Kultur einen solchen Narziss für ihren geistigen Vater hält.
Konfuzius hätte mit den abendländischen Philosophen wie Aristoteles, Bacon, Spinoza, Hume, Smith einiges besprechen können, mit vielen anderen jedoch kaum etwas. Über das abstrakte Gute oder das abstrakte Individuum, über das Wesen und die Ursprünge des Seins, über das Jenseits, über die Freiheit und individuelle Freiheit usw. nachzugrübeln wäre Konfuzius völlig nutzlos erschienen. Auf die Frage über das Leben nach dem Tode hat Konfuzius geantwortet, dass er noch zu wenig über das Leben im Diesseits wüsste, um sich mit dem jenseitigen zu befassen. Philosophen wie Sokrates, Platon, Kant, Hegel und ihre Nachfolger wären für ihn nur anmaßende und realitätsfremde verbale Jongleure gewesen, mit denen er nichts Sinnvolles und Vernünftiges hätte besprechen können. Hier ist jedoch nicht die Stelle, die Konfuzianische Philosophie näher zu erörtern, damit aber nicht ein falscher Eindruck entsteht, soll etwas zumindest angedeutet werden. Auch wenn nur im entfernten Sinne, so hat die Philosophie von Konfuzius mit der metaphysischen kontinentaleuropäischen doch etwas gemeinsam. In ihr gibt es keine Ansätze für eine wissenschaftliche Denkweise, aus ihr hätten sich also auch keine Wissenschaften im modernen europäischen Sinne entwickeln können.
Die Chinesen merken selbst, dass der Konfuzianismus nicht analytisch war, und es wäre unvorstellbar, dass sich seine Lehre zu etwas wie einer „mathematischen Naturphilosophie“ hätte entwickeln können, die der Weg zu den modernen Naturwissenschaften gewesen wäre. Das betrifft alle anderen Denker und Philosophen der alten großen Zivilisationen. Trotzdem soll man nicht ausschließen, dass sich aus diesem reichen geistigen Erbe gewisse nützliche Ratschläge für die Zukunft entnehmen lassen können. Immerhin hat die von Konfuzius entworfene Philosophie der Ordnung China und einigen Nachbarländern eine erfolgreiche Existenz und Fortschritt über zwei Jahrtausende hinweg gebracht. Die Ordnung der sokratischen „Eliten“, die meinen sich alles selbst verdient zu haben und niemandem etwas zu schulden, sieht in seiner kapitalistischen Version schon nach zwei Jahrhunderten nur noch bedauernswert aus. Es wird immer offensichtlicher, dass „der Liberalismus gescheitert ist, weil er gesiegt hat. … Der Liberalismus hat brutal das Reservoir der materiellen produktiven und moralischen Ressourcen ausgeschöpft und ist nicht mehr imstande sie zu füllen.“ (Patrick J. Deneen Why Liberalism Failed). Und was insbesondere schmerzt, ist die Erkenntnis, dass diesem Versagen historisch einmalige Erfolge der menschlichen Ratio und des Geistes vorausgegangen sind. „Was der reiche Westen heute feiert, ist der offizielle Tod seiner eigenen Vergangenheit. ... Die Vergangenheit ist mit Schmach und Schande ins Grab gesunken“ (Bauman: 214).