DIE BISHERIGEN PARADIGMEN DER WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT
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  Die „negative“ Anthropologie als paradigmatische Grundlage der Moderne
  Baruch de Spinozas unendliches Universum ohne Zentrum und ohne Jenseits
       
 
Wenn man den Spinoza einst aus seiner starren, altkartesianischen, mathematischen Form erlöst, und ihn dem großen Publikum zugänglicher macht, dann wird sich vielleicht zeigen, dass er mehr als jeder andere über Ideendiebstahl klagen dürfte. Alle unsere heutigen Philosophen, vielleicht oft ohne es zu wissen, sehen durch die Brillen die Baruch Spinoza geschliffen hat.
 
    Heinrich Heinebedeutender deutscher Dichter, Schriftsteller und Journalisten aus dem 19. Jahrhunderts    
       
 
Das ganze System Spinozas fußt auf deduktiver Logik und gründet sich auf Definitionen und Axiomen, alles mit verschwenderischer Erfindung ausgeführt. Es ist vielleicht das hervorragendste Beispiel eines systematischen Gedankengebäudes in der Geschichte der Philosophie ... eine kaum je erreichte gedankliche Ballung und logische Strenge.
 
    Bertrand Russellbekannter britischer Mathematiker, Logiker und Philosoph    
 
Spinoza ist einer der tiefsten und reinsten Menschen, welche unser jüdisches Volk hervorgebracht hat.
 
    Albert Einstein   

Es lässt sich nicht übersehen, dass Machiavelli und Hobbes zur praktischen politischen Theorie nicht viel beigetragen haben. Die absolutistische Herrschaftsordnung, die sie empfehlen, ist alles andere als eine neue Erfindung. Neu bei diesen Denkern ist, dass sie von den Herrschern keine moralischen Qualitäten erwartet und verlangt haben, und angeblich gerade deshalb sollten sich diese Herrscher besser um ihre Untertanen kümmern. Glaubwürdig ist diese Auffassung in der Tat nicht. Warum sollten solche Herrscher bessere Herrscher sein? Außerdem würde man sich fragen, ob die absolutistischen Herrscher nicht schon immer rücksichtslos und egoistisch, also böse gewesen wären? Sie waren es bestimmt, auch ohne dass ihnen dies jemand zu raten brauchte. Nur in einer Hinsicht war die staatspolitische Konzeption der absolutistischen Herrschaft ohne Moralansprüche ein Fortschritt: Die an keinerlei moralische Normen gebundenen Herrscher könnten nicht religiöse Fanatiker sein, so dass sich daraus die Trennung des Staates von der Kirche ergab. Diese Trennung, also die Säkularisierung des Staates, haben Machiavelli und Hobbes zumindest verlangt, mit der Begründung, dass die religiösen Menschen leicht zu den gefährlichen religiösen Eiferern werden können, die für die Umsetzung ihrer wahnsinnigen „Wahrheiten“ bereit sind, die Hölle auf Erden  zu entfachen. Aber auch hier haben Machiavelli und Hobbes ihre Konzeption nicht zu Ende gedacht. Wer sollte nämlich die absolutistischen Herrscher davon abhalten,, wenn sie es nur wollten, doch zu religiösen Fanatikern zu werden? Wenn sich die Religion so leicht missbrauchen lässt, um eigene kriminelle Absichten und Taten nicht gegenüber dem eigenem Gewissen, sondern Gottes Willen zu verantworten, warum sollten die absolutistischen Herrscher darauf verzichten?

In der Staatstheorie von Machiavelli und Hobbes kommt deutlich die größte Schwäche des empirischen Denkens zum Vorschein, auf die schon der große chinesische Philosoph Konfuzius (551 - 479 v. Chr.) hingewiesen hat: „Die Erfahrung ist wie eine Laterne im Rücken, sie beleuchtet stets nur das Stück Weg, das wir bereits hinter uns haben.“ Aus den Tatsachen die bereits existieren, lassen sich kaum neue Theorien entwerfen. Dieses Problems waren sich die ersten Empiriker, auch Machiavelli und Hobbes, nicht bewusst. Es verwundert also nicht, dass sie dem absolutistischen Staat von Platon nicht entgehen konnten. Mit ihrer „Laterne im Rücken“ konnten sie nicht den Weg nach Vorne sehen, nicht in die Zukunft schauen, welche ganz andere Tatsachen brachte, als die bis dahin bekannten. Wie wir es bereits erörtert haben, aus den damals verfügbaren Tatsachen ließ sich nicht erahnen, dass bald eine Klasse entstehen würde, die der Kapitalbesitzer, die finanziell mächtiger sein würde als der Staat mit all seinen Institutionen. Sollte es in der Politik alleine darum gehen, eine starke Macht in der Gesellschaft zu statuieren - einen Leviathan - welche verhindern sollte, dass sich die Menschen gegenseitig umbringen, wie es Machiavelli und Hobbes behauptet haben, dann könnte dafür anstatt des Staates auch eine ökonomisch dominante Klasse sorgen. Und genau das ist bald geschehen. In der Epoche der Moderne herrscht nicht die Politik und der Staat, sondern die Produktionsmittel besitzende Klasse. Die wichtigste Quelle ihrer Macht ist nicht mehr die Gewalt, sondern Erpressung und Überredung.mehr Machiavelli und Hobbes sind in ihrer Staatstheorie offensichtlich in der Vormoderne stecken geblieben.

Es ist natürlich nicht verwunderlich, dass die neue empirische Philosophie am Anfang noch unter manchen Kinderkrankheiten leiden musste. Unter anderem wurde den Empiristen erst viel später klar, dass die wissenschaftlichen Theorien nicht mit Tatsachen beginnen, sondern mit ihnen enden. Die Theorien entdecken die Tatsachen und nicht umgekehrt. Man muss also zuerst eine neue Theorie haben, um sie empirisch zu prüfen und damit auch neue Tatsachen zu entdecken. Man kann Experimente nicht blind machen und erwarten, dass man etwas erreicht. Vor allem der erste Empiriker Bacon hat dies sträflich übersehen. Die Theorien entstehen erst in einem neuen Denksystem, oder anders gesagt Paradigma. Dieses neue Paradigma hatten Machiavelli und Hobbes nicht. Sie haben es aber mit ihrer Anthropologie, mit der Auffassung über die negative menschliche Natur, vorbereitet.

Die Philosophie des großen niederländischen Denkers Baruch de Spinoza (1632 - 1677) kann man als den gedanklichen Rahmen für das ordnungspolitische Paradigma der Moderne betrachten . Was Platon für die Vormoderne geschaffen hat, hat Spinoza für Moderne geschaffen. Wir haben in den vorigen Beiträgen erläutert, dass Platon einen gedanklichen Rahmen entworfen hat, innerhalb dessen sich hierarchisch-autoritäre Ordnungen rechtfertigen und legitimieren lassen. In der kybernetischen Sprache ausgedrückt, Platon hat mit seiner Ontologie, Anthropologie und Ethik das Lenkungsprinzip Steuerung gerechtfertigt und legitimiert. Das andere Lenkungsprinzip ist die Regelung. Es lässt sich auf eine erstaunlich umfangreiche und vollständige Weise innerhalb Spinozas Vorstellung über Welt, Gesellschaft und Menschen rechtfertigen und legitimieren. Anders gesagt, Spinoza entwarf einen gedanklichen Kontext für eine dezentrale Ordnung, die man in der Wirtschaft als Marktwirtschaft und in der Politik als Demokratie bezeichnet. Wir wollen uns aber zuerst Spinozas Ontologie, Anthropologie und Ethik näher anschauen, um später zu zeigen, warum hier die Grundlagen für das Lenkungsprinzip Regelung geschaffen sind.

Spinozas Vorstellung von der Welt (Realität) ohne äußeres Vorbild (Jenseits)

Erinnern wir uns noch einmal an die Platonsche Auffassung darüber, wie die Realität oder das Sein aufgebaut ist. Es gibt bei ihm zwei Realitäten oder Welten: eine perfekte Welt der Ideen und die andere, in der wir leben, die nur eine mangelhafte und fehlerhafte Nachahmung der perfekten Welt ist. Er teilt also die Realität (Sein) auf in Diesseits und Jenseits. Das Diesseits ist durch die Sinne wahrnehmbar, das Jenseits, also die perfekte Welt, ist es nicht. Jenseits ist das Reich der Ideen. So gibt es laut Platon dort zum Beispiel eine Idee Mensch, eine Idee Pferd eine Idee Baum usw. Die Menschen, die Pferde und die Bäume, so wie wir sie aus der alltäglichen Erfahrung kennen, sind mehr oder weniger gelungene Kopien der Ideen. Sie sind sterblich, die Ideen dagegen dauern ewig. Daraus folgt, dass die Ideen auch die Ursache der Sinnenwelt sind.

Als Platon an seiner Philosophie gearbeitet hat, war es noch für alle Menschen selbstverständlich, dass es unten und oben gibt. Unten sind die Menschen und die Natur, oben, etwa auf dem Olymp, sind die Götter. Als Spinoza auf die Welt kam, war schon manches ziemlich anders. Kopernikus schob bereits die Erde beiseite und die Sonne ins Zentrum des Universums rückte, Galilei hatte schon ein ziemlich leistungsfähiges Teleskop entwickelt und wer sich traute es zu benutzen, konnte feststellen, dass die zweite Welt unendlich weit sein muss, sollte es sie überhaupt geben - so wie es Giordano Bruno behauptete, weshalb er auf dem Scheiterhaufen enden musste. Nebenbei gesagt, Spinoza hat seinen Lebensunterhalt, wenigstens zum Teil, durch das Schleifen optischer Linsen verdient, darunter auch solche für Teleskope. Man kann sich gut vorstellen, dass diese neuen empirischen Erkenntnisse Spinoza auf den Gedanken brachten, dass es in der Realität keinen Anfang und kein Ende gibt, und dass sie in jeder Hinsicht unendlich sein muss. Aber Spinoza war trotzdem kein empirischer, sondern ein rationalistischer Philosoph, so dass für ihn die Grenzen der Erfahrung keine Grenzen des Denkens waren, und er hat sie immer, wenn er es für nötig befand, auch überschritten. Auch in seiner Auffassung darüber, wie die Wirklichkeit aufgebaut ist. Diese seine Auffassung, seine Ontologie, wollen wir jetzt in groben Zügen erläutern. Davor eine kurze Bemerkung:

Die Platonsche Vorstellung darüber, wie die Wirklichkeit aufgebaut ist, seine Ontologie, lässt sich ganz bestimmt empirisch nicht überprüfen. Man kann aber auch nicht nachweisen, dass sie falsch ist, so wie man zum Beispiel auch nicht nachweisen kann, dass es Gott nicht gibt. Auch  Spinozas Ontologie kann man nicht empirisch vollständig nachweisen. Das ist aber nicht entscheidend. Vom heutigen Stand der Erkenntnistheorie kann man behaupten, dass wir nie eine Ontologie haben werden, deren Richtigkeit einwandfrei nachweisbar wäre. Die ontologischen Entwürfe sind keine wissenschaftlichen Theorien, sondern sie haben eine andere Aufgabe. Sie sind der gedankliche Rahmen für die Lösungen, mit denen wir in der Welt, in der wir objektiv leben, etwas praktisch bewirken und erreichen können. Deshalb ist die „nutzloseste“ Disziplin dieser Welt, die Philosophie, eine durchaus nützliche Disziplin, die nicht gestorben ist, obwohl man ihr schon unzählige Tode vorhergesagt hat.

Wie stellt sich Spinoza die Realität vor? Alles was man empirisch wahrnehmen kann, die Körper in Raum und  Zeit, mit denen wir praktisch in Berührung kommen und all diejenigen, die wir im unendlichem Universum beobachten und vermuten können, sind für ihn ein Attribut der Wirklichkeit, das er Ausdehnung nennt. Das zweite Attribut heißt bei ihm Denken. Das Denken betrifft vor allem die Aktivität im menschlichen Kopf, aber Spinoza meint, dass für alle Mineralien, Pflanzen, Tieren usw. auch Wissen (Ideen) über sie in einem universalen Verstand existiert, dass sie also zugleich gedacht sind. Ansonsten gäbe es sie überhaupt nicht. Das ganze Universum ist nach Spinoza sozusagen beseelt. Daraus folgt, dass das Denken auch unendlich ist, wie die materielle Körperwelt. Mit diesen zwei Merkmalen, mit dem Denken (Geist) und der Ausdehnung (Materie), ist die gröbste Struktur der Realität (bzw. des Seins) nach der Auffassung von Spinoza vollständig erfasst. Etwas außerhalb dieser einen Realität gibt es nicht.

Der Vollständigkeit halber erwähnen wir auch noch, dass Spinoza der Meinung ist, dass die Realität (das Sein) neben diesen zwei Attributen noch unendlich viele andere hat, die aber dem Menschen unzugänglich und unbekannt sind. Hier heftet Spinoza der Realität auch etwas an, was man weder denken und schon gar nicht empirisch nachprüfen kann. Wozu er so viele Attribute brauchte, kann man nicht wissen. Vielleicht klingt es imposanter, wenn die Wirklichkeit nicht nur zweimal, sondern unendlich Mal unendlich ist. Hier blieb Spinoza dem alten nichtempirischen bzw. spekulativen (metaphysischen) Denken verhaftet. Auch von Gott konnte er nicht lassen. Die Realität oder das Sein, mit unendlich vielen Attributen, die selbst unendlich sind, bezeichnet er auch als Gott, aber immer wieder sagt er anstatt Gott auch Natur, so dass Gott und Natur bei ihm dasselbe sind.

„Unter Gottes Regierung verstehe ich die feste und unveränderliche Ordnung der Natur, oder die Verkettung der natürlichen Dinge; denn ... die allgemeinen Naturgesetze, nach denen Alles geschieht und sich bestimmt, nur die ewigen Beschlüsse Gottes sind, welche immer die ewige Wahrheit und Nothwendigkeit einschliessen. Es ist daher dasselbe, ob ich sage, Alles geschieht nach den Gesetzen der Natur, oder Alles ordnet sich nach dem Beschluss und der Leitung Gottes.“ ... >

Neben Gott und Natur benutzt Spinoza noch einen dritten Begriff, Substanz, um die Realität (das Sein) in ihrem ganzen Umfang zu erfassen. Die Substanz definiert er als „das, was an sich ist und durch sich selbst begriffen wird“, d. i. das, dessen Begriff von keinem anderen abhängig ist. Den Begriff Substanz nutzte schon Rene Descartes (1596 - 1650), der erste große rationalistische Philosoph der Moderne. Für ihn sind aber Geist (res cogitans) und Körper (res extensa) zwei verschiedene „geschaffene Substanzen“ der Realität - gemeint ist von Gott geschaffen, so dass es bei Descartes auch das Jenseits gibt. Was also bei Spinoza zwei Attribute einer Substanz sind, sind bei Descartes zwei voneinander getrennte Substanzen. Man sagt in der Philosophie dazu Dualismus, die Auffassung von Spinoza bezeichnet man auch als Monismus. Weil Spinoza alles was existiert (das Sein) auch als Gott bezeichnet, bezeichnet man seinen Monismus noch öfter als Pantheismus (von pan = alles und theos = Gott).

Es soll noch erwähnt werden, dass Pantheismus nicht eine Erfindung von Spinoza ist. Schon beim antiken Philosophen Xenophanes (570 - 480 v. u. Z.) gab es nur einen einzigen Gott, der aber weder in seiner Gestalt noch in seinen Gedanken dem Menschen vergleichbar sei. Und schon gar nicht könnte Gott ein personales Wesen sein, das strafe, zürne oder in die Naturgesetzte eingreife und  „Wunder“ vollbringe. Ein solcher Gott, sozusagen ein Puppenspieler, wäre für Xenophanes absurd. Nach ihm muss Gott allgegenwärtig sein, er sollte mit dem Weltganzen identisch sein. Xenophanes stellte also die Behauptung auf, es gebe hinter der Vielfalt der Erscheinungen ein ewiges, unveränderliches Sein, so dass alles beseelt ist. Man soll noch erwähnen, dass es die Auffassung von der beseelten Welt auch in östlichen Religionen gibt. Der Verdienst von Spinoza ist darin zu sehen, dass er den Pantheismus als einen Monismus so gestaltet hat, dass er ziemlich gut mit den Erkenntnissen zurechtkommt, welche die neuen Wissenschaften hervorgebracht haben, und zwar noch bis heute.

Von entscheidender Bedeutung in Spinozas Ontologie ist aber die Auffassung, dass es zwischen den Attributen keinen kausalen Zusammenhang gibt. Daraus ergeben sich die wichtigsten Konsequenzen seiner Philosophie, die wir uns genauer anschauen wollen.

Der Geist (Denken) und die Materie (Ausdehnung) als autonome (unabhängige) Attribute

Das Wort Attribut darf man aber bei Spinoza nicht im direkten wörtlichen Sinne verstehen, als attribuere, lateinisch „zuteilen, zuordnen“; daraus attributum, als „das Zugeteilte“. Die Attribute sind nicht etwas, was sozusagen einem gemeinsamen Träger zugeordnet wird: Die Substanz für sich alleine gibt es bei Spinoza nicht, sie ist nichts mehr als die Summe der Attribute, deren Zahl unendlich ist. Das Denken und die Ausdehnung sind diejenigen zwei, mit denen der Mensch umgehen kann. Und diese - was natürlich auch für alle anderen gilt -, können sich nicht gegenseitig beeinflussen. Das Geistige ist nur aus Geistigem, das Körperliche nur aus Körperlichem zu erklären, nicht Geistiges aus Körperlichem oder umgekehrt. Wie kann man sich das vorstellen? Versuchen wir es mit einem Beispiel:

Ein Gegenstand kann verschiedene Formen (rund, oval, eckig, flach, ...) und verschiedene Farben (rot, grün, blau, ...) haben. Diese zwei Eigenschaften sind beliebig kombinierbar. Daraus folgt, dass die Form etwas völlig Anderes als die Farbe ist. Ob die Form und die Farbe dann auch völlig voneinander unabhängig sind? Das ließe sich nicht unbedingt behaupten. Ohne Form (Oberfläche) gäbe es nämlich auch keine Farben. Diese zwei Eigenschaften existieren entweder beide zusammen oder gar keine von beiden, und trotzdem kann jede für sich „tun“, was sie will, ohne dass sie dabei die andere beeinflusst. So musste sich Spinoza die voneinander unabhängigen Attribute vorstellen, die trotzdem zu einem Ganzen gehören.

„Der Körper kann weder den Geist zum Denken noch der Geist den Körper zur Bewegung oder zur Ruhe oder zu etwas anderem (wenn es ein solches gibt) bestimmen.
Denn jedes Attribut wird durch sich und ohne ein anderes begriffen. Darum schließen die Daseinsformen jedes Attributs den Begriff ihres Attributs, nicht aber den eines andern ein.“ ... >

In heute üblicher Sprache würde wir sagen, Spinoza behauptet, dass die Gesetze der materiellen Körperwelt, also die Naturgesetze, und die Gesetze der Logik, also die Denkweisen, völlig unterschiedliche Phänomene sind. Das ist eine sehr wichtige Schlussfolgerung, die direkt aus seiner Ontologie folgt.

Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen der Autonomie (Unabhängigkeit) der Attribute

Die Annahme von der Unabhängigkeit der Attribute Denken und Materie zieht mehrere weit reichende Folgen nach sich. Erwähnen wir die erkenntnistheoretischen, und zwar nur ganz kurz, weil sie für uns nicht die wichtigsten sind.

Wenn das Denken etwas Anderes als die Körperwelt bzw. Natur wäre, ist es nicht leicht zu verstehen, dass wir über die Natur überhaupt etwas wissen könnten. Ein dermaßen radikaler Zweifel am Wissen (Agnostizismus) konnte den damaligen Naturwissenschaftlern gar nicht gefallen. Das war wahrscheinlich der wichtigste Grund dafür, dass sie mit der Philosophie von Spinoza nichts anfangen konnten. Spinoza musste in ihren Augen nur ein Metaphysiker aus  längst vergangenen Zeiten sein. Es waren hauptsächlich die Humanisten, die sich für diese Philosophie begeistert haben, wie etwa Goethe, und zwar wegen seiner Anthropologie und Ethik - dazu mehr im nächsten Beitrag. Ein Mensch wie Spinoza war in der Tat das genaue Gegenteil vom Wissenschaftler, wie man ihn damals verstand, nämlich als einer der Experimente durchführt und sich mit den Tatsachen herumschlägt. Spinoza war wahrhaftig ein Grübler, der sich aus seiner Zurückgezogenheit von niemandem herausreißen ließ. Erwähnen wir dazu einen Fall, der sehr aussagekräftig ist. Als ihm der Kurfürst den Lehrstuhl der Philosophie in Heilderber angeboten hat, lehnte er höflich ab: „Ich glaube, ich würde aufhören, die Philosophie zu fördern, müsste ich mich dem Unterricht der Jungend widmen. Ferner weiß ich nicht, innerhalb welcher Grenzen ich die Freiheit des Philosophierens erhalten müsste, ohne den Anschein zu erwecken, die anerkannte Religion umwälzen zu wollen ... Sie werden deshalb verstehen, dass ich keinerlei Hoffnung auf ein besseres Schicksal hege, sondern mich der Vorlesungen einfach deswegen enthalten will, weil ich die Ruhe hochschätze, die ich auf diese Weise am besten gewinnen kann.“

Trotzdem setzte dieser aus der Welt zurückgezogene Mensch die wichtigsten Koordinaten für die neue Epoche der Moderne, auch für die Wissenschaft. Er war aber seiner Zeit weit voraus, so dass er deshalb missverstanden blieb. Erst die Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts konnten verstehen was er gemeint hat. Damit die Ironie perfekt wird: Es waren gerade die Naturwissenschaftler, genauer gesagt die klassischen Physiker, also die damals bei weitem erfolgreichste Wissenschaft der Moderne, die es sich anders überlegen mussten, wenn es darum geht, was ihr Wissen bedeutet und wie man zu ihm gelangt. Die große Wende, als die klassische Physik in die Krise geraten ist und durch ein neues Paradigma ersetzt wurde, ist leicht begreiflich, so dass sie sich gut als Beispiel eignet, aus dem sich die Unabhängigkeit des Denkens und der Ausdehnung voneinander gut veranschaulichen und erklären lässt. Wir wollen aber so kurz wie möglich bleiben, weil wir dies schon anderswo ausführlicher behandelt haben.mehr

Nachdem Newton sein theoretisches System der Bewegungsgesetze entworfen hat, das so dermaßen präzise die materielle Körperwelt beschreiben konnte, wie man es sich früher nicht einmal im Traum vorstellen konnte, sprach alles dafür, dass das logische Denken genau der Welt entspricht, wie sie wirklich ist. Es gilt als selbstverständlich, dass Newton das Mysterium enträtselt hätte, wie Gott die Welt erschuf. Deshalb kann es nicht überraschen, dass Alexander Pope drei Jahre nach Newtons Tod folgende Inschrift für sein Grab in Westminster Abbey erdachte:

      Natur, Naturgesetze im Dunkeln sah man nicht,
      Gott sprach: Es werde Newton! Und es ward Licht.
        

Durch großartige Erfolge der Newtonschen Physik betäubt, schien es den Wissenschaftlern als selbstverständlich, dass das logische Denken bzw. die wissenschaftliche Erkenntnis so etwas wie die Spiegelung der Natur in unserem Kopf sein müsste. Und so etwas war in der Tat kaum mit  Spinozas Auffassung zu vereinbaren, dass nämlich das Denken und die Materie zwei selbständige Attribute seien. Aber die Philosophen haben schon des Öfteren Probleme vermutet, wo sich niemand sonst welche vorstellen konnte und sie hatten sich nicht überreden lassen. Es ist interessant zu bemerken, dass gerade David Hume (1711-1776), einer der wichtigsten empirischen Philosophen, der erste war, der das Selbstverständnis der damaligen Wissenschaftler in Frage stellte bzw. es als falsch ablehnte. Er gab den Wissenschaftlern nicht Recht, dass ihre Erkenntnisse die Realität so wiedergeben, wie sie wirklich ist. Der Empirist Hume bekam bald eine starke Unterstützung vom rationalistischen Philosophen Immanuel Kant (1724-1804). Hume hätte ihn, so Kant, „aus dem dogmatischen Schlummern geweckt“. Wenn es unserem Denken unmöglich sei, zur Wirklichkeit, wie sie wirklich ist, durchzudringen, meinte Kant, dann würden wir „besser fortkommen, wenn wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten“und nicht umgekehrt (Kritik der reinen Vernunft). Wir sollten also die Gegenstände unserer Erfahrung nicht anders erfassen und verbinden, als mit den Formen der Anschauung, die gänzlich aus uns selbst stammen. Das bedeutet, dass unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht den kausalen Gesetzen der objektiven Realität entsprechen können, dass also unser Denken nicht die Erklärung der Welt sein kann. Wie die Gegenstände unabhängig von ihrer Beziehung zu dem erkennenden Subjekt wirklich sind, darüber wird das Subjekt nie etwas wissen können. Die Realität „an sich“ ist der Vernunft unerreichbar. Spinoza würde sagen: Aus dem Attribut Denken heraus würden wir nie zu dem Attribut Materie gelingen. Für den bekannten Kantianer Hans Vaihinger sind die wissenschaftlichen Theorien schließlich keine Offenbarungen durch die Vernunft, sondern vielmehr Erfindungen, Konstruktionen, also Phantasieprodukte: Er nennt sie Fiktionen. Alles was wir in Wirklichkeit wüssten, sei schließlich immer nur „Als-Ob“-Wissen.

Wie gesagt, das alles hat die Wissenschaftler lange Zeit gar nicht interessiert. Aber irgendwann wurden auch sie aus dem „dogmatischen Schlummern“ aufgeweckt. Ausgerechnet bei der Königin der Wissenschaften, der Physik, ging irgendwann gar nichts mehr voran. Die neuen Forschungen ließen sich einfach nicht in das Weltbild von Newton ohne Widersprüche einordnen. Es gab konservative Physiker, die davon nichts wissen wollten, für die all die „Anomalien“ und „Paradoxe“ nichts als schlechte Durchführungen der Experimente sein sollten, um die man sich gar nicht kümmern sollte. Aber es gab immer mehr solche, die diese Probleme nicht einfach ignorieren wollten. Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es eine Gruppe junger Physiker, die sich für einen radikalen Schritt entschieden, die Erklärung für störende Tatsachen in einem völlig neuen gedanklichen Rahmen zu suchen. Nebenbei bemerkt, diese Gruppe hat sich um einen davor völlig unbekannten Physiker namens Einstein geschart, der von der Philosophie Humes und Spinozas sehr beeindruckt war. Am Ende entstand ein völlig neues Bild der physikalischen Welt, in dem die zuvor unzähmbaren Tatsachen ihren logischen Platz fanden.

Nachdem Einstein die Weltanschauung von Newton ins Museum der Altertümer abfertigte, an die Seite des Spinnrades und der bronzenen Axt, ist bekanntlich keine Ruhe in die Physik eingekehrt. Seitdem musste noch einiges, was für die klassischen Physiker als alternativlos und selbstverständlich galt, ebenso den Platz räumen. Was uns in der Zukunft erwartet, mit welchen Augen wir noch die materielle Körperwelt sehen werden, können wir nicht erahnen. Wenn es aber möglich war, dass die Tatsachen der früheren Newtonschen Physik in ein völlig neues wissenschaftliches Weltbild bzw. Denksystem (Paradigma) passen, dann wäre es in der Tat sehr unsinnig zu glauben, das Weltbild der praktisch erfolgreichen Wissenschaften sei so etwas wie eine Spiegelung der Realität. Wir müssen also Spinoza Recht geben, dass das Denken und die Materie zwei voneinander unabhängige Attribute sind. Als die Physiker dies zu begreifen begonnen haben, war Spinoza sogar mehr als drei Jahrhunderte tot, Hume und Kant immerhin mehr als ein Jahrhundert.

Bemerkung: Die Auffassung, dass das Denken und die materielle Körperwelt voneinander unhabhängig sind, bleibt trotzdem sehr verwirrend. Wenn nämlich all die wissenschaftlichen Theorien keine Spiegelung der Realität sind, wie könnte es überhaupt möglich sein, dass man mit ihnen prognostizieren und gezielte Änderungen in der Realität bewirken kann? Eine klare Antwort dazu hat uns Spinoza nicht hinterlassen, Hume und Kant auch nicht und auch bis heute hat noch keiner sie vorgelegt. Wir wissen nur, dass die Wissenschaften bzw. Theorien praktisch funktionieren, auch wenn immer noch keiner erklären kann warum eigentlich. Auch wegen dieses Rätsels kann man sich sicher sein, dass die Philosophie noch lange nicht tot sein wird.

Spinozas ontologische Annahme (Hypothese) von der Unabhängigkeit des Denkens und der materiellen Körperwelt voneinander hat nicht nur erkenntnistheoretische, sondern auch noch weitere Konsequenzen, die für uns noch wichtiger sind.

Die ordnungspolitischen und ethisch-anthropologischen Konsequenzen

Kommen wir noch einmal auf die vormoderne Auffassungen über zwei Welten zurück: Diesseits und Jenseits. Das etwas den Sinnen Unzugängliches in der Welt umhergeistert glaubte schon der Urmensch. Platon war derjenige, der diese primitive Vorstellung zu einer, mehr oder weniger, schlüssigen Weltanschauung bzw. Ontologie ausgebaut hat. Er erklärte das Jenseits zu einem Ort der Perfektion, das Diesseits sollte nur seine mangelhafte und fehlerhafte Nachahmung sein. Der Mensch gehört zum Diesseits, aber eine Verbindung zum Jenseits hat er: durch die Vernunft (und die Seele). Nicht alle haben aber einen gleichen Einblick in das Jenseits. Den besten haben die Auserwählten. Sie wissen alles besser, auch was Gut und Böse ist. Es ist folgerichtig, dass man diejenigen zu  Herrschern macht, die bessere Seher sind. Bei Platon sollten das Jenseits die Philosophen am besten kennen, wobei er da vor allem sich selbst meinte. Er hielt sich für den großen Seher der göttlichen Ordnung, die der dumpfen Masse verborgen bleibt. Folglich sah er sich berufen, über die Geschicke der Menschen zu entscheiden und den Staat zu lenken. Es ist bekannt, dass er deswegen die bestehenden Ordnungen stürzen wollte, um seine Herrschaft der Philosophen zu verwirklichen, jedoch ohne Erfolg. Im heutigen Sprachgebrauch würde man Platon einfach als Terroristen bezeichnen. Seine Vorstellung darüber, wie die Philosophen herrschen sollten, würden wir als Totalitarismus bezeichnen. Der Philosoph Karl Popper war der erste, der es wagte, dem großen Meister dies alles entgegenzuhalten (Der Zauber Platons).

Den Christen ist es gelungen, ihr Reich auf Erden zu errichten und wir wissen wie sie ihre Macht benutzt haben. Sie haben alles, worauf sie, als man sie noch als eine jüdische Sekte verfolgt hat, geschworen haben, verraten. Jesus musste es wissen, wenn er alle schon damals wissen ließ, dass die ersten die letzten sein würden. Kurz zusammengefasst: Die Annahme der Existenz des Jenseits führte immer zu einer absolutistischen Ordnung, die sehr verheerend sein konnte, wenn sich ein sturer Despot einbildete, ihr Werkzeug zu sein.

Nun hat Spinoza das Jenseits abgeschafft und damit auch die Möglichkeit der Legitimation der Herrschaft durch etwas Übernatürliches. Kein Wunder also, dass er es sich mit den Mächtigsten seiner Zeit verdarb. Ihnen konnte nicht entgehen, was für ein explosives Potential die Philosophie von Spinoza in sich birgt und sie haben keine Gelegenheit ausgelassen, ihm zu schaden. Das begann schon mit dem Rauswurf aus seiner jüdischen Gemeinde. Wegen der „schrecklichen Irrlehre“ wurde am 27. Juli 1656 feierlich der große Bann über den 23jährigen Jüngling ausgesprochen, der es wirklich in sich hat:

      Nach dem Urteile der Engel und dem Beschlusse der Heiligen bannen, verstoßen, verwünschen und verfluchen wir den BARUCH des ESPINOSA mit der Zustimmung Gottes und dieser heiligen Gemeinde im Angesichte der heiligen Bücher der Thora und der sechshundertdreizehn Vorschriften, die darin geschrieben sind; mit dem Banne, womit JOSUA Jericho gebannt, mit dem Fluche, womit ELISA die Knaben verflucht hat, mit allen Verwünschungen, die im Gesetz geschrieben stehen. Er sei verflucht bei Tag und sei verflucht bei Nacht! Er sei verflucht, wenn er schläft, und sei verflucht, wenn er aufsteht! Er sei verflucht bei seinem Ausgang und sei verflucht bei seinem Eingang! Der Herr wolle ihm nie verzeihen.

Schon die Rabbiner haben richtig geahnt, was für einen Sprengsatz Spinozas Philosophie in sich birgt. In der Tat war und blieb er Schreckgespenst der konservativen Denker. Erwähnen wir da nur Carl Schmitt, den ehemals bekannten deutschen Staatsrechtler und politischer Philosoph, der sich später schwer als „Kronjurist des Dritten Reiches“ kompromittierte, der Spinoza aus vollem Herzen hasste, weil er ihn für „die dreisteste Beleidigung, die jemals Gott und dem Menschen zugefügt worden ist“ verantwortlich hielt, die also solche „alle Flüche der Synagoge rechtfertigt“.

Es wird überliefert, dass seine Feinde in Spinozas tiefen Zügen des dunkelfarbigen Antlitzes mit den schwarzen, glänzenden Augen und der erhabenen Stirn das sichtbare „Zeichen der Verwerfung“ erblicken wollten. Ja, das mit der Verwerfung stimmt tatsächlich. Er verwarf ihnen Jenseits, mit dem sie ihre Willkürherrschaft und ein parasitäres und dekadentes Leben auf Kosten des großen Rests der unterjochten Bevölkerung legitimierten. Spinoza verwarf ihnen jedoch nicht nur das Jenseits, sondern auch eine andere Möglichkeit, ihren privilegierten Status zu legitimieren.

Man kann unzählige Beispiele finden, dass die Menschen auch in sich selbst besondere Fähigkeiten sehen, alles besser zu wissen als die anderen, so dass sie sich als berufen sehen über andere zu herrschen, und das auch noch zum Wohle der Untertanen. Eine solche Herrschaft der Weisen, heute würde man sagen Wissenseliten, lässt sich im Rahmen der Philosophie von Spinoza nicht rechtfertigen. Der Mensch in seiner materiellen und biologischen Beschaffenheit, mit seinen Affekten und Trieben, gehört zum Attribut Ausdehnung, das nicht vom Attribut Denken beeinflussbar ist. Zugespitzt ausgedrückt: Wie klug jemand auch sein mag, kann er nicht einmal wissen, was für den Dummen gut ist. Jeder kann nur nach eigener Fasson glücklich sein und nur er selbst kann wissen, wie er dies erreichen könnte. Hier trifft sich der Rationalist Spinoza mit dem Empiriker Hobbes. Beide sind sich vollkommen einig, dass keiner weder die Affekte und Triebe, noch die geistigen und kognitiven Begabungen und Fähigkeiten der anderen kennen kann. Hobbes blieb aber hier auf halbem Wege stehen. Da einer den anderen nicht kennt, hat er sich in wirtschaftlichen Angelegenheiten für die Marktordnung entschieden, für eine geregelte Ordnung, die Gesellschaft dagegen sollte nach Hobbes hierarchisch-autoritär gelenkt, also gesteuert werden. Den Grund, warum nur ein Teilsystem der Gesellschaft geregelt, sie als Ganzes jedoch gesteuert werden sollte, haben wir schon geklärt: Für Hobbes war der Mensch extrem böse und extrem individualistisch. Spinoza hat es anders gesehen, viel optimistischer, so dass er sich für eine politische Ordnung entscheiden konnte, die auf dem Prinzip der Regelung beruht: für die Demokratie. Damit werden wir uns später näher beschäftigen. Mit seiner Ontologie hat Spinoza auch Grundlagen für eine neue Anthropologie und Ethik für den Menschen eines neuen Zeitalters gelegt. Darüber mehr im nächsten Beitrag.

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