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3.b Ein durchschnittlicher Geist diskutiert Ereignisse

Es ist allgemein bekannt, aber dennoch wichtig hervorzuheben: Kriege sind keine Erfindung des Kapitalismus. Es gab sie schon Jahrtausende von dem Kapitalismus. Generell wollen Menschen keine Kriege, aber wenn sich Gesellschaften in einer fatalen Lage befinden und sie ihre Existenz bedroht sehen, dann gilt Krieg regelmäßig als einzige Option und dann sind die meisten Menschen dazu bereit. Das funktioniert vor allem deshalb so gut, weil diejenigen die über Krieg und Frieden entscheiden, meistens nicht selbst in den Krieg gehen. Früher wurden fatale Lagen einerseits von Dürren, Überschwemmungen, Erdbeben, Seuchen und Überbevölkerung verursacht. Andererseits gab es schon immer bei den Herrschenden (den Eliten) die Gier nach Macht und Besitz. Im real existierenden Kapitalismus spielt etwas anderes als wichtige Ursache eine Rolle, nämlich die periodischen Zusammenbrüche der Wirtschaft und die ihr folgenden ökonomische Krisen. Wenn man dann das Volk in Krieg schickt, bewahrt man die innere soziale Ruhe und darüber hinaus kann Krieg auch gewinnbringend sein, wenn man das besiegte Land danach zur Kolonie macht. Ganz unmittelbar ist es von großem Nutzen für die Herrschenden, wenn man dem besiegten Land Nahrungsmittel raubt und der eigenem Bevölkerung zukommen lässt, damit diese nicht revoltiert. Daran hat sich nie etwas geändert. Hier hat Marx am Kapitalismus etwas richtig beobachtet, aber auch falsch verstanden. „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt ... Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde“, so Marx im Manifest (1848). Er hat den Ausdruck „schwere Artillerie“ als Metapher gemeint, aber so war es nicht. Tatsächlich war die echte schwere Artillerie das wahre Erfolgsgeheimnis des Kapitalismus bzw. seiner Epoche, der Moderne. Fügen wir dem noch hinzu, dass die Rüstungsindustrie auch die Steigerung der Produktion von Industriegütern (YK) bewirkt, die gegen das Entstehen des Nachfragemangels wirkt und mehr Investitionen (I′) und Ersparnisse (S′) ermöglicht. Die oft beobachtete Erscheinung, die den gesunden Menschenverstand völlig verwirrt, dass nämlich mehr Kanonen auch mehr Butter bedeuten, lässt sich also im kreislauftheoretischen Modell analytisch streng erklären und nachweisen.

Deshalb ist es alles andere als zufällig, dass die USA als das erfolgreichste kapitalistische Land „nur gerade mal 16 Jahre von ihren 242 Jahren als Nation ohne Krieg verbracht hat“ (Ganser: 25). Obwohl sie nie von einem äußeren gefährlichen Feind bedroht waren, machen ihre Militärausgaben 40 % der Ausgaben der ganzen Welt für militärische Zwecke aus, und in mehr als der Hälfte aller Staaten der Welt haben sie ihre militärischen Basen. Dass dies nicht einfach nur zur Abschreckung diente, bezeugen ihre 16 Millionen Kriegsveteranen, die zu solchen nicht in Einsätzen im eigenen Land geworden sind. Der 39. Präsident der USA, Jimmy Carter, hat seine eigene Nation als die kriegerischste in der Geschichte der Welt bezeichnet. Erinnern wir uns daran, dass es der amerikanischen Regierung „den Preis wert war“ (Madeline Albright), eine halbe Million irakischer Kinder sterben zu lassen, um danach die irakischen Ölfelder ausrauben zu können. Heute will man den Stellvertreterkrieg gegen die „bösen Russen“ in der Ukraine „bis zum letzten Ukrainer“ führen (Senator Lindsey Graham), um den Ukrainern Tschernosem zu rauben. 

Angesichts dieser und zahlreicher weiterer Tatsachen des real existierenden Kapitalismus ist es unvorstellbar, dass den Superreichen in den klassisch-kapitalistischen Ländern nicht bewusst sein könnte, dass sie ihre Herrschaft immer wieder mit Krieg retten mussten. Bei diesen Reichen handelt sich nämlich um eine erbliche soziale Schicht, die größtenteils noch aus dem feudalen Adel stammt, die man sehr trefflich als Oligarchenkaste bezeichnen kann. Sie sind die wichtigste Kraft dessen, was man heute populär als „tiefen Staat“ bezeichnet. Der „tiefe Staat“ ist jedoch nur ein Euphemismus, um nicht sagen zu müssen, die westliche Demokratie sei ihrem Wesen nach eine oligarchische Diktatur. Rein menschlich betrachtet ist es selbstverständlich und kann gar nicht anders sein, als dass die ältere Generation dieser Oligarchenkaste ihre heranwachsenden Nachfolger in alle „schmutzigen Geheimnisse“ ihrer Herrschaft einweiht, wozu vor allem die Tatsache gehört, dass der real existierende Kapitalismus eine Ordnung ist, die periodisch zusammenbricht. Das Volk würde dann aus Verzweiflung rebellieren, so dass sich dann kaum was anderes tun lässt, als es in einen Krieg zu schicken. Natürlich darf das Volk diese Strategie der Herrschenden nicht erfahren, deshalb muss es ständig belogen, manipuliert und diszipliniert werden. Der Kapitalismus muss mit Völkern umzingelt werden, die von ganz bösen Machtusurpatoren beherrscht werden, die sogar das Volk böse machen. Damit dies das eigene Volk als die letzte Wahrheit verinnerlicht, dafür sorgen Medien, Schulwesen, „Experten“, Politiker, Kirchen und in letzter Zeit die sogenannten Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen, die indirekt oder gar direkt von Regierungen finanziert werden.

Heute ist es üblich, alle ideologisch unangenehmen Wahrheiten als „Verschwörung“ zu denunzieren und sie damit lächerlich zu machen. Das gilt auch und gerade für die Wahrheit über kapitalistische Krisen und Kriege. Es ist dabei an sich jedoch nichts „verschwörerisch“. Die westliche Oligarchenkaste hat nämlich eigene Interessen und versucht sie mit allen Mitteln zu realisieren, nicht anders als etwa andere soziale Gruppen, etwa die Arbeiterschaft oder die Bauern. Wenn Machteliten Strategien entwerfen, um ihre Ordnung auf Kosten der Gesellschaft zu retten, ähnelt das einer „Verschwörung“ nur insoweit, als diese Menschen beliebig viel Geld und Zeit haben, sich zu treffen wo sie niemand sieht und hört. Es ist nicht anders als wenn sich Mafiabosse treffen, wo wir aber nicht von „Verschwörung“ sprechen. So betrachtet, indem sich nämlich Verteidigung der Interessen einer Gruppe oder einer sozialen Schicht kaum als illegitim bezeichnen lässt, wir können auch hier nicht von einer besonderen Bosheit der Reichen im Kapitalismus sprechen. „Die Kapitalisten wollen keinen Krieg. Sie müssen ihn wollen“ (Bertolt Brecht).

Wie der real existierende Kapitalismus an Kolonien und an Kriege um Kolonien schicksalhaft gekettet ist, hat sich in aller Deutlichkeit gezeigt, als Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum industriell entwickelten Land geworden ist. Man spricht von der nachholenden deutschen Industrialisierung. Deutschland war davor kein Land wie die entlang der atlantischen Küste, die schon ein paar Jahrhunderte lang die neue Welt fleißig und rücksichtslos beraubt und die neue kapitalistische Ordnung entwickelt hatten. Die deutsche Industrialisierung war so schnell und so erfolgreich, wie man es sich davor niemand vorstellen konnte. Richtig lässt sie sich nur nachfragetheoretisch erklären. Wir verfolgen jetzt kurz die Geschichte des deutschen Kapitalismus um noch einmal zu überprüfen, wie die wichtigsten Schlussfolgerungen der kreislauftheoretischen Analyse zu dieser Erfahrung passen.

Nachdem das unterentwickelte rurale Land Preußen von Napoleon besiegt wurde (1806), haben sich Landadel und Kriegerkaste explizit als Aufgabe und Ziel gesetzt, das Land zu industrialisieren, und das ist ihnen außerordentlich gut gelungen. Durch die preußischen Reformen - nach ihren Hauptinitiatoren auch „Stein-Hardenbergsche Reformen“ genannt -, sollte sich Preußen aufbauend auf „das dreifache Primat der Waffen, der Wissenschaft und der Verfassung“ modernisieren, um im Kreis der schon entwickelten kapitalistischen Länder seinen „Platz an der Sonne“ zu erhalten. Die deutschen Reformen bedeuteten eigentlich, von den westlichen Nachbarn, die schon im Kapitalismus angelangt waren, zu lernen. Aber man wollte nicht einfach nur alles abschreiben, sondern man wollte einiges auch besser machen und auch dies ist Preußen bestens gelungen. Dank der Reformen im Bildungswesen, die hauptsächlich von Wilhelm von Humboldt entworfen wurden (1809/10), sind die Deutschen zum ersten allgemein gebildeten Volk in der Menschheitsgeschichte geworden. Die deutschen Schulen und Universitäten waren damals die besten in der Welt. Die Deutschen sind wirklich ein Volk von Denker und Dichter geworden. Die Denker sind in die Naturwissenschaften gegangen, die Dichter haben Philosophie und Sozialwissenschaften unterwandert und vereinnahmt. Eine große Mehrheit der bedeutenden Namen in den Naturwissenschaften war damals deutsch. Es konnte nicht verwundern, dass die Zweite Industrielle Revolution hauptsächlich in Deutschland stattgefunden hat.

Ob ein durch den Staat organisiertes Schulsystem gegen den Liberalismus verstößt, lässt sich diskutieren - Smith etwa war für eine staatliche Bildung -, aber einiges in der deutschen Wirtschaftspolitik war mit dem westlichen Liberalismus völlig unvereinbar. Erwähnen wir dazu nur, dass der deutsche Staat den Prozess der Industrialisierung aktiv gefördert, seine Wirtschaft protektionistisch geschützt und die negativen Auswirkungen einer völlig freien Konkurrenzwirtschaft juristisch verhindert hat. „Deutschland ist im Laufe von zehn Jahren in Wohlstand und Industrie, in Nationalselbstgefühl und Nationalkraft um ein Jahrhundert vorgerückt. Und wodurch?... Es war hauptsächlich der Schutz, den das Zollvereinssystem den Manufakturartikeln des gemeinen Verbrauchs gewährte, was dieses Wunder bewirkte“, schreibt am Anfang des 19. Jahrhunderts der seinerzeit bekannteste amerikanische Gegner des Laissez–faire Henry C. Carey (1877: 38). Fügen wir nur noch hinzu, dass unter dem Schutz der 1879 eingeführten Zölle sogar Kartellvereinbarungen möglich geworden sind. Und entgegen der Auffassung der reinen liberalen Lehre war diese Entwicklung auch sozial begleitet. Es war ein adliger Konservativer, Bismarck, der in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland die Renten- und Krankenversicherung einführte. „Der Glaube an die Harmonie der Interessen“, sagte er damals, „hat in der Geschichte bankrott gemacht. Gewiss kann der einzelne viel Gutes tun, aber die soziale Frage lösen kann nur der Staat“. Einen radikaleren und dreisteren Verstoß gegen das Prinzip des puren laissez-faire kann man sich kaum vorstellen.

Die staatliche Förderung der Investitionen hätte nach der neoliberalen Auffassung erfolglos sein müssen, weil der Staat immer alles falsch macht. Nach der kreislauftheoretischen Analyse hat die staatliche Förderung der Investitionen in der Produktion der Produktionsgüter die besten Voraussetzungen (YK) für endogene private Investitionen (I′) und Ersparnisse (S′) geschaffen und dadurch sehr effektiv das Entstehen des Nachfragemangels verhindert. So konnte der deutsche Kapitalismus ohne Wachstumsschwächen sehr bald sogar die älteren kapitalistischen westlichen Nachbarn einholen bzw. gar überholen. Darin liegt das wahre Geheimnis des ersten deutschen Wirtschaftswunders. Es ist angemessen noch einmal hervorzuheben, dass damals Deutschland einen starken empirischen Nachweis dafür geliefert hat, dass die Marktwirtschaft ökonomisch erfolgreich und zugleich auch sozial sein kann, aber eine völlig freie Marktwirtschaft kann sie dann nicht sein. Aber sehr bald hat Deutschland diesen Sonderweg verlassen. Zwei Gründe dürften dafür wichtiger als alle anderen gewesen sein und verdienen kurz besprochen zu werden:

Als der deutsche Landadel in den bürgerlichen Anzug schlüpfte, wurde für ihn auch die Ideologie des Kapitalismus attraktiver als die alte feudale. Das wäre ein mentaler oder psychologischer Grund, warum die staatlich geförderte Wirtschaftspolitik immer mehr zugunsten des freien Markts verlassen wurde. Es gehörte schon immer zu den höchsten Tugenden des kapitalistischen Oligarchen, alles was allen gehört sich privat anzueignen. Der andere Grund ist vor allem theoretischer Art. Den deutschen Weg zum Kapitalismus hat bekanntlich die „historische Schule der Nationalökonomie“ theoretisch begleitet und unterstützt. Zumindest soll hier die Theorie der Entwicklung der produktiven Kräfte von Friedrich List (1789-1846) erwähnt werden, die sich um die staatliche Industrialisierung besonders verdient gemacht hat. Aber diese spezifische deutsche ökonomische Schule hatte eine Schwäche, die sie nur für bestimmte Umstände brauchbar machte und auch das für eine nicht lange Zeit.

Wie der Name schon sagt, war die historische Schule historisch. Ihre Methode war es, die Geschichte sorgfältig und umfangreich zu untersuchen, um gewisse universale Tendenzen und Zusammenhänge zu erkennen und herauszufinden, welche Lösungen die besten sind. Auch List wollte vor allem die amerikanische Erfahrung kopieren. Allgemein gesprochen gilt für die ökonomische Lehre der historischen Schule, dass sie nie analytisch, sondern rein erzählerisch oder gar metaphysisch war. Dabei kann es zu willkürlichen und somit falschen Verallgemeinerungen kommen. Was für nachholende kapitalistische Wirtschaft gilt, muss nämlich nicht für eine schon entwickelte gelten. Sparen kann zweifellos nützlich und notwendig sein, solange sich eine Wirtschaft industrialisiert, wie es damals mit Deutschland der Fall gewesen ist, danach aber nicht mehr. Dann braucht die Wirtschaft nicht viel mehr für die Investitionen, als das, was bereits die Amortisation bringt. Die damaligen Theoretiker konnten an den protestantischen (Weber) und historischen (Marx) Geist der Sparsamkeit immer weiter glauben und mit der eleganten Einfachheit dieser Auffassung faszinieren, aber der bodenständigen neuen deutschen Klasse der „Wirtschaftskapitäne“ war schnell klar, dass das nicht das eigentliche Problem war. Sie konnten einfach nicht übersehen, dass sie schon am Ende des 19. Jahrhunderts mehr, billiger und bessere Güter herstellen konnten als ihre Konkurrenz, nur Kunden gab es nicht genug, bei denen sie das alles absetzen konnten. Was für einen Sinn hätten dann neue Investitionen und ein weiteres Sparen? Die historische Schule konnte ihnen keine Lösungen für die neuen Umstände vorschlagen, und die Lehren aus der Geschichte mussten bald selbst zur Geschichte werden. Der freie theoretische Platz ist den neoliberalen Haudegen der österreichischen Schule (Menger, Mises, Hayek) zugefallen und später ihren Nachfolgern unter der moralischen Maske, also den Ordoliberalen.

Als die spezifisch deutsche ökonomische Theorie nicht mehr weiterhelfen konnte, mussten die deutschen Wirtschaftskapitäne sich schließlich anderswo erkundigen, wie es mit ihrer kapitalistisch gewordenen Wirtschaft weitergehen konnte. Schon weil sie weitgehend aus dem feudalen Adel stammten waren sie beständige Gäste in den Residenzen ihrer westlichen Nachbarn und konnten nicht nur mitbekommen, dass diese auch Absatzprobleme hatten, sondern auch, wie man sie lösen kann, nämlich durch Kriege um Absatzmärkte und Ressourcen, konkreter gesagt durch Kriege um Kolonien. Die Kriege für die Vereinigung der deutschen Länder konnten nicht die letzten Kriege des kapitalistisch entwickelten Deutschland sein, wie es Bismarck so gern gehabt hätte. Wilhelm II. war dies zumindest unbewusst klar. Bismarck ließ sich nicht überreden und musste gehen. Er konnte aber der große Kanzler der deutschen Vereinigung bleiben. Erst ab den 1880er Jahren ist es dem Deutschen Reich gelungen, hie und da etwas an Kolonien zu ergattern („Schutzgebiete“), es war aber für eine so ambitionierte Wirtschaft viel zu wenig.

Als Teil der westlichen Adelskaste haben die deutschen Eliten wahrscheinlich auf eine „gerechtere Verteilung“ der Kolonien gehofft, sind damit jedoch nicht auf Verständnis gestoßen. Es war klar, was sie tun würden. Das neue industrialisierte Deutschland musste sich seinen „Platz an der Sonne“ mit der Waffe erkämpfen. So schrieb Wilhelm II. im Neujahrsbrief an seinen Kanzler Bülow „Erst die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich machen, wenn nötig, per Blutbad, und dann Krieg nach außen.“ (Fischer, F. 2014: 30.) Es hat sich aber herausgestellt, dass man die Sozialdemokraten nicht köpfen musste, weil sie schon damals „staatstragend“ gewesen sind - sie haben brav für Kriegskredite (1914) abgestimmt. „Denn einerlei wie der Erfolg ist – dieser Krieg ist groß und wunderbar“, so der gerade erwähnte Klassiker der Soziologie Weber (im August 1914). Die Geschichte nahm ihren Lauf und so hat sich bekanntlich das 20. Jahrhundert als das tragische „deutsche Jahrhundert“ (Jäckel) erwiesen. Der erste deutsche Versuch den „gerechten“ Anteil an Kolonien zu erhalten, also der Erste Weltkrieg, ist misslungen. Aber das war erst der Beginn des „deutschen Jahrhunderts“.

Das ökonomische Versagen der deutschen Wirtschaftspolitik vor dem Ersten und zwischen den Weltkriegen war ein klares Versagen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Als Verlierer des Ersten Weltkrieges war Deutschland sehr bald auch noch von der Großen Depression betroffen. Die damaligen herrschenden Parteien und insbesondere der fatale Kanzler Brüning haben bekanntlich alles getan, was ihnen die neoliberalen „Experten“ geraten haben, aber nichts hat geholfen. „Das deutsche Preis-. und Lohnniveau sollte um 20 Prozent sinken ... Die dritte Notverordnung zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 6. Oktober und die vierte vom 8. Dezember 1931 dienten diesem Ziel. Löhne und Gehälter wurden per Dekret abgesetzt. ... Die staatlichen Investitionen, Subventionen an die private Wirtschaft und die Sozialausgaben wurden weiter stark gekürzt. Im Jahr 1932 brachte Brüning den Reichshaushalt dadurch annähernd zum Ausgleich, aber die Investitionstätigkeit wurde so stark gedämpft, daß die Nettoinvestitionen in Deutschland negative Werte erreichten. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosenzahl 1932 auf über sechs Millionen Personen. ... Die Nationalsozialisten witterten Morgenluft. In ihrer Presse etikettierten sie Brünings Notverordnungen als ,Konjunkturabkurbelungspolitik‘ und erarbeiteten gleichzeitig Pläne für eine expansive Geldpolitik. Die Tragik der Weimarer Republik liegt darin, daß ausgerechnet die extreme Rechte die Ursachen der Verschärfung der Wirtschaftskrise in Deutschland, nämlich die gleichzeitig restriktive Geld- und Haushaltspolitik, richtig erkannte.“ (Holtfrerich 2001: 165). Nicht die Hyperinflation hat die deutsche Wirtschaft zugrunde gerichtet, sondern die bald folgende Deflation. Um den inneren Frieden zu retten, sah die deutsche Machtelite keinen anderen Ausweg, als die Macht einem Diktator auszuhändigen, am besten auch noch einem der bereit war durch Krieg der deutschen Wirtschaft auch externe Märkte (Nachfrage) und Naturressourcen zu besorgen. „Hitler kam nicht aus eigener Kraft an die Macht. Er hatte keine Mehrheit, weder unter den Wählern und damit im Volke noch im Reichstag oder in der Regierung. Es ist nicht wahr, was fast alle populären Deutungen behaupten, daß die Deutschen seine Ernennung zum Reichskanzler gewünscht hätten. Zwei Drittel von ihnen wünschten es nicht.“ (Jäckel: 157) Die Wahlergebnisse im November 1932 waren für die NS-Partei bedrohlich rückläufig, und dies obwohl Hitler einen kostspieligen Wahlkampf führte, wie man ihn davor nie kannte - was seltsam ist, wenn er angeblich ein Führer von Ganoven und Habenichtsen gewesen sein soll. Obwohl man später mit allen Mitteln versuchte die Spuren der Verbindungen der Nazis zur deutschen Oligarchenkaste zu verwischen, konnten die Historiker eine ausreichende Menge davon dokumentieren. Die „Machtergreifung“ ist auch nur ein Mythos, oder wie man heute sagen würde ein „Fake“. Hitler wurde zum Reichskanzler (30. Januar 1933) berufen, woran vor allem preußische Junker wesentlich beteiligt waren sowie bedeutende Gruppen der Industrie – auch aus den USA. Das Narrativ von den Reparationen ist an sich nicht weniger falsch. Ihre Höhe war im Versailler Vertrag nicht einmal genau festgelegt, die Belastung durch die Reparationen waren vor allem deshalb zu hoch, weil man die Wirtschaft auf Teufel komm raus mit liberalen Maßnahmen beleben wollte und dabei katastrophal scheiterte. Hitler hat diese Maßnahmen seines Vorgängers Brüning verworfen und war für einige Jahre ökonomisch erstaunlich erfolgreich, bewundert von der ganzen Welt, was ihn auf die wahnwitzige Idee von einem Tausendjährigen Dritten Reich gebracht hat. Es war ein wirkliches Wirtschaftswunder - das zweite deutsche Wirtschaftswunder nach dem preußischen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es klar geworden, dass „Deutschland zu klein für die Welt ist und zu groß für Europa“ (Henry Kissinger). „Wehe den Besiegten!“, so lautet ein bekanntes lateinisches Sprichwort. Nach dem im August 1944 vom damaligen US-amerikanischen Finanzminister Henry Morgenthau entworfenen Plan („Morgenthau-Plan“) sollte es nach dem zweiten Mal reichen: Deutschland sollte in einen Agrarstaat ohne militärisches Potential verwandelt werden. Das sollte langfristig verhindern, dass Deutschland je wieder einen Angriffskrieg führen könne. Wahrscheinlich hat Stalin dafür gesorgt, dass es dazu nicht kommt, mit seiner bekannten Aussage: „Hitlers kommen und gehen, das deutsche Volk bleibt.“ Für Stalin als Kommunisten war für die schlechte menschliche Natur einzig und allein der Kapitalismus verantwortlich, deswegen konnte man ihn von dieser Idee nicht überzeugen. Was blieb dann den Amerikanern zu tun? Nicht aus irgendeiner samaritanischen Gutherzigkeit heraus, sondern aus einem knallharten Kalkül sollte Deutschland als Schaufenster gen Osten die Verbreitung des Kommunismus verhindern. Die Währungsreform wurde von den Amerikanern organisiert und durchgesetzt, das Etikett „Ludwig Erhard“ sollte sie verdeutschen. Und so ging es weiter. Anstatt Reparationen zu zahlen, flossen amerikanische Kredite undInvestitionen, aber das alles war nicht wesentlich für die Zukunft der deutschen Wirtschaft, sondern etwas ganz anderes. Nach ihrer unglaublich erfolgreichen Industrialisierung in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts brauchte die deutsche Wirtschaft eigentlich nur Absatzmärkte für ihre Güter. Und auch dafür haben die Amerikaner gesorgt, indem sie genug Dollars gedruckt haben. Sie konnten sich das erlauben, da sie nach der Großen Depression auf keynesianische Wirtschaftspolitik umgestiegen waren, und die hat ihnen und dem ganzen Westen drei Jahrzehnte lang ein „goldenes Zeitalter des Kapitalismus“ beschert. Im Deutschland spricht man stolz über das „deutsche Wirtschftswunder“, aber ohne die Gnade der Russen und der erzwungenen Großzügigkeit der Amerikaner wäre daraus nichts geworden. Dieses Wirtschaftswunder ist aber ein weiterer Beweis dafür, dass eine ökonomische Ordnung, die auf Konkurrenz und Privatkapital beruht, sowohl stabil als auch sozial sein kann, wenn es ihr nicht an der Nachfrage fehlt.

Indem die Amerikaner die ganze Zeit nach dem 2. Weltkrieg der „letzte Abnehmer“ (William Greider) für kapitalistische Länder waren, auch für Deutschland, mussten folglich die Deutschen selbst nichts für die Nachfrage tun. Das hat die deutschen Ökonomen und Eliten in ihrer irrtümlichen Auffassung von der Stabilität der freien Marktwirtschaft noch mehr bestärkt. Und es schien, als seien die Tatsachen auf ihrer Seite. Wie gerade erörtert, im 19. Jahrhundert konnten die Ökonomen das Nachtfrageproblem übersehen, weil die Industrialisierung staatlich gefördert wurde, so dass die Steigerung der Produktion der Produktionsgüter (YK) immer positiv war und die Nachfragelücke (Γ) nicht entstanden ist. Und dann haben die Amerikaner den Nachfragemangel kompensiert, indem sie die Produktionsüberschüsse abgesaugt haben. Die deutsche historische Erfahrung hat folglich auch die ökonomische Mentalität der Deutschen geformt bzw. deformiert. Bis heute glaubt keine westliche Nation so dogmatisch und fanatisch an die sich selbst stabilisierende freie Marktwutschaft wie die Deutschen. Um sich von der Verantwortung für die von Brüning errichtete libertäre Katastrophe freizusprechen, ist Ludwig Erhard eingefallen, den Kapitalismus als „soziale Marktwirtschaft“ zu bezeichnen. Seitdem glauben Deutsche nicht nur, dass sie nicht mehr im Kapitalismus leben, sondern dass das Wort „sozial“ den bösen Kapitalismus moralisch besser gemacht hat. Es war nicht zufällig, wenn gerade Goethe bemerkt hat: „Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“ Vielleicht meinte er nicht den Menschen an sich, sondern den Deutschen, aber er wagte es nicht so zu sagen.

Auch die weitere historische Entwicklung hat die ökonomische Mentalität der Deutschen geformt bzw. deformiert. Völlig unerwartet ist nämlich der Kommunismus in sich zusammengebrochen. Musste davor die „verspätete Nation“ (Helmuth Plessner) für Absatzmärkte und Kolonien mit alten kapitalistischen Nationen brutal kämpfen, ist ihr jetzt alles einfach so in den Schoss gefallen. Was man in der DDR angerichtet hat, hat Wenzel (Was war die DDR wert?) ausführlich beschrieben. Die in Jahrzehnten des Kommunismus geschaffenen Technologien waren um etwa ein Drittel weniger produktiv als die westlichen, was im internationalen Rahmen außerordentlich gut war, man hat aber gleichwohl alle Produktionskapazitäten „verschrottet“, um den westdeutschen Unternehmen einen leeren Absatzmarkt zu schaffen. Dabei ging es auch darum, die dortigen Kader aus den höheren Positionen zu beseitigen und durch westliche zu ersetzen - wie man es auch sonst bei besiegten Ländern immer macht. Die neuen deutschen Länder hatten dabei noch Glück, da hier das westliche Kapital auch einige soziale Verpflichtungen übernommen hat, mit anderen ex-sozialistischen Ländern ging man unheimlich brutal um. Hier brauchen wir diese Problematik nicht genauer zu behandeln, nur noch eines verdient kurz angemerkt zu werden. Im Allgemeinen betrachtet hat die ökonomische Kolonisierung der ex-sozialistischen Länder dem Westen neben den neuen Absatzmärkten etwas gebracht, was bei den früheren Kolonien nicht der Fall war. Die Kommunisten haben viel in Gesundheit, Sport und Bildung investiert, da für den „neuen Menschen“ das höchste Ziel die geistige und körperliche Selbstverwirklichung sein sollte, und diese menschliche Ressource („Humankapital“) konnten die westlichen Unternehmen sofort als Extraprofit verbuchen. Was die kapitalistische Wirtschaft prinzipiell unfähig ist zu produzieren, also Kinder, Gesundheit und Bildung, ist ihr wie Manna vom Himmel in den Schoß gefallen.

Mit den Reformen des Kanzlers Schröder haben die Sozialdemokraten noch einmal gezeigt, wie „staatstragend“ sie sind. In Deutschland wurde die neoliberale Wirtschaftspolitik drastisch durchgesetzt und man betrachtet sie als erfolgreich. Deutschland konnte zum Exportweltmeister werden, aber nicht weil die neoliberale Lehre etwa doch richtig ist. Der Erfolg hatte einen sehr niederträchtigen Grund. Da in der EU mit dem Euro eine gemeinsame Währung eingeführt wurde, konnte Deutschland durch Lohn- und Sozialdumping seine Konkurrenzfähigkeit innerhalb der EU und dann auch international verbessern und zum Exportweltmeister werden. Natürlich will man es in Deutschland nicht so sehen, sondern man fasst es als eine empirische Bestätigung auf, dass der Markt alle wirtschaftliche Probleme löst, unter anderem dass die neoliberale Theorie der Lohnsenkung praktisch funktioniert.

Nach der neoliberalen Konterrevolution (Reagan 1981, Thatcher 1979) konnten sich die deutschen neoliberalen Ökonomen als endgültige theoretische Sieger sehen. Endlich hatten auch die Amerikaner eingesehen was für ein großer Irrtum der Keynesianismus war, so wie es die Deutschen schon immer gesehen haben. Einiges spricht ernsthaft dafür, dass der (amerikanische) Keynesianismus, auch wenn er der deutschen Wirtschaft Jahrzehnte lang ihre besten Zeiten bescherte, nirgendwo dermaßen abgelehnt und bekämpft wurde wie in Deutschland und das hat sich bisher keinen Deut geändert. Für die amerikanische Oligarchenkaste waren die keynesianischen Jahrzehnte die schlimmsten seit mehreren Jahrhunderten. Nicht nur, weil sie einen spürbaren Anteil von „ihrem“ Reichtum für höhere Löhne und Sozialausgaben opfern mussten, damit das Volk nicht von kommunistischen Ideen verführt wird und auf dumme Gedanken kommt. Sie haben nur auf die Gelegenheit gewartet, mit dem bequemen Leben ihrer Bürger Schluss zu machen und ihre Zeit ist auch gekommen. Nach den erstaunlichen ökonomischen Erfolgen während der Stalinzeit (es gab damals Jahre, in denen das Wachstum fast 14% betrug) hat sich alles sehr geändert. Unter Chruschtschow, der einen Schauprozess gegen Stalin inszenierte, brach die Wirtschaft zusammen, so dass er von der Komopartei abgesetzt wurde, aber auch die späteren Wachstumsraten waren sehr bescheiden. Der Abstand der kommunistischen Wirtschaften zu den kapitalistischen Ländern hat sich immer weiter vergrößert und die westlichen Machteliten haben richtig erkannt, dass der richtige Augenblick gekommen ist, den Wohlstand für alle bei sich abzuschaffen. Natürlich hat man dem Volke gegenüber das Gegenteil behauptet.

Zuerst hat man mit Lügen begonnen, wie Steuersenkungen Wunder bewirken würden. Der Unsinn, durch sprunghaftes Wachstum würde der Staat trotz niedrigeren Steuern sogar mehr Steuern einnehmen, ist als Laffer-Kurve bekannt geworden. Indem die Steuerausfälle immer größer wurden und der Staat zumindest das Nötigste trotzdem finanzieren musste (Sozialhilfen, Schulung, Infrastruktur, usw.), hat er sich immer stärker, also exponentiell, verschuldet. Und diejenigen, die die eigentliche Ursache dieser Schulden und auch ihre Gläubiger waren, schrien danach noch unverfroren und zynisch: Haltet den Dieb! Heute wissen wir, dass sich in den drei Jahrzehnten nach der neoliberalen Konterrevolution Wachstum und Produktivität verglichen mit drei keynesianischen Jahrzehnten davor fast halbiert haben (Skidelski: 180), was ein endgültiger Beweis sein müsste, dass die neoliberale Marktwirtschaft im Vergleich mit der keynesianischen kläglich gescheitert ist. Aber die Oligarchenkaste hat das nicht betroffen, im Gegenteil. Seitdem ist das ganze Wachstum - eigentlich sogar mehr als das - in die Taschen der vorher schon Reichen und der Reichsten geflossen. Die neoliberale Konterrevolution mit dem Ziel, Reiche reicher zu machen, war vielleicht viel erfolgreicher, als man es am Anfang gehofft hatte. Hat man im vorigen Jahrhundert noch über die Vorhersage der relativen Verarmung der Arbeiterklasse und die Zerschlagung der Mittelklasse noch schmunzeln können, erleben wir heute nicht nur die relative, sondern auch schon die absolute Verarmung der großen Mehrheit der Gesellschaft. „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen“, hat es der bekannte amerikanische Investor und Unternehmer Warren Buffett ehrlich zugegeben. Ironisch bemerken einige schon, dass Marx nicht für das 19. Jahrhundert, sondern für 21. geschrieben hat.

Und dann kam die nächste periodische kapitalistische Krise im Jahre 2008. Da in der neoliberalen Theorie nicht sein kann, was nicht sein darf, hat man nach einem schwarzen Schwan gesucht und die eigentlich ganz normale periodische Krise auf eine einmalige „Banken- und Finanzkrise“ reduziert. Die Schuldigen waren auch gleich erkannt, nämlich einige amerikanische Banken, die man bestrafen sollte, woraus nichts geworden ist, im Gegenteil. Im Nachhinein hat man nämlich lauter spitzfindige Gründe gefunden, wie diese privaten Banken nicht von sich aus falsch gehandelt hätten, sondern die Politik hätte sie dazu veranlasst, aber das brauchen wir hier nicht näher anzugehen. Immerhin hat sich die „Banken- und Finanzkrise“ nicht zu einer nächsten Großen Depression fortentwickelt, vwahrscheinlich auch deshalb, weil sich die Regierungen an den prominentesten neoliberalen Konterrevolutionär Friedman erinnert hatten. Die Große Depression hatte nach ihm die Regierung bzw. die Notenbank verursacht, indem sie die Geldmenge verknappte. Um den gleichen Fehler nicht zu wiederholen, hat man diesmal (2008) so viel Geld gedruckt, wie die Banken es sich gewünscht haben. „We are all Keynesians now“, hat Friedman einmal erklärt und auf eine verquere Weise war er wirklich einer. Wenn die Reichen mit ihrem Sparen eine Nachfragelücke verursachen, soll man nach Keynes durch Staatsausgaben den unteren Schichten ermöglichen mehr zu konsumieren. Nach Friedman soll man die Reichen zu mehr Konsum motivieren, indem der Staat bei ihnen das Geld regnen lässt. Irgendwie sind beide Lösungen des Nachtfrageproblems, wie es die klassische Nachtfragetheorie (Einkommen-Ausgaben Modell) erklärt, logisch folgerichtig. Eine neue Große Depression hat man dadurch abgewandt, aber was war der Preis für die Bankenrettung?

Die Staatsschulden sind schon mehrere Jahrzehnte davor wegen der Steuersenkungen bedrohlich gewachsen und nach der Geldschwemme für Bankiers und Börsianer (2008) sind sie explodiert. Man war sich aber sicher, dass nach der Bankenrettung der schwarze Schwan längst weitergezogen war. Wie man es in der Wirtschaftswissenschat zu pflegen sagt, die sogenannten „strukturellen Ungleichgewichte“ waren beseitigt und man konnte einfach nur in aller Ruhe den nächsten Aufschwung abwarten. Bis heute, fast nach zwei Jahrzehnten, hat sich ein Aufschwung nicht einmal ansatzweise gezeigt, im Gegenteil. Was wächst ist nur Armut und Unsicherheit wegen der ständigen Senkung der Reallöhne, auch wenn die Arbeitsintensität brutal steigt. Nie in der Geschichte ist es den westlichen Machteliten so gelungen das Volk auszuplündern und zwar nicht mit der unsichtbaren Hand des Marktes, sondern der sichtbaren Hand des Staates. „Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“ (Manifest).

Der „Keynesianismus für die Reichen“ nach der neoliberalen Konterrevolution funktioniert offensichtlich nicht. Es war für die Amerikaner so angenehm die “letzten Abnehmer” nach 1971 zu sein, als sie den Dollar vom Goldstandard abgetrennt hatten und danach so viel Dollars drucken konnten, wie sie es für nötig gehalten haben. Indem sie für die Rüstung mehr als die ihnen folgenden 9 Länder ausgeben konnten, fühlten sie sich sicher, dies immer weiter tun zu können. Sie konnten für bedruckte Papierchen jeden aus der ganzen Welt zwingen ihnen echte Güter zu „verkaufen“. Es schien, dass das Gelddrucken der Stein der Weisen sei, die endlich entdeckte mystische Substanz, durch die alles in Gold verwandelt wird. Sie beginnen aber zu merken, dass es ihnen wie dem legendären antiken König Midas ergehen könnte, der durch Berührung ebenfalls alles in Gold verwandelte, aber da er das Gold nicht essen konnte, musste er verhungern. Die drangsalierte amerikanische Arbeiterklasse hat mittlerweile vielleicht vollständig verlernt Güter zu produzieren. Wie rettet man also den real existierenden Kapitalismus, das System, das nur Geld, aber nichts anderes produzieren kann? So wie es im Kapitalismus schon immer üblich war sich vor dem kompletten ökonomischen Zusammenbruch zu retten: mit Kriegen.

Das funktionierte solange es genug kleine Länder gab, die man kolonisieren konnte. Natürlich wollte der westliche Kapitalismus dabei nicht böse erscheinen, so dass er diese Praxis immer zuerst versuchte „human“ zu realisieren, durch regime change also , und wenn es doch nicht ging, dann hat man mit Kriegen nachgeholfen. Solche Opfer waren politisch und militärisch schwache Länder, wie Jugoslawien, Irak, Syrien, Libyen. Diese Kriege werden auch als asymmetrisch bezeichnet. Ihre Kosten waren niedrig und die ökonomischen Gewinne erheblich. Nebenbei bemerkt, den wertvollsten Teil der Beute, also die Naturressourcen, haben immer die Amerikaner für sich behalten und europäische Global Player, vor allem deutsche, haben neue Absatzmärkte erhalten - was immerhin auch eine ordentliche Beute war.

Aber der Krieg mit Russland hat sich nicht als einer der gewohnten „asymmetrischen“ Kriege erwiesen und auch einiges andere scheint nicht nach dem ursprünglichen Plan des kollektiven Westens zu laufen. Alles spricht dafür, dass die westliche Oligarchenkaste die geopolitische und ökonomische Lage der Welt ganz falsch eingeschätzt hat – d. h. sich selbst überschätzt und andere unterschätzt. Man wollte nicht wahrnehmen, dass zum ersten Mal seit Jahrhunderten der „Rest der Welt“ dem kollektiven Westen überlegen ist, was natürliche, militärische, demographische und technologische Ressourcen angeht. Nach meiner Meinung ist aber etwas anderes entscheidend, ob es der Oligarchenkaste gelingen wird, Zustimmung und Begeisterung für Kriege bei eigenem Volk zu erzeugen, also kollektive Instinkte für eine Selbstopferung zu wecken. Die herrschenden Klassen an allen Orten und zu allen Zeiten haben dafür stets eine Ethik von Gut und Böse benutzt, dazu kommen wir noch später.

Es ist angebracht, noch etwas über die neoliberale Konterrevolution zu sagen. So wie in Deutschland sind auch in manchen anderen europäischen Staaten die neoliberalen Reformen mit Hilfe sozialdemokratischer Parteien durchgesetzt worden. Welcher Partei sonst könnte man weniger zutrauen, sie würde etwas tun, was nur im Interesse der Reichen wäre, als der Partei, die aus der Arbeiterbewegung und den Gewerkschaften entstanden ist, meinte der Wähler. Aber diese Partei war schon längst keine Partei der Arbeiter mehr und die mittleren Schichten haben das gut verstanden. Es ist gar nicht übertrieben zu sagen, dass die Avantgarde der neoliberalen Konterrevolution die Angehörigen der mittleren Schichten waren und die sozialdemokratischen Parteien ihr politisches Werkzeug dafür gewesen ist. Historisch betrachtet ist das seltsam. Alle sozialistischen Bewegungen, von den gemäßigten bis zu den extremen, wurden nämlich von den Angehörigen der mittleren Schichten nicht nur theoretisch artikuliert, sondern auch geführt – und für Revolutionen vorbereitet. Diesmal haben sich die Mittelschichten nicht nur von der Arbeiterklasse abgewandt, sondern sie meinten - sei es unbewusst oder bewusst – ihren eigenen Status dadurch retten zu können. Das hat sich für sie als Falle erwiesen.

Die neuen „Mittigen“ haben die Funktionsweise der Marktwirtschaft nicht verstanden. Eine freie Marktwirtschaft macht zuerst die unteren sozialen Schichten ärmer, sie wirkt immer weiter nach oben und erwischt dann auch die mittleren Schichten. Marx spricht von einer „relativen Verelendung“, über die man vor einigen Jahrzehnten nur schmunzeln konnte, jetzt ist es aber todernst geworden. Zuerst werden diejenigen mit der niedrigen, dann die mit höheren Bildung getroffen, nach ihnen folgen kleine und mittlere Kapitalisten, wie es etwa Friedrich Engels selbst erfahren musste, also der treueste Freund von Marx. Marx konnte schließlich schon damals aus erster Hand den Untergang der mittleren Schichten erfahren. Die kapitalistische „Expropriation“, schrieb er am Ende/zum Schluss des ersten Bandes des Kapitals, vollzieht sich als „immanentes Gesetz der kapitalistischen Produktion selbst, durch die Zentralisation der Kapitale. Je ein Kapitalist schlägt viele tot. ... Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung“. Davon wollten die mittleren Schichten vor einigen Jahrzehnten nichts wissen, als sie voller Begeisterung die neoliberale „barbarische Konterrevolution“ (Walt Rostow) unterstützten. Sie waren naiv genug, den Versprechungen der Oligarchenkaste zu glauben, sie würden auch Gewinner sein, wenn man den unteren Schichten genug wegnimmt. Aber anstatt einen „gerechten“ Anteil an der Beute zu ergattern, sind die „Mittigen“ selbst auf die Speisekarte der Oligarchenkaste geraten. Wer anderen eine Grube gräbt ..., wäre ein passendes Sprichwort dazu. Ein anderes Sprichwort hat sich auch wieder einmal bestätigt, dass nämlich die „Revolution ihre eigenen Kinder frisst“.

Die Angehörigen der Mittelschichten beginnen zu begreifen, dass in der freien Marktwirtschaft viele berufen, aber nur wenige auserwählt sind und dass sich immer mehr von ihnen zu denjenigen gesellen müssen, die buchstäblich um die nackte Existenz kämpfen. Das ist das wahre Wesen des real existierenden Kapitalismus, was scharfe Denker schon bei seinem Entstehen klar wurde. So hat etwa Jacques Roux, bald nach der französischen bürgerlichen Revolution vor dem Pariser Konvent (1793) für die neue „freiheitliche“ Ordnung vorhergesagt, dass nämlich die „Freiheit nur ein eitles Hirngespinst ist, wenn eine Klasse die andere ungestraft aushungern kann“. Später hat die französische Regierung Alexis de Tocqueville in die USA geschickt, damit er sich umschaut, was für eine neue Ordnung dort entsteht. Die Erfahrungen seiner Amerikareise (1831 - 1832) hat er in seinem berühmt gewordenen Hauptwerk De la démocratie en Amérique verfasst, in dem es unter anderem steht: „Die landbesitzende Aristokratie der vergangenen Zeitalter war durch das Gesetz verpflichtet oder glaubte sich durch die Sitten gehalten, ihren Dienern zu Hilfe zu kommen und ihre Not zu lindern. Die Aristokratie der Fabrikanten unserer Tage jedoch überläßt die Menschen, nachdem sie sie in ihrem Dienst elend und stumpf gemacht hat, in Krisenzeiten der öffentlichen Wohltätigkeit, um sie zu ernähren“. Er wagte daraus eine niederschmetternde Schlussfolgerung zu ziehen: „Im ganzen genommen, die Aristokratie der Fabrikanten, die wir vor unseren Augen erstehen sehen, ist eine der härtesten, die auf Erden erschienen ist“ (1987: 239). Heute braucht man einfach nur die amerikanischen Städte zu besuchen um sich zu überzeugen, dass dies keine Übertreibung war.

Die Lage seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist nun so, dass wir beginnen unsere Vorväter zu verstehen, warum sie am Anfang des vorigen Jahrhunderts bereit waren, im Kampf gegen den Kapitalismus vieles zu opfern, oft sogar ihr Leben. Mit dem Sieg des Kommunismus hat sich aber wieder einmal herausgestellt, dass die Geschichte anstatt Problemlösungen manchmal Utopien folgt. Die Philosophie von Marx war fähig Völker stark genug zu motivieren, die barbarische Ordnung zu besiegen und danach haben sie begeistert begonnen, den Kommunismus bzw. Sozialismus aufzubauen. Im Nachhinein wurde immer klarer, dass die deutsche dialektische Philosophie bestens geeignet war etwas zu zerstören, etwas Neues zu schaffen war sie aber unfähig.

Marx wird nicht der deutschen historischen Schule der Ökonomie zugeordnet, aber gerade dort ist sein richtiger Platz. Die Grundlagen seiner ökonomischen Theorie hat er aus der Praxis der deutschen Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert entnommen. Und so wie die anderen historischen Schulen ist auch seine ökonomische Theorie nicht analytisch. Dass er seine Theorie als wissenschaftlich bezeichnet, ist nichts besonderes, alle metaphysischen Spinner in der deutschen Philosophie hielten alles, was sie hervorgebracht haben für Wissenschaft bzw. die Wissenschaft der Wissenschaften. Die Dialektik sollte auch eine bessere Wissenschaft sein. Davon war nicht nur die Berufsintelligenzija in den sozialistischen Ländern überzeugt, sondern auch ein erheblicher Teil der Bildungsbürger in klassisch kapitalistischen Ländern. Aber trotz der fast unüberschaubaren Zahl der Anhänger ist aus der dialektischen Theorie keine praktisch relevante Theorie entstanden. Die Dialektik ist nur eine reduktionistische Philosophie, die auf analogischem Denken bzw. Schlussfolgern beruht. Für eine echte moderne Wissenschaft reicht das nicht. Als ein solcher Philosoph war Marx ein realitätsfremder Wirrkopf und als Ökonom machte er darüber hinaus auch sehr amateurhafte Denkfehler. Die Gefahr, die vom Marxismus ausging gibt es zwar nicht mehr, aber die von Utopien mit fatalem Ausgang schon. Die sollte man deshalb frühzeitig erkennen und die Utopie von Marx ist ein gutes Beispiel zu zeigen, wie solche Utopien prinzipiell aussehen.

Fortsetzung folgt

 
 
 
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