|
| | | blättern ( 5 / 39 ) | |
|
Die positive Anthropologie als paradigmatische Grundlage der Vormoderne |
|
Die Auslese von „Eliten“ und ihre Beaufsichtigung (Quis custodiet custodes?) |
|
|
|
|
|
|
So wie also eine gut durchorganisierte Aristokratie etwas Wunderschönes sein kann, ist sie etwas höchst Gefährliches, wenn sie verdorben ist. |
|
|
|
Jean Bodin, ein französischer frühmoderner Staatstheoretiker, der Begründer des modernen Souveränitätsbegriffes |
|
|
|
|
|
|
|
Die besten Könige wollen auch böse sein dürfen , wenn es ihnen gefällt, ohne deshalb aufzuhören, die Herren zu sein: Ein politischer Prediger kann ihnen vergeblich erzählen, daß ihr größtes Interesse darin bestehe, ein blühendes, zahlreiches und gefürchtetes Volk zu haben, weil die Macht des Volkes die ihre sei: Sie wissen nur zu gut, daß es nicht stimmt. |
|
|
|
Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts |
|
|
|
|
|
Man kann sich gut vorstellen, wie die Hinrichtung von Sokrates den etwa 26 Jahre jungen Platon erschütterte. Sokrates war bekanntlich in einem vorbildlich demokratischen Verfahren der Athener freien Bürger zum Tode verurteilt worden, so dass Platon seitdem das Vertrauen in die „Masse“ restlos verloren und sich für immer zu einem scharfen Kritiker der Demokratie entwickelt hat. Auch noch etwas musste dem jungen Platon seitdem klar sein, dass nämlich eine staatliche Ordnung mit allen Mitteln verteidigt wird. Deshalb verwundert es nicht, dass er nie zimperlich sein wollte, wenn es um die Mittel zur Einführung und Aufrechterhaltung der von ihm bevorzugten Ordnung ging. Noch einfacher ausgedrückt: Er war nie prinzipiell gegen Gewalt und Repressalien. Das beunruhigt immer wieder. Man würde einen so bedeutenden Denker wie Platon lieber als einen toleranten und friedlichen Menschen sehen, aber wir dürfen uns nicht von den Emotionen mitreißen lassen.
Es ist nämlich unbestritten, dass die Gewalt eine der wichtigsten Faktoren der Geschichte ist. Insoweit hat Platon nur die eigenen Beobachtungen aus seiner Zeit und die ihm bekannten historischen Tatsachen verallgemeinert. Diesbezüglich kann man bei ihm sogar den Sinn für die Realität loben, was normalerweise gar nicht zu seiner Philosophie passt. Auch in der Zeit nach Platon ist die Gewalt aus der Geschichte nicht verschwunden. Nach mehr als zwei Jahrtausenden stellte der große deutsche Philosoph Hegel fest, dass die Geschichte ein Schlachthof sei. Sein berühmtester Schüler Marx hat gemeint, dass die Geschichte ein ständiger Klassenkampf sei. Wenn man den Begriff Klasse nicht so eng fasst wie er, kann man ihm nur Recht geben. Die massivsten Ausbrüche der Gewalt in einer Gesellschaft haben ihre wichtigste Ursache in der hoffnungslosen Lage der beherrschten sozialen Gruppen. In ihrer Verzweiflung haben solche Gruppen irgendwann zu rebellieren begonnen, wonach den beleidigten und überraschten Herrschern nichts anderes eingefallen ist, als mit Brutalität zu reagieren. In ihrer Selbstherrlichkeit waren die Herrscher immer bereit, die Welt in Schutt und Asche zu legen und beliebig viel Blut der Unschuldigen zu vergießen, um die Ordnung, in der sie alle Macht und Privilegien genießen, zu verteidigen. Am Anfang der Epoche der Aufklärung und des Humanismus wurde - wieder einmal - die Hoffung geweckt, dass dank des immensen wissenschaftlichen und produktionstechnischen Fortschritts möglich sein wird, eine gerechte Ordnung zu schaffen, in der jeder ein würdiges Leben führen könnte. Das hat sich als ein großer Irrtum erwiesen. Nicht die sogenannte liberale Demokratie und erst recht nicht die freie Marktwirtschaft haben dafür gesorgt, dass in der neuen Ordnung, die man später als Kapitalismus bezeichnet, die Gewalt verschwindet. Insoweit bräuchte Platon auch heute noch seine Auffassung über die Gewalt in der Geschichte nicht korrigieren. Weil wir diese Tatsachen gern übersehen, ist es angebracht sich an sie zu erinnern. Desto mehr, wenn man bedenkt dass gerade die kapitalistische Ordnung wieder einmal vor ihrem Zusammenbruch steht.
Die Geschichte als Schlachthof: Eine kurze Rückbesinnung auf die Moderne
In den modernen Gesellschaften, die mit dem großen Blutopfer der großen französischen Revolution (1789) im Namen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit entstanden sind, ist die politische und ökonomische Macht an die Bürgerlichen übergegangen, von denen man sich erhoffte, dass sie die Ideale der Aufklärung und des Humanismus verwirklichen würden. Aber die neue Klasse hatte alles andere als das im Sinne. Nachdem sie sich ihrer Macht sicher war, hat sie alle Versprechungen verraten und sich die Vorstellungen, Wertungen und Praktiken der früheren Machteliten zu eigenen gemacht. Eine reichliche Auskunft über die wahre Gesinnung der Bürgerlichen lieferte uns schon das erste Jahrhundert ihrer Herrschaft: die Geschichte des Kapitalismus des 19. Jahrhunderts.
Bereits der erste Aufstand der Pariser Arbeiter (1848) wurde blutig niedergeschlagen. Die Historiker sprechen von etwa 370 Opfern. Aber das war nur so etwas wie ein Vorgeschmack auf das, was bald kommen würde. Nach der Niederschlagung des zweiten Aufstandes der Pariser Arbeiter von 1871, bekannt als Pariser Kommune, wurden von den herrschenden Bürgerlichen richtige Blutorgien veranstaltet. Die verzweifelten Kommunarden, sich der bevorstehenden Niederlage in einem Kampf mit dem weit überlegenen Gegner bewusst, haben damals ...
„ ... etwa 100 Geiseln hingerichtet. Ob jemals bekannt werden wird, wie viele Kommunarden den Kämpfen zum Opfer fielen? Tausende von ihnen wurden hinterher niedergemetzelt: die Versailler bekannten sich zur Zahl von 17.000 Hinrichtungen, das kann aber bestenfalls die halbe Wahrheit sein. über 43.000 Menschen wurden gefangengenommen und 10.000 von Kriegsgerichten verurteilt. Fast die Hälfte der Verurteilten wurde ins Strafexil nach Neu-Kaledonien verschickt, die übrigen wanderten in die Gefängnisse. So sah die Rache der ,ehrbaren Leute‘ aus. Ein Meer von Blut trennte fortan die Pariser Arbeiterschaft von den ,Höhergestellten‘. Und von jetzt an wussten die Sozialrevolutionäre, was sie erwartete, wenn es ihnen nicht gelang, die Macht zu behalten.“
Der bekannte Historiker Eric Hobsbawm folgerte daraus:
„Und von jetzt an wußten die Sozialrevolutionäre, was sie erwartete, wenn es ihnen nicht gelang, die Macht zu behalten.“
In Russland - dem Land in dem die erste proletarische Revolution siegte - haben die Arbeiter nach dem Übergang zum Kapitalismus die gleiche Erfahrung gemacht. Erinnern wir uns etwa an das brutale Vorgehen der zaristischen Polizei und des Militärs gegen die von einem Geistlichen, dem Popen Georgi Gapon geführte Massendeputation Petersburger Arbeiter, die am 22. Januar 1905 dem Zaren eine Bittschrift mit durchaus gemäßigten sozialen und politischen Forderungen übergeben wollten. Alleine an diesem „Blutsonntag“ wurden unter den Teilnehmern des Marsches über l000 Todesopfer gezählt. Auch davor gab es schon größere Streiks und soziale Unruhen, die ebenfalls mit Waffengewalt unterdrückt wurden, wie etwa im Juli 1903 in Kiew, Odessa, Tiflis und Baku. Das alles waren Versuche, lediglich ein bisschen bessere soziale Bedingungen zu erkämpfen, nicht aber eine radikale Gesellschaftsumwälzung herbeizuführen - wie etwa bei der Rebellion der Studenten auf dem Tian'an'men-Platz (1989). Wegen dem tragischen Ende aller solcher Proteste hat sich bei den Russen immer mehr die Überzeugung verfestigt, dass sich das kapitalistische System nicht umgestalten lässt. Die moralischen und geistigen Voraussetzungen für den Sieg der Oktoberrevolution waren geschaffen. Auch noch lange nach der Oktoberrevolution hat die ganze kapitalistische Welt alles getan, die Sowjetrepublik mit allen denkbaren Mitteln zu vernichten. Die ökonomische Blockade könnte man noch zu den harmlosesten Mitteln zählen. Es gab bekanntlich zahlreiche, vom kapitalistischen Westen finanzierte und organisierte bewaffnete Interventionen, die nicht unwesentlich damit zu tun hatten, dass so etwas wie der Stalinismus überhaupt erst entstehen konnte.
Erwähnen wir jetzt auch noch den Faschismus. Er war auch nur ein Versuch durch eine totalitäre politische Ordnung den Kapitalismus zu verteidigen. Die rücksichtslosen und raffgierigen deutschen Machteliten der Weimarer Zeit, als sie das Volk und die Demokratie verraten und in die Hände von Hitler ausgehändigt hatten, wussten nämlich ganz genau wer dieser Mensch ist und welcher Gesinnung diejenigen, die zu seiner Clique gehörten, waren. Es war ihr Vorsatz, die Republik in die Hände der Menschen zu übergegeben, die für das Gröbste am besten geeignet sind.
Wenn man nun aber den Zusammenbruch des Kommunismus betrachtet, bekommt man den Eindruck, dass die historischen Prozesse in unserer Zeit viel humaner verlaufen. Der Systemwechsel konnte ohne brutale Schlachten mit Blutvergießen durchgeführt werden. So scheint es dem westlichen Beobachter, der sich von den westlichen Medien informieren lässt. Aber gerade deshalb soll man vorsichtig sein. War der Systemwechsel wirklich so friedlich? Nehmen wir wieder als Beispiel Russland bzw. die UdSSR. Zu Beginn des „Reformprozesses“ nach den Rezepten der Chicago-Boys hat einer der Haupttäter, Gaidar, vor der Presse - lachend - verkündet, dass dieser Prozess wohl Millionen Tote kosten werde. Er hat recht behalten, die Bevölkerungsverluste der Jelzin-Gaidarzeit, in der die Menschen in den Wintern erfroren und zwischendrin vor Unterernährung und Krankheiten umkippten, bei gestrichener medizinischer Versorgung, und in der die Lebenserwartung von 72 auf ca. 55 Jahre sank, werden auf 10-15 Millionen geschätzt. Das sind deutlich mehr als Stalin auf dem Gewissen hatte. Man erinnert sich hier, dass auch Platon die Unangepassten „aufs Land hinausschicken“ wollte, was heute dem Verhungern unter den Brücken entsprechen würde. Über diesen „Kollateralschaden“ der kapitalistischen Konterrevolution wird nicht berichtet. Wie es schon Nietzsche feststellte: Die Geschichte schreibt der Sieger.
Man sollte aber nicht übersehen, dass der Zusammenbruch des Kommunismus ein sehr untypischer Systemwechsel war. Die kommunistische Herrschaft ist nicht mit den früheren Klassenherrschaften vergleichbar. Die Verteidiger der kommunistischen Ordnung hatten nämlich nur wenig zu verlieren. Zum einen war das persönliche Eigentum der Mitglieder der Parteifunktionäre, auch wenn sie die wichtigsten Posten in der Politik und Wirtschaft bekleidet haben, nur unwesentlich größer als das was der Durchschnitt der Bevölkerung hatte und zum anderen hielt sich ihre Macht über die Arbeiter, weil diese unkündbar und sozial versichert waren, nur in sehr engen Grenzen. Die Machteliten in den heutigen kapitalistischen Ländern haben dagelegen unvergleichbar mehr zu verlieren. Bekanntlich gehört 20% der Bevölkerung in den alten kapitalistischen Staaten etwa 80% von dem, was die ganze Gesellschaft besitzt. Eine kleine Minderheit ist also ökonomisch 4 Mal stärker als der große Rest der Gesellschaft. Dieser Minderheit ist es auf dem alten Kontinent schon längst gelungen, sich durch ihre ökonomische Macht sozusagen den Staat mit seinen „frei“ gewählten Politikern zu kaufen, damit sie in ihrem Sinne handeln. In Amerika rekrutieren sich die Politiker mehrheitlich aus den Reihen der Reichen und Reichsten. Wir werden uns dies in weiteren Beiträgen genau anschauen. Es wäre ein Wunder, wenn diese Machtelite es ohne große Repressalien und Blutvergießen hinnehmen würde, dass die Ordnung, in der sie märchenhaft reich und mächtig geworden ist, wesentlich umgestaltet wird. Darüber müssen wir uns heute, da der Kapitalismus bzw. die freie Marktwirtschaft wieder einmal zusammenbricht und die biologische Existenz der ganzer Völker bedroht, Gedanken machen und versuchen zu Lösungen zu kommen, die Platon doch nicht Recht gäben, dass ohne Gewalt nichts geht.
Die praktischen Fragen der Funktionsweise der hierarchisch-autoritären Ordnung
Wie eine Ordnung durch eine andere ersetzt wird, ob sich bei dem - wie man es heute bezeichnen würde - „revolutionären Übergang“ Gewalt nicht verhindern lässt und ob sie sich überhaupt rechtfertigen lässt, ist zweifellos eine interessante und wichtige Problematik, aber wir wollen dies nicht weiter vertiefen. Wir können aber sagen, dass sich hier Platon kaum getäuscht hat. Nach mehr als zwei Jahrtausenden können wir ihm auch Recht geben, dass Gewalt für die normale Funktionsweise jeder Ordnung auch unentbehrlich ist. Die Soziologen bezeichnen sie heute als „strukturelle Gewalt“. Weil sie ein Phänomen jeder Ordnung ist, nicht nur der von Platon, gehen wir auf diese auch interessante und wichtige Problematik jetzt nicht ein. Uns geht jetzt vor allem darum, ob die von Platon konzipierte Vision einer Gesellschaftsform besser wäre als alle anderen Konzeptionen. Natürlich hat Platon das feierlich versprochen. In seinem „idealen Staat“, nachdem er sich konstituiert hat, sollte „nicht ... ein Stand in besonderem Maße glücklich sein, sondern so viel als möglich der ganze Staat“. Alle Gründe, welche Platon vorliegt, um dies beweisen oder zumindest glaubwürdig zu machen, sind aber nur in seiner Philosophie bzw. Ontologie zu finden. Deshalb haben wir uns diese genauer angeschaut. Fassen wir unser Ergebnis jetzt kurz zusammen.
In dem idealen Staat sollen diejenigen herrschen, die sich der Vernunft verpflichtet haben - die Philosophen. Sie sollten sozusagen schon automatisch wohlwollend und gerecht sein, weil das richtige Denken diese Motivation angeblich schon in sich hätte. Und auch Gott selbst hätte angeblich noch zusätzlich für ihre Tugendhaftigkeit vorgesorgt, indem er ihnen, schon als er sie formte, Gold in die Seelen beigemischt hätte.
Das alles lässt sich empirisch weder beweisen noch widerlegen. All die dem „idealen Staat“ zugrunde liegenden Annahmen sind also rein metaphysischer Natur. Weil aber keine Wissenschaft ohne nichtempirische Annahmen auskommt, können wir auch Platon nicht vorenthalten, solche zu nutzen. Wir lassen sie jetzt einfach gelten, unabhängig davon ob sie uns überzeugen bzw. auch wenn sie uns nicht überzeugen. Nur dann können wir unsere weitere Untersuchung des „idealen Staates“ bzw. der hierarchisch-autoritären Ordnung weiterführen.
Nachdem wir die Platonschen Grundannahmen bzw. die Prinzipien akzeptiert haben, auf welchen der „ideale Staat“ bzw. die hierarchisch-autoritäre Ordnung stehen sollte, stellt sich die Frage, wie diese Ordnung konkret funktionieren sollte. Wir können auch von den praktischen Fragen sprechen. Die erste wäre, wie sich die Denkenden und die mit der vergoldeten Seele, die man zu Herrschern machen soll, erkennen und aussortieren lassen. Diese Frage zieht eine andere nach sich. In der Praxis müsste man auch damit rechnen, dass die Besten, die man in der konkreten Situation gerade kriegen kann, doch nicht vollständig den Ansprüchen des idealen Herrschers genügen. Dann müsste man sich sozusagen auch mit den Zweitbesten zufrieden geben, also mit solchen die gewisse Unvollkommenheiten und Schwächen haben. Deshalb ist es folgerichtig, dass man irgendwelche Vorkehrungen trifft, dass auch solche Herrscher wohlwollend und gerecht herrschen. Und wie sollen diese Vorkehrungen aussehen? Quis custodiet custodes? Schauen wir uns an, wie Platon diese zwei wichtigen praktischen Fragen beantwortet hat.
1: Wie findet man heraus, wer zu den Herrschenden gehören soll?
Wie wir wissen, es gab viele philosophische Schulen im antiken Griechenland. Sie haben die Kultur und die Denkweise des Abendlandes auch geprägt, so dass nicht nur Platon sondern auch sie als wichtig zu bezeichnen sind. Darüber hinaus gab es auch Sophisten („Weisheitsbringer“), die Gelehrten der verschiedenen Schulen, die etwa mit den heutigen Experten und den Think-Tanks zu vergleichen wären. Sie waren bestimmt denkende Menschen, auch wenn man sie nicht der Philosophie von Platon zuordnen kann. Sie alle einfach zu disqualifizieren, ihnen zu unterstellen, dass sie sich irren und ihnen deswegen den Herrschaftsanspruch abzusprechen wäre kein ernstzunehmendes Argument. Aber ein besseres hat Platon nicht. Noch schwieriger dürfte es sein herauszufinden, wem Gott das Gold in die Seele beimischte. Nach einem Verfahren dafür, wie sich diese aussortieren ließen, werden wir bei Platon vergeblich suchen. Zusammengefasst kann man folgern, dass er keine Vorstellung hatte, wie die Selektion der „Besten“ konkret vor sich gehen könnte.
Desto mehr überrascht uns, mit welcher Selbstverständlichkeit Platon ausgegangen ist, dass die Philosophen die Selektion für den Nachwuchs nach objektiven Kriterien durchführen würden. Er ging nicht einmal davon aus, dass sie ihren eigenen Kindern gegenüber voreingenommen sein würden:
„Als Stammesgenossen werdet ihr meist euch selbst ähnliche Kinder zeugen; manchmal kann aber auch aus Gold ein silberner Nachkomme und aus Silber ein eherner gezeugt werden, und so auch die andern alle von einander. Den Regierenden nun gebietet der Gott zuerst und zumeist, daß sie über nichts so gute Wächter seien und auf nichts so sorgfältig achten wie auf ihre Nachkommen, was von diesen Stoffen ihren Seelen beigemischt ist, und falls ein Nachkomme von ihnen erzhaltig oder eisenhaltig geworden, so werden sie schlechterdings kein Mitleid mit ihm haben, sondern ihm die seiner Natur zukommende Stellung zuteilen und ihn unter die Handwerker oder Landleute stoßen; und wenn andererseits aus deren Mitte ein gold- oder silberhaltiger geboren wird, so werden sie ihn ehren und teils unter die Wächter, teils unter die Heller befördern, weil ein Götterspruch besage, dass dann das Gemeinwesen verloren sei, wenn Eisen oder Erz es bewache. Daß nun dieses Märchen bei ihnen Glauben fände, siehst du dazu eine Möglichkeit?.“
Wenn es um die Auswahl der Besten geht, darf eine andere Idee von Platon nicht unerwähnt bleiben. Man kann jetzt überrascht sein, aber für die Auffassung, die man manchmal für modern hält, auf der die Eugenik und der Sozialdarwinismus beruhen, hat schon Platon die Grundlagen geliefert. Er war sich sicher, dass sich bessere Menschen so züchten lassen, wie man es schon damals längst bei den Tieren erfolgreich praktiziert hat:
„Denn ich sehe ja in deinem Haus sowohl Jagdhunde als auch von dem edlen Geflügel gar mancherlei. … Zuerst wiewohl sie alle edel sind, sind nicht auch unter ihnen und werden immer einige die Besten? … Erziehst du nun aus allen ohne Unterschied Nachkommenschaft, oder strebst du nicht wenigstens danach, dass es soviel als möglich nur aus den Besten geschehe? Und aus den Jüngsten oder Ältesten oder denen, die am meisten in der Blüte der Jahre sind? … Und wenn es nicht so geschieht, so glaubst du, dass sich dir der Schlag der Hunde sowohl als der Vögel gar sehr verschlechtern werde? … Und was meinst du, sprach ich, von den Pferden und den übrigen Tieren? Etwa, dass es sich anders mit ihnen verhalte?.“
„Wie ausnehmend vollkommen werden dann unsere Oberen sein müssen, wenn es sich mit dem menschlichen Geschlecht ebenso verhält. Nach dem Eingestandenen sollte jeder Trefflichste der Trefflichsten am meisten beiwohnen, die schlechtesten aber den ebensolchen umgekehrt. Und die Sprösslinge jener sollten aufgezogen werden, dieser aber nicht, wenn uns die Herde recht edel bleiben soll; und dies alles muss völlig unbekannt bleiben, außer den Oberen selbst, wenn die Gesamtheit der Hüter soviel wie möglich durch keine Zwietracht gestört werden soll. …Und dann, denke ich, müssen wir stattliche Lose machen, damit bei jeder Verbindung jener Schlechtere dem Glück die Schuld beimesse und nicht den Oberen.“
Zu dem letzten Satz des Zitats soll noch etwas bemerkt werden. Auch bei der Wahl zu den höchsten Ämtern des Staates sollten also die Herrscher Täuschungen und Tricks nutzen, um die nicht guten und nicht fähigen von diesen Ämtern fernzuhalten. Es heißt dann, dass der Zweck die Mittel heiligt. Dies ließe sich rechtfertigen, wenn wir bei der Annahme bleiben, dass die Herrscher so tugendhaft wären, wie es Platon meint, dass sie folglich als Schwindler und Lügner nur das Beste für den ganzen Staat im Sinne hätten. Wie wäre es aber, wenn die Herrscher doch nicht so tugendhaft wären, wenn es also zwischen der Fähigkeit logisch zu denken und wohlwollend zu sein, keinen stärkeren Zusammenhang gäbe? Wie wäre es, wenn die Vernunft vor den asozialen Begierden wie etwa Machgier, Egoismus und Geltungssucht doch nicht schützt?
Es ist nicht besonders schwierig dies herauszufinden. Diejenigen, die besonders fähig wären zu manipulieren und zu hintergehen, würden die lukrativen Positionen im Staatsapparat für sich ergreifen. Auch noch ein wichtiger Grund spricht dafür, dass Schmeichler und Verführer sich im Staatsapparat durchsetzen würden. Die Ehrlichen und Fleißigen würden ihre Zeit und Energie für nützliche Aufgaben verbrauchen, so dass ihnen kaum was übrig bleiben wird, an ihrer eigenen Karriere zu arbeiten. So etwas hätte schon Platon auffallen können, wenn er selbst Sokrates in den Mund legt, dass dieser von keinen praktischen Tätigkeiten etwas verstünde. Zwei Jahrtausende danach schreibt Adam Smith:
„An den fürstlichen Höfen, in den Salons der Vornehmen … tragen allzu oft Schmeichelei und Falschheit den Sieg davon über Verdienst und Fähigkeiten. In diesen Gesellschaftskreisen wird die Fähigkeit, Gefallen zu erregen, weit mehr beachtet als die Fähigkeit, wirkliche Dienstleistungen zu vollbringen. … All die großen und ehrwürdigen Tugenden, all die Tugenden, die einen Menschen für Ratsversammlung und Parlament oder für das Feld tüchtig machen, werden von den frechen und hohlen Schmeichlern, die gemeinhin in solchen Gesellschaftskreisen die größte Rolle spielen, mit der äußersten Verachtung und Verspottung behandelt.“
2: Was ist zu tun, damit sich die Herrschenden ihren wahren Aufgaben widmen?
Man kann nicht übersehen, dass Platon die verschiedenen Bedürfnisse und Leidenschaften des biologischen Körpers nur für lästig hält, und zwar, weil sie den Menschen vom Wege zur wahren Erkenntnis und zur wahren Tugend abhalten. Der Leib hindere die Seele an der wahren Existenz im Reich der Ideen teilzunehmen, also wie Gott zu sein und das Gute und Böse zu erkennen: „Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum“. In der Platonschen Philosophie ist also die Geringschätzung des Leibes und der Sinnlichkeit bereits angelegt, auch wenn er noch nicht so weit geht wie später die Stoiker und Christen, für die der Körper das Gefängnis der Seele sei. Alles spricht bei Platon dafür, dass er sich nicht ganz sicher war, dass die Vernunft des Philosophen mächtig genug wäre, unter allen Umständen vor den Versuchungen des Leibes zu schützen. Aber wie dem auch sei, er hat Vorkehrungen vorgeschlagen, die offensichtlich die Herrscher vor den Verlockungen der Sinne fernhalten sollen. Nur so ist es nämlich zu erklären, warum im „vollkommen einrichteten Staate“:
• Der persönlicher Besitz für die Führungsschicht so gut wie aufgehoben, und
• Frauen, Kinder und die ganze Erziehung gemeinschaftlich sein sollen.
Diese zwei Maßnahmen sind die einzigen, welche die Machtausübung der Herrschenden beschränken sollen. Sie sollen sich die Herrschenden selbst auferlegen, so dass sie auch als Selbstkontrolle der Machtausübung verstanden werden können. Und damit ist im Großen und Ganzen schon alles gesagt, was für die praktische Einrichtung der von Platons entworfenen Ordnung des „idealen Staates“ nötig sein sollte. Dieser wurde noch nie bis zum letzten Detail realisiert, aber die praktischen Versuche, die als Variationen der Platonschen Idee gesehen werden können, gab es. Man kann sie gut untersuchen und daraus die Konzeption der hierarchisch-autoritären Ordnung beurteilen. Im nächsten Beitrag fangen wir damit an. .
|
|
|