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  Fünf Thesen gegen den ideologischen Betrug genannt „individuelle Freiheit“ (4,5)
 
 
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• 4: Freiheit als dekadenter Missbrauch des wissenschaftlichen Fortschritts durch die Reichen

Der amerikanische Ökonom und Soziologie Thorstein Veblen (1857-1929) stellt in seiner Untersuchung des Lebensstils der „feinen Leute“ fest, dass sie es schon immer und überall  für selbstverständlich hielten, dass „ein Leben der Muße an sich und in seinen Folgen schön und denjenigen adelt, der es lebt. ... Die Kriterien einer müßig verbrachten Zeit sind daher im allgemeinen nicht-materielle Güter ... zum Beispiel quasi-gelehrte und quasi-künstlerische Werke sowie die Kenntnis von Erscheinungen und Vorfällen, die nicht unmittelbar zur Förderung des Lebens beitragen. Dazu gehören unter anderen in unseren Tagen die Kenntnis toter Sprachen oder der okkulten Wissenschaften, eine fehlerfreie Orthographie, die Beherrschung von Grammatik und Versmaßen, die Hausmusik und andere häusliche Künste, Mode, Möbel und Reisen, Spiele, Sport, Hunde- und Pferdezucht“ (1986: 53, 59). In der Tat können die Reichen ihre selbstwahrgenommene Besonderheit nur auf eine Art öffentlich zur Schau stellen, indem sie ihrem „Geist“ besondere ästhetische und spirituelle Qualitäten und Höhen zugeschrieben haben, die dem gemeinen Menschen angeblich unerreichbar seien. In den Bereichen der geistigen Tätigkeit, in denen logisches Denken zum Ausdruck kommt, also in den exakten Wissenschaften und in der Mathematik, ließ sich die Besonderheit des Geistes der Reichen bekanntlich nie merken, und das hat sich bis heute nicht ein Bisschen geändert. Mit dieser geistigen Fähigkeit wird man auch im real existierenden Kapitalismus, in dem angeblich nach der Leistung belohnt wird, nicht reich. Die so einzige einigermaßen üppige Belohnung für Mathematiker und Naturwissenschaftler ist bis heute der Nobelpreis, der kaum für Taschengeld bei denjenigen, die mit den Weltmonopolen und auf den Börsen immer wieder ganze Wirtschaftszweige und Volkswirtschaften ruinieren, reichen würde. Es war in der ganzen Geschichte so, dass sich die Reichen nur ästhetisch und spirituell definiert und legitimiert haben, nur die Formen haben sich immer wieder geändert, als modische Trends. Als am Anfang der Moderne Aberglaube, Okkultismus und Religion in Verruf geraten sind und die Reichen ihre vormodernen geistigen und moralischen Stützen in der Ästhetik und Spiritualität zu verlieren begannen, wurden sie von bei ihnen prostituierten Philosophen mit „Ideen der Vernunft“, vor allem der Idee der Freiheit gerettet. Unter dem Schutz der Idee der Freiheit ist der Reiche wieder von jeder Verpflichtung zum logischen Denken und zur Achtung der empirischen Tatsachen freigesprochen. Heute sind wir dort, wo dieser Weg zwangsläufig hinführen musste: in der Epoche der Postmoderne.

Den Begriff Postmoderne benutzte man zuerst bei den bildenden Künsten, die den Bezug zur Realität verloren haben. So wird etwa eine Leinwand einfach mit Farben bekleckert und beschmiert und es wird erklärt, dass dies einen übernatürlichen ästhetischen Sinn in sich trägt, was in den hohen Preisen solcher „Kunstwerke“ zum Ausdruck käme. Der Reiche zahlt ihn gern, da er sich einbildet zu den ganz seltenen Menschen zu gehören, die diesen Sinn mit ihren „inneren Augen“ wahrnehmen können – so würde es Platon ausdrücken. An sich sind solche Künste nichts anderes und nichts mehr als nur eine teure Art von Exzentrismus und Exhibitionismus, die sich die Reichen und Reichsten leisten können - als „demonstrativer Konsum und demonstrativer Müßiggang“ (Veblen). Das könnte man noch mit einem müden Lächeln ignorieren, aber es ist nicht dabei geblieben. Seit ein paar Jahrzehnten begann diese realitätsferne l’art pour l’art hinter der Maske der individuellen Freiheit die Philosophie zu durchdringen, die sich selbst postmodern benannt hat. Mit dieser “modernisierten” Philosophie lässt sich nicht nur die Erfolglosigkeit der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften gut rechtfertigen, sondern sie ebnet ganz allgemein den Weg zurück in Aberglaube und Mystizismus.

Man kann natürlich nicht deswegen etwas gegen Kreativität, Phantasie und Spekulation haben, weil ihr praktischer Nutzen „nur“ darin besteht, dass sie jemandem Vergnügen bereiten. Alles spricht dafür, dass dies sogar auch mit der Fähigkeit zu logischem Denken verknüpft ist. Spekulieren ist eine einzigartige menschliche Fähigkeit, die aber nur zusammen mit einer anderen Fähigkeit eine besondere Errungenschaft der Evolution ist, die den Menschen so erfolgreich macht. Dies ist die Fähigkeit Phantasie und Wirklichkeit voneinander zu trennen und zu unterscheiden. Letztlich bildet diese Fähigkeit das, was man Bewusstsein nennt. Als das wahrscheinlich jüngste Ergebnis der menschlichen Evolution funktioniert das Bewusstsein aber nicht fehlerfrei. Schlimm genug ist es schon, dass Menschen geradezu unbekümmert dazu neigen, einer Phantasie anzuhängen und sich von der Realität abzukoppeln, ohne sich dessen bewusst zu sein. Noch viel schlimmer ist es, wenn auch noch versucht wird, die eigene Phantasie der Realität aufzuzwingen. Das führt regelmäßig zu der Einbildung, ein höheres Wesen zu sein - zum Größenwahn. Insbesondere Personen in mächtigen Positionen konnten dann schnell sehr großen Schaden anrichten. Beispiele dafür aus der sogenannten zivilisierten Epoche der Menschheit lassen sich sich schnell finden. So haben sich die Mächtigen und die Reichen oft zu Göttern erklärt, wie etwa im alten Ägypten. Solche kranken Phantasien haben die monotheistischen Religionen verboten, was damals ein zivilisatorischer Fortschritt war, auch wenn ein sehr bescheidener. Die Kirchen haben sich bekanntlich schnell einverstanden erklärt, weltliche Herrscher als Vertreter Gottes auf Erden anzuerkennen, so dass sich dadurch am Verhalten von Mächtigen und Reichen nicht viel geändert hat. Nachdem die Moderne die Religionen als Quelle der Legitimation nicht mehr anerkannte, hat Ideologie der Freiheit solchen kranken Phantasien wieder den Weg in die praktische Umsetzung frei gemacht. Indem „der Mensch zur Freiheit verurteilt ist“, so einer der berühmtesten und einflussreichsten Philosophien der vorigen Jahrhunderts, Jean-Paul Sartre (1905–1980), dürfte nichts der Auffassung widersprechen, dass „der Mensch im Grunde Begierde ist, Gott zu sein“. Sartre fand die Begierde Gott zu sein vielleicht auch deshalb für selbstverständlich, weil er sich nach der französischen Tradition der Salon-Philosophen mit anderen abgehobenen und hochtrabenden Intellektuellen, Literaten und Müßiggängern am Hofe des Establishment ausgetauscht hat. Bei den so genannten einfachen Menschen hätte er die Begierde Gott zu sein kaum gefunden.

Solange die Macht der Menschheit über die Natur bescheiden war, konnte die Neigung der reichen und mächtigen Spinner und Psychopathen, sich für etwas Besonderes und Übernatürliches zu halten, zwar viel Leid und Schaden bringen, jedoch kein Risiko für das Überleben der Spezies Mensch sein. Aber das haben die Fortschritte in der Medizin und Genetik geändert. Vielleicht sind nicht alle Reichen und Mächtigen von der Begierde Gott zu sein erfasst, aber es lässt sich nicht selten festzustellen, dass sie sich zu oft dazu berufen fühlen, sich zu den Herren der Schöpfung aufzuschwingen. Die rassistischen und sozialdarwinistischen Ideen, die Evolution in die eigenen Hände zu nehmen, kennen wir aus der Geschichte zur genüge und sie hatten in der Praxis immer katastrophale Folgen. Die jüngsten wissenschaftlichen Fortschritte - in der Humangenetik insbesondere – geben den Reichen und Mächtigen dazu wieder Anlass, einen neuen Versuch zur Vervollkommnung des Menschen zu unternehmen. Denken wir kurz darüber nach, welche Folgen es haben kann.

Der Weg von wissenschaftlichen Theorien zu einer erfolgreichen praktischen Anwendung braucht normalerweise viele Experimente. In der Medizin nutzt man seit langem Tierversuche, aber leztlich kann sich die Wirkung auf den Menschen nur durch Anwendung auf den Menschen zeigen. Schon deshalb propagiert man, dass sich Menschen aus dem gemeinen Volk freiwillig als Versuchskaninchen melden sollen. Ebenfalls diesem Zweck dienen die vielen westlichen Biolaboratorien in den ärmeren Ländern, wo man sich Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutz sowie anderen teuren Firlefanz erspart.

Da selektive Zucht seit Jahrtausenden und seit einigen Jahrzehnten auch Gentechnik auf Pflanzen und Tieren angewandt wird, wissen wir heute einiges über ihre Ergebnisse. Mit einer bestimmten Zielsetzung gezüchtete Tiere und Pflanzen können hohe Leistungen erbringen - Kühe die viel Milch geben, Pflanzen die ertragreich und resistent gegen die wichtigsten Schädlinge sind usw. Der Zweck der ganzen Zuchtarbeit und der Nutzen für den Menschen ist hier ganz handfest: Eine bessere und sicherere Versorgung mit Lebensmitteln und anderen grundlegenden Produkten. In freier Natur würden diese Klonen jedoch nicht überleben. Sogar vermehren können sie sich dort nicht - wie wir es von den Hybriden im Landwirtschaft schon längst kennen. Aber nehmen wir einfach an, die wissenschaftlichen Fortschritte würden all diese Problem lösen und auch keine neue würden auftauchen. Durch den wissenschaftlichen Fortschritt würde es also möglich sein, die Leistungsfähigkeit der Menschen in allen Bereichen enorm zu steigern. Dann stoßen wir sehr schnell auf die Frage: Was würde dies der Spezies Mensch, und zwar nicht abstrakt philosophisch, sondern konkret praktisch betrachtet überhaupt bringen?

Stellen wir uns konkret vor, der Humangenetik würde es gelingen, dass jeder Mensch viel schneller als heutige Weltmeister laufen könnte, Gedächtnis und Intelligenz würden sich verdoppeln, das Einmaleins könnte jeder nicht bis 100 sondern bis 1000 mühelos im Kopf rechnen können, jeder würde auf dem geistigen Niveau von Goethe sein - so wie es der eigentliche Organisator der Oktoberrevolution Leo Trotzki für den Bürger im Kommunismus prophezeite - usw. Würden sich die Menschen damit besser fühlen oder glücklicher sein? Mir fehlen ernstzunehmende Gründe das zu glauben und ich kenne auch niemanden, der hier Überlegenswertes vorgelegt hätte.

Aber nicht nur die Genetik wird erwähnt wenn es darum geht, die menschliche Speziel zu “verbessern”. In letzter Zeit wird viel von der so genannten „künstlichen Intelligenz“ (KI) gesprochen. Man könnte sich in nicht allzu ferner Zukunft z. B. mit einer KI-Protese aufrüsten und die Leistungsfähigkeit des eigenen Gehirns wesentlich steigern. Einige sprechen schon von der Umwandlung des homo sapiens in den homo deus, der sich von uns „viel mehr unterscheiden wird als wir von den Neandertalern oder Schimpansen“ wie unter anderem Yuval Harari prophezeit. Wenn aber diese Transhumanisten zu erklären versuchen, woran sich diese behaupteten „göttlichen“ Fähigkeiten des neuen Maschinen-Menschen konkret erkennen lassen, wird es skurril und peinlich ihnen zuzuhören. Ihnen fällt etwa ein: Mit der KI-Gehirnprothese würden zwei Menschen beim ersten Treffen, also auf den ersten Blick, ganz genau wissen, ob sie sich gegenseitig sexuell attraktiv finden. Oder man würde sofort herausfinden, welches Buch man am liebsten lesen würde. Schade, dass uns diese Phantasten nicht verraten, ob diese Gehirnprothese dem Menschen auch den Wunsch Bücher überhaupt zu lesen beibringt. Sonst würde man im real existierenden Kapitalismus bestenfalls mit ausuferndem technischem Aufwand bei der Auswahl helfen, welche Pizza oder Hamburger einem am besten schmecken wird und welche fiktionale Serie man sich danach bei einem Streaminganbieter ansehen soll. Sehr merkwürdig kommt dabei, dass die Protagonisten dieser neuen kapitalistischen Utopie auch überzeugte Bewunderer der individuellen Freiheit sind. Der Mensch, der mit der KI Prothese auf dem Kopf einer deterministisch funktionierenden Maschine ausgeliefert ist, soll ein noch freieres Individuum als bisher sein. Voilà! Uns bleibt zu hoffen, dass die KI schlau genug sein wird, den transhumanistischen Phantasten bei der Wahl des richtigen Buches den Roman Frankenstein von Mary Shelley vorzuschlagen.

Es gab aber schon früher Philosophen, die sich Gedanken über die Verbesserung bzw. Überwindung des Menschen gemacht haben. Es hat seine Berechtigung, dass unter diesen Philosophien Nietzsche an erster Stelle steht. Für den von ihm prophezeiten neuen Menschen, er nennt ihn „Übermensch“, soll der heutige Mensch nur „ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham“ sein, wie der Affe dem heutigen Menschen gegenüber - der oben zitierte Harari hat nur Wort Affe mit Schimpansen ersetzt. Wie spannend sich die Bücher von Nietzsche auch lesen, so hilflos und ratlos fühlt man sich, wenn man diese aus der Hand legt. So hoffnungsvoll und großartig das Wort Übermensch auch klingt, über seinen Sinn erfährt man von Nietzsche nicht ein Bisschen. Wenn der Rausch der Worte abgeklungen ist - mit denen Nietzsche wirklich fast übermenschlich geschickt hantiert -, bleibt von seinem Übermenschen nichts mehr übrig als der „Wille zur Macht“ oder wie ich es oben beschrieben habe der blutrünstige Fuchs im Hühnerstall. Die Nazis haben Nietzsche da gar nicht falsch ausgelegt.

Über einen besseren Menschen hat man wahrscheinlich schon seit ältesten Zeiten nachgedacht. Für Platon war außer der Steigerung der Denkfähigkeiten fast nichts Anderes erwähnenswert. Seinem berühmtesten Schüler Aristoteles ist es gelungen aus der geistigen bzw. metaphysischen Provinz der Vernunft auszubrechen, so dass er wie kein anderer einen Gedanken vorweggenommen hat, der erst in der Frühmoderne weiterentwickelt wurde, nämlich statt der Verbesserung die Vervollkommnung des Menschen anzustreben. Der Mensch ist für Aristoteles nämlich auch und gerade durch seine biologische Natur wesentlich bestimmt. Ziel und Zweck seiner Existenz werden nicht von außen an den Menschen herangebracht, sondern er trägt sie ursprünglich in sich selber, und zwar indem er danach strebt, sich selbst im ganzen Umfang eigener Möglichkeiten zu verwirklichen, vor allem indem er die Besten der eigenen Art nachahmt. Mit dieser Auffassung des „wahren Guten“ kann Aristoteles als Ahnherr des humanistischen Gedankens „werde, was du bist“ angesehen werden. Unter den frühmodernen Denkern und Philosophen hat Spinoza diesen Gedanken wie folgt formuliert: „Wenn ich sage, jemand gehe von geringerer zu größerer Vollkommenheit über und umgekehrt, ich darunter nicht verstehe, daß er aus einem Wesen oder aus einer Form in eine andere verwandelt wird (denn ein Pferd z.B. wird ebensowohl vernichtet, wenn es in einen Menschen, als wenn es in ein Insekt verwandelt wird), sondern vielmehr, daß wir sein Tätigkeitsvermögen, insofern es aus seiner eigenen Natur erkannt wird, als vermehrt begreifen“ (Die Ethik: Teil IV, Vorwort). Seinem Beispiel mit dem Pferd folgend könnte Spinoza also sagen, dass auch der Mensch ebensowohl vernichtet wäre, wenn er in Gott als auch in ein Pferd verwandelt würde. Dieser Auffassung folgend kann man für den wissenschaftlichen Fortschritt sagen, dass seine Aufgabe darin besteht den biologischen Körper des Menschen im guten Zustand zu halten und es jedem zu ermöglichen sich dort auszuleben, wohin seine individuellen Fähigkeiten und Neigungen führen. Solche Menschen werden natürlich nicht alle das Gleiche tun. Gleichheit als Uniformität ist nach Aristoteles nicht erstrebenswert. Es geht um die Möglichkeit jedes Einzelnen, die eigene Talente zu affirmieren. Der Psychiater Abraham Maslow hat gezeigt, daß bei einem psychisch reifem und gesundem Menschen, nachdem er seine Grundbedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Sicherheit befriedigt hat, gerade das Bedürfnis nach „Selbstverwirklichung“ am stärksten wirkt, also im Endergebnis alles, was zu seiner individuellen Natur gehört völlig zur Entfaltung zu bringen. Nebenbei bemerkt, all diesen Denkern und Philosophen ist gemein, dass ihnen nichts ferner liegt als Konkurrenz, Siege und Machtstreben zur menschlichen Bestimmung zu erklären, also genau das, was in der Ideologie der Freiheit des real existierenden Kapitalismus ganz oben steht.

Dass „ein glücklicher Mensch sowohl physische als auch äußere Güter braucht“, ist für Aristoteles selbstverständlich. Man könnte das heute als Wohlstand für alle bezeichnen. Es stimmt auch, dass der Mensch nicht sehr viele solche Güter braucht, um sich durch die ihm eigenen Fähigkeiten zu verwirklichen. Das Leben bietet dafür nämlich unzählige geistige und körperliche Möglichkeiten. Viel und immer mehr materielle Mittel braucht man nur dann, wenn man durch „demonstrativen Konsum und demonstrativen Müßiggang“ versucht Neid, Eifersucht und Argwohn hervorzurufen, also letztlich die Selbstverwirklichung nur vortäuscht. Deshalb finden wir keine großen Geister in den Zivilisationen, die materiell nicht relativ bescheiden lebten, also den vornehmlichen Sinn der materiellen Güter darin sahen, die biologischen Bedürfnisse des Körpers zu befriedigen. Zivilisationen, die einem übersteigertem Konsum als höchstem Ideal huldigen - und auch noch nur für die angeblich „Besten“ und die „Leistungsträger“ - ist einfach gesagt nur dekadent.

Es gibt aber etwas anderes, was die Selbstverwirklichung viel mehr behindert, als nicht ausreichende Mengen von materiellen Gütern. Das sind Schwächen und Behinderungen des Einzelnen, also das, was unter dem menschlichen Durchschnitt liegt. Betroffene halten sich oft für inferior und leiden darunter. Übrigens hat Aristoteles auch das klar erkannt. Solche Leiden sind einerseits deshalb groß, weil der Mensch seine Schwächen viel intensiver fühlt als seine Stärken und andererseits, weil der Mensch ein Ganzes ist, nicht eine Summe der Teile, und so einer Kette ähnlich, die bekanntlich nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Hier könnte die weitere Entwicklung der Medizin, vor allem durch ihre Fortschritte in der Humangenetik, für eine humanere und glückliche Zukunft der Menschheit durchaus das leisten, was früher nicht möglich bzw. nicht einmal vorstellbar war. Sie kann Menschen ermöglichen, dass sie sich nach dem menschlichen Maß gleichwertig fühlen. Man kann es auch so formulieren: Hier ergeben sich Möglichkeiten der Menschheit sich auf eine sinnvolle Weise eugenisch fortzuentwickeln.

Abschließend ist es angebracht, auch etwas über die Leute zu sagen, die die individuelle Freiheit so bewundern und vergöttern. Es sind diejenigen, die Reichtum bzw. Kapital selbst besitzen oder dieses als Manager, Bankiers und Börsianer verwalten und dadurch sehr viel Geld verdienen. Diesen Menschen würde nie in den Sinn kommen, in ihren Organisationen so etwas wie individuelle Freiheit zu fordern, im Gegenteil. Für sie ist alles, was nicht strengster Disziplin und Unterordnung entspricht, ein größtmöglicher Unsinn, der direkt in die Katastrophe führt. Auf den Punkt gebracht: Die Verfechter der individuellen Freiheit sind Menschen, die wie Kant schwafeln und wie Stirner denken.

• 5: Freiheit als ideologischer Angriff auf logisches Denken und moderne Wissenschaften

In der Vorstellung davon und Auffassung darüber, was wissenschaftliche Erkenntnisse sind, hat sich auch in den Naturwissenschaften im Laufe der Zeit einiges geändert, aber eins nicht: In den Methoden, die von den Wissenschaften bei der Suche nach Wissen und Wahrheit benutzt werden, hatte so etwas wie Freiheit keinen Platz und wird ihn auch nie haben. Auch die Begriffe, die von der klassischen Mechanik abgelehnt worden sind und erst später in die Physik übernommen wurden, wie etwa Wahrscheinlichkeit und Unbestimmtheit, haben mit der Freiheit prinzipiell betrachtet nichts zu tun. Der Grund, warum die seriösen Wissenschaften mit der Freiheit nichts anfangen können, sind einfach und einleuchtend. Nur weil formale Zusammenhänge in den wissenschaftlichen Theorien und Modellen notwendigerweise so sind wie sie sind, also logisch konsistent und kohärent sind, ist es überhaupt möglich Vorhersagen zu verkünden und Handlungen vorzuschlagen, die sich danach (ex post) durch empirische Tatsachen zwangsweise bestätigen (verifizieren) oder nicht bestätigen. Da können also keine Schwärme von schwarzen Schwänen frei herumfliegen, wie es zu dem prägenden Merkmal der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften unserer Zeit gehört. Wenn eine Theorie oder Modell die Fähigkeit etwas logisch eindeutig als falsch und richtig zu erwiesen nicht besitzt, kann von Wissenschaftlichkeit keine Rede sein.

Gerade weil am Anfang der Moderne in den Sozialwissenschaften die Freiheit noch kein Begriff, Prinzip oder Idee war, mit dem man etwas anfangen konnte, waren auch diese Wissenschaften damals erfolgreich, danach aber nicht mehr. Dort wo Menschen im Kapitalismus weniger litten hatte es bisher immer damit zu tun, dass sie ihre biologischen Bedürfnisse besser befriedigen können, durch mehr Güter, Gesundheit und Freizeit. Das alles sind Ergebnisse der Naturwissenschaften, in denen es keinen Begriff gibt, der auch nur im Entferntesten mit der Freiheit korrespondieren würde. Als in den Geisteswissenschaften nach der reduktionistischen Wende unklare und unlogische Zusammenhänge in den Theorien und Modellen in Form der Freiheit einen Platz bekommen haben, ist das Niveau der logischen Komplexität auf die reine Analogie zurückgefallen und diese Wissenschaften sind nur noch Schatten dessen geworden, was sie am Anfang der Moderne waren. Im Folgenden soll genauer erörtert werden, warum die Analogie als logische Denkweise unfähig ist, Grundlagen für eine ernsthafte Wissenschaftsphilosophie zu bieten. Sogar wenn die modernen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften nicht die Freiheit zu ihrem grundlegenden Begriff und Prinzip gemacht hätten, wäre es für sie ebenfalls unmöglich ernsthafte Fortschritte zu machen, wenn sie nur auf der Analogie beruhen würden.

 
 
 
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