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Die gegenseitige Neutralisierung der Affekte, die Demokratie und die Regelung |
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Soziopolitische Erklärung der zwei Lenkungsarten: Regelung und Steuerung |
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Spinoza, obwohl er einer mystischen Variante des Rationalismus zuneigte, war sich im Klaren darüber, dass der Mensch Teil der Natur ist, und nahm deshalb nie an, dass die Erlösung vom Staat kommen kann. Der Zustand der Anarchie konnte nach seiner Auffassung dadurch überwunden werden, dass sich Muster der gesellschaftlichen Kooperation weiterentwickelten und sich zu zivilen Institutionen verfestigten. |
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John Gray, bekannter englischer Liberal, später ein Kritiker des Neoliberalismus |
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Wenn man von Demokratie im Gegensatz zu allen Formen autokratischer Regierung spricht, so besteht die einzige Art und Weise der Verständigung darin, sie als ein Ensamble von (primären oder Grund-) Regeln zu begreifen, die festlegen, wer zur Teilnahme an den kollektiven Entscheidungen berechtigt ist und mit welchen Verfahren diese Entscheidungen getroffen werden. |
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Norberto Bobbio, bekannter italienischer Rechts- und Politikwissenschaftler |
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Schon aus den ältesten der heute bekannten Schriftstücke lässt sich entnehmen, dass der Begriff Gesetz den Menschen schon seit langer Zeit geläufig war. Sie kannten Gesetze der Natur, der Moral und der kulturellen Tradition, später kamen dazu noch die Gesetze der Obrigkeit. Es kann überraschen, dass schon die ersten Staaten der Geschichte schriftliche Gesetze hatten. Das bekannteste Beispiel ist der Pfeiler von den Ausgrabungen in Susa (im heutigen Iran), auf dem die vollständig erhaltene Sammlung der staatlichen Vorschriften steht, die als Codex Hammurabi berühmt geworden ist. Hammurabi war der 6. König der ersten Dynastie von Babylonien (1792 bis 1750 v. Chr.) und trug den Titel König von Sumer und Akkad. Seine Sammlung umfasst einen Prolog, die 282 Gesetzesparagraphen und den Epilog. Aber der Codex Hammurabi war nicht einzigartig. Bereits 300 Jahre zuvor schuf der sumerische König Ur-Nammu etwas ähnliches, und etwa 150 Jahre vor Hammurabi ließ Lipit-Istar, König von Isin, ebenfalls eine Stele beschriften.
Man soll hier noch erwähnen, dass laut Platon (428 † 348 v. Chr.) die Menschen ohne Gesetze wie das Vieh leben würden, Epikur (341 † 271 v. Chr.) behauptete sogar, dass die schlechten Gesetze besser als keine seien, weil ohne Gesetze die Menschen einander auffressen würden. Er nahm damit den Gedanken über den „Krieg aller gegen alle“ von Hobbes vorweg. Bei Hobbes sollten aber nicht Gesetze für Ordnung sorgen, sondern die Herrscher persönlich.
Was sind aber Gesetze? Uns geht es jetzt nicht um eine einwandfreie Definition - die es möglicherweise gar nicht gibt. Die brauchen wir auch nicht, weil bei uns nicht die rechtstheoretische, sondern die ordnungstheoretische Problematik im Vordergrund steht. Deshalb reicht es uns nur festzustellen, dass man Gesetze in drei Gruppen aufteilen kann, die sich voneinander eindeutig unterscheiden: Verbote, Gebote und Regeln. Was Verbote und Gebote bedeuten, ist allgemein bekannt und jeder Mensch hat schon seit seiner Kindheit eine klare und genaue Vorstellung über sie. Deshalb ist es auch einfach sie zu definieren. Eine gute Definition findet man sogar in jedem besseren Wörterbuch, wie zum Beispiel in Duden:
Ver|bot, das; -[e]s, -e: 1. Befehl, Anordnung, etw. Bestimmtes zu unterlassen: ein strenges, polizeiliches, behördliches, ärztliches V.; ein V. aufheben, befolgen, einhalten, beachten, übertreten; sich an ein V. halten; er hat gegen mein ausdrückliches V. geraucht. 2. Anordnung, nach der etw. nicht existieren darf: das gesetzliche V. der Kinderarbeit; das weltweite V. von Atomwaffen.
Ge|bot, das; -[e]s, -e: 1. moralisches od. religiöses Gesetz, das ein bestimmtes Handeln, Verhalten [allgemein] verbindlich vorschreibt, fordert: ein göttliches, sittliches, moralisches G.; das oberste G.; ein G. halten (erfüllen, nicht übertreten); das G. der Menschlichkeit, Nächstenliebe, der Höflichkeit beachten, befolgen; die Zehn -e (die zuerst im 2. u. 5. Buch Mose formulierten zehn Gesetze der christlichen Moral). 2. von einer höheren Instanz ausgehende Willenskundgebung in schriftlicher od. mündlicher Form, die den Charakter eines Befehls od. einer Anweisung hat: ein G. [miss]achten, befolgen, übertreten; ein G. erlassen; etw. auf jmds. G. hin tun; G. für Fußgänger (Verkehrsw.; durch Gebotszeichen ausgedrückte Vorschrift, dass ein bestimmter Weg o. Ä. nur von Fußgängern benutzt werden soll).
Wenn man aber für die Regeln eine präzise und umfassende Erklärung sucht, stößt man auf große Schwierigkeiten. Sogar die Fachleute sind sich dann nicht einig und vor allem sind sie sehr ratlos. Erwähnen wir hier nur den bekannten zeitgenossischen englischen Soziologen Anthony Giddens - den Hauptideologen des gescheiterten sozialdemokratischen Dritten Weges. In seiner Theorie, wie eine Gesellschaft aufgebaut ist (Die Konstitution der Gesellschaft) hat er sich besonders viel Mühe gegeben, den Begriff Regel auf eine griffige Formel zu bringen. Im zweiten Teil dieses Beitrags habe ich die wichtigsten Ausschnitte aus seinem Buch wiedergegeben. Eine kurze Bemerkung dazu: Als er über Regeln zu sprechen beginnt, wo er sie noch mit allgemeinen und abstrakten Begriffen und Formulierungen beschreibt, sieht alles noch vielversprechend und zielführend aus. Wenn er diese dann mit Inhalten füllen will, hat er nichts zu sagen und er verliert sich in Trivialitäten. Er kommt nirgendwo hin.
Es ist erstaunlich, dass man einen so alten Begriff immer noch nicht ausreichend erklären kann. Dafür muss es aber Gründe geben. Jetzt erwähnen wir zwei von ihnen.
Eine Regel ist mehr als nur die Summe ihrer Teile
Regeln sind zweifellos komplizierter als Gebote und Verbote. Um es zu verdeutlichen, bedienen wir uns eines einfachen Beispiels aus der Straßenverkehrsordnung. Bei den ersten zwei Verkehrschildern handelt es sich offensichtlich um ein Verbot bzw. ein Gebot, beim dritten, dem Kreisverkehr, um eine Regel.
Was Verbot und Gebot betrifft, da braucht man nichts mehr zu sagen - da erklärt sich alles von alleine. Mit der Kreisverkehrregel ist dem nicht so. Wie gehen wir vor, um sie in einem allgemeinen Sinne zu verstehen? Sollen wir analytisch bzw. reduktionistisch vorgehen, indem wir diese Regel auf ihre Bestandteile zerlegen, sie analysieren und die so gewonnenen Ergebnisse generalisieren?
Wenn man die Regel zerlegt, bekommt man in der Tat nur Gebote und Verbote. In unserem konkreten Fall der Kreisverkehrregel würden dazu vor allem die folgenden gehören: Wenn ein Fahrzeug im Kreis ist, muss es ohne anzuhalten weiterfahren und dann an einer Abzweigung nach rechts abbiegen. Für alle, die noch nicht im Kreis sind, gilt das Gebot zu stehen und zu warten, solange der Weg nicht frei ist. Dies verleitet zu dem Gedanken, dass eine Regel aus einer Summe von Verboten und Geboten besteht. Das ist sie auch, aber bei Weitem nicht nur das. Die Regel ist mehr als eine solche bloße Summe. Dessen wird man sich bewusst, wenn man bedenkt, dass es völlig unmöglich ist, den Sinn und den Zweck der Regel herauszufinden, wenn wir allein von den einzelnen Verboten oder Gebote ausgehen, aus denen sich die Regel zusammensetzt. Wir haben es bei den Regeln also mit einem bekannten Phänomen zu tun, dass das Ganze etwas Anderes als seine Teile ist. Über diese erkenntnistheoretische Problematik haben wir schon etwas mehr gesagt.
Wir stellen also fest, dass es ein falscher Weg ist, die Regel in ihre „Bestandteile“ zu zerlegen, um herauszufinden, was die Regel ist. Eine solche reduktionistische Methode kann zwar manchmal in der Wissenschaft richtig sein, aber in unserem Fall ist sie es nicht. Die reduktionistische Methode hat sich bekanntlich in der klassischen Physik als richtig bzw. nützlich erwiesen, aber nur bei der Anwendung auf nicht allzu kleine Massen und nicht allzu große Geschwindigkeiten. Schon in der Mikro- und Makrowelt der Physik hat diese Methode völlig versagt. Zum Beispiel war sie in der Chemie nie brauchbar. Sie scheiterte schon in der einfacheren anorganischen Chemie. Man kann zum Beispiel nicht Wasser in Wasserstoff (H) und Sauerstoff (O) zerlegen, und von diesen Bestandteilen aus die Eigenschaften von Wasser bestimmen und erklären. Es wäre schon merkwürdig, wenn die reduktionistische Methode für dermaßen komplexe Phänomene wie die gesellschaftlichen richtig wäre. Einer der größten Klassiker der Soziologie David Durkheim (1858-1917) hat das eindeutig ausgeschlossen:
„Man sieht nicht, dass es keine Soziologie geben kann, wenn es keine Gesellschaften gibt, und dass es keine Gesellschaften gibt, wenn es nur Individuen gäbe.“
Die sozusagen souveräne Herrschaft der reduktionistischen Methode in den heutigen Sozialwissenschaften, vor allem aber in der Wirtschaftswissenschaft, ist nicht ihren Ergebnissen zu verdanken. Diese Methode war nirgendwo erfolgreich, vor allem hat sie in der Wirtschaftswissenschaft katastrophal versagt, in Form der neoliberalen Theorie, was wir schon ausreichend erörtert haben. Sie hat sich durchgesetzt, weil sie den egoistischen Interessen der heutigen Machteliten gut dient. Sie ist die Ideologie der Klasse der Reichen in den kapitalistischen Gesellschaften. Sie ist eine Methode, mit der sich „nachweisen“ lässt, dass die sozialen Unterschiede im Kapitalismus auf „Leistungen“ zurückgehen, so dass der märchenhafte Reichtum eines kleinen Teils der Gesellschaft und die Entbehrung oder gar Armut beim Rest der Gesellschaft verdient und gerecht sind. Der bekannte Ordoliberale Ökonom Alexander Rüstow hat es auf den Punkt gebracht:
„Mit falschen Theorien dagegen läßt sich jedes Interesse rechtfertigen, läßt sich jede noch so egoistische, noch so partielle und noch so bornierte Forderung rechtfertigen. Daher die große Beliebtheit falscher Theorien.“
Man sagt: Wenn man verhindert, dass richtige Fragen gestellt werden, braucht man sich nicht um die Antworten zu kümmern. Das gilt nicht nur für Fragen, sondern auch für Methoden. Hat man die reduktionistische Methode durchgesetzt, hat man damit erfolgreich verhindert, den Sinn und den Nutzen von Regeln zu begreifen. Der bereits erwähnte Soziologe Giddens ist einer der vielen Beispiele dafür.
Die reduktionistische Methode ist also blind, weil sie aus der Analyse etwas weglässt, was aber entscheidend ist, um etwas zu verstehen. Wenn man sie auf die Analyse der sozialen und ökonomischen Phänomene anwendet, dann fällt die Macht unter den Tisch. Damit kommen wir zum zweiten Grund, warum es bei der Erklärung der Regeln solche Probleme gibt.
Die Regelung und Steuerung als die Frage der Verteilung und Konstellation der Macht
Bleiben wir bei unserem Beispiel Kreisverkehrregelung. Sie an sich ist eine von mehreren Lösungen des Problems, wie man möglichst vielen Fahrzeugen ermöglicht, eine Kreuzung schnellstmöglich zu passieren. Eine offensichtliche Eigenschaft dieser Lösung ist, dass bei ihr kein am Kreisverkehr beteiligtes Fahrzeug bevorzugt oder benachteiligt wird. Damit ist aber nicht gesagt, dass in jedem Augenblick jedes Fahrzeug gleichberechtigt ist. Es hängt davon ab, an welcher Stelle sich ein Fahrzeug befindet, wie viele andere Fahrzeuge es gibt und wo diese sich befinden. Abhängig von all diesen Umständen kann zum Beispiel das Fahrzeug A benachteiligt oder B bevorzugt werden; es gilt aber, dass in einer anderen Konstellation es umgekehrt sein kann: B wird benachteiligt und A bevorzugt. Der Macht bzw. dem Recht des einen steht abwechselnd die Macht bzw. das Recht des anderen gegenüber. Dies lässt sich wie folgt verallgemeinern und veranschaulichen:
Regelung: |
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Man kann diesen Zustand auch so ausdrücken, wie es Spinoza und viele Denker nach ihm getan haben, dass nämlich Macht durch Macht beschränkt wird, weil die Mächte gegeneinander wirken. Man kann sich das vorige Bild auch als einen Kreis vorstellen, so dass man bei der Regelung in der Kybernetik üblicherweise vom Regelkreis spricht. Die Gegenmacht (Gegenwirkung) bezeichnet man dort auch als Rückkoppelung (Feedback). Das sind zwei der wichtigsten Begriffe der Kybernetik. Mehr Details über die Regelung später. Das nächste Bild soll uns leichter machen, die Regelung mit einer anderen Art der Lenkung zu vergleichen, mit der Steuerung.
Steuerung: |
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Man bezeichnet einen solchen Fall in der Kybernetik als offenen Kreis, was sprachlich verwirren kann - mit einem Kreis hat dies nämlich gar nichts zu tun -, aber als Gegensatz zum geschlossenen Regelkreis hat dieser Sprachgebrauch einen Sinn und eine Berechtigung. Das vorige Bild ist zwar äußerst einfach, das Wesentliche kann es aber trotzdem gut vermitteln, dass nämlich jetzt die Macht nur in eine Richtung wirkt oder „fließt“, von oben nach unten. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen zwei Arten der Lenkung komplexer Systeme und Prozesse, zwischen der Steuerung und der Regelung.
Wenn man das Bild auf sozialpolitische Gegebenheiten anwendet, kann man sich schnell denken, dass die Steuerung einer hierarchisch-autoritären Ordnung entspricht, in der eine kleine Zahl der Mächtigen herrscht, vornehmlich durch Verbote und Gebote. Erwähnen wir jetzt nur kurz, dass Platon für eine solche gesteuerte Ordnung die beiden vormodernen Rechtfertigungen geliefert hat. Kurz zusammengefasst: Nach ihm darf eine Minderheit über die Mehrheit herrschen, weil sie (1) von Gott damit beauftragt wurde, oder weil sie allein (2) im Besitz des Wissens ist, wie die Gesellschaft am besten und zum Wohle aller funktionieren kann. Man kann natürlich beides kombinieren, wie es Platon selbst getan hat. Die dritte Rechtfertigung der hierarchisch-autoritären Staatsordnung, die von Hobbes, beruht auf der Annahme, dass die Menschen dermaßen böse sind, dass ihr Zusammenleben ohne einen absolutistischen Herrscher (Leviathan), der verhindert, dass sie sich gegenseitig umbringen, unmöglich wäre. Aber unabhängig davon, wie man die hierarchisch-autoritäre Auffassung rechtfertigt, ordnungstheoretisch sieht sie immer so aus, wie es in dem letzten Bild dargestellt ist: Die ganze Macht geht von einer Stelle aus, alles andere soll sich nach ihr richten. Bei der Regelung ist die Macht gleichmäßig verteilt. Da liegt der prinzipielle Unterschied zwischen der Regelung und der Steuerung der sozialen und ökonomischen Systeme.
Die wahre Verteilung der Macht in allen bisherigen Gesellschaftsordnungen wird auf verschiedene Weise verschleiert oder gar geleugnet. Auch indem man behauptet, dass die Gesetze für alle gleich gelten. Auch die neoliberale Leugnung der Macht gründet auf einer solchen Behauptung: Wenn alle vor dem Gesetz gleich sind, dann gibt es auch keine Machtkonzentration bei einzelnen Individuen und damit auch bei Gruppen nicht. Eine herrschende Klasse gibt es nicht. In einem solchen „demokratischen“ Rechtsstaat können folglich die Verbote und Gebote nicht diskriminierend sein, wenn sie sich schon auf alle beziehen. Das alles hat im Grunde schon Platon behauptet. Unser einfaches Beispiel kann uns da helfen, einiges zu klären und richtig zu stellen.
Stellen wir uns vor, die Kreuzung in unserem Beispiel hat noch keine Verkehrsinsel, es soll erst entschieden werden, was man mit der Kreuzung überhaupt tun soll. Nehmen wir an, jemand hätte die Macht alleine darüber zu entscheiden. Darüber hinaus ist er persönlich ein Nutzer dieser Kreuzung. Er überquert sie aber hauptsächlich nur in einer Richtung, das ganze Jahr über. Wie würde er entscheiden? Für ihn wäre am besten, dass die von ihm benutzte Straße zur Hauptstraße erhoben wird. Um dies zu rechtfertigen, würden ihm etliche Argumente gegen den Kreisverkehr einfallen. An erster Stelle würde er über große Kosten einer Verkehrsinsel bitter klagen; ihm würden etliche andere Dinge einfallen, für die es angeblich viel vernünftiger wäre das Geld auszugeben. Wenn er besonders dreist wäre, könnte er sogar behaupten, dass man den Kreisverkehr mit der dazugehörigen Regel schon deshalb nicht einrichten sollte, da dies die Menschen überfordern würde. Wenn man sich gar nicht rechtfertigen müsste, was mit der Kreuzung zu tun wäre, würde man natürlich gar nichts sagen sondern einfach handeln. Man würde die Straßen, die er benutzt, als Hauptstraße ausschildern.
Verbote und Gebote können also diskriminieren, auch wenn sie sich formal auf alle gleichermaßen beziehen. Kein Gesetz verbietet zum Beispiel weder dem Armen noch dem Reichen unter der Brücke zu schlafen und es ist sowohl dem Armen als auch dem Reichen erlaubt, sein Kind auf eine teure Privatschule zu schicken. Die formale Gleichheit vor dem Gesetz ist die Lüge der Herrschenden, die so alt ist wie die Klassengesellschaft selbst. Wenn man nur der formalen Gleichheit vor dem Gesetz verpflichtet ist, endet man zwangsläufig in einer despotischen Ordnung. Das erleben wir gerade. Hinter der parlamentarischen Demokratie versteckt sich heute eine Expertenordnung, in der eine kleine Clique die ganze Macht hat und der Rest ist ausbeutet und entrechtet. Die EU war von Anfang an als eine solche despotische Ordnung gedacht. Man spricht mit Recht vom Europakomplott:
„So stehen wir vor einem eigentlich nicht mehr für möglich gehaltenen Rückfall in vordemokratische Zeiten: Die Menschen sind heute in Europa vom Ideal der Demokratie und des Gemeinwohls genauso weit entfernt wie einst im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Nicht einmal das (von Karl Popper formulierte) demokratische Minimum ist gesichert. Die Bürger können ihre europäische „Regierung“ nicht abwählen, mag diese auch noch so sehr versagt haben. Ja, sie können gar nicht erkennen, wer für welche Entscheidung eigentlich die Verantwortung trägt.“
Die Ordnung, die auf der formalen Gleichheit, also auf der Gleichheit vor dem Gesetz beruhen soll, ist bei weitem nicht das, was sich Spinoza und Montesquieu - zum Teil auch Locke - vorgestellt haben. Ihnen ging es um gerechte und gleichmäßige Verteilung der Macht. Für sie sollte die Demokratie eine soziopolitische Organisation der Gesellschaft sein, in der alle Menschen und Gruppen genug Macht besitzen, Gesetze zu entwerfen und durchzusetzen, die jedem Menschen genug Macht verleihen, sein Leben nicht nach dem Wunsch der anderen richten zu müssen. Bei solchen Gesetzen würden dann Verbote und Gebote nicht sehr große Bedeutung haben, sondern Regeln. Gerade bei den Regeln muss man die Macht genau explizieren, um eine effiziente Regel zu entwerfen. Wenn man aber von der Macht gar nichts wissen will, lässt sich das Prinzip der Regelung nicht einmal verstehen. Dann gilt: Es kann nicht geben, was es nicht geben darf.
Regelung und Steuerung als zwei Möglichkeiten der Ordnung. Und was ist mit der Freiheit?
Die heutige demokratische bzw. kapitalistische Ordnung wird nicht nur mit der formalen Gleichheit, sondern vor allem mit der Freiheit gerechtfertigt bzw. legitimiert. Heute führt man sogar die ganze Moderne auf die Idee der Freiheit zurück. Wir haben uns darüber schon Gedanken gemacht und festgestellt, dass es zwei Phasen in der Entwicklung der modernen Demokratie gab. Am Anfang der Moderne konnte noch keiner mit dem Begriff der Freiheit etwas anfangen. Hobbes war zwar für eine unbeschränkte Konkurrenzwirtschaft, so betrachtet war er der erste überzeugte ökonomische Liberale. Er selbst hat sich aber nicht als liberal bezeichnet und überhaupt, in seiner Zeit war vom Liberalismus noch keine Rede. Hobbes wäre nie in den Sinn kommen, die unbeschränkte Konkurrenzwirtschaft als eine freie Wirtschaft bezeichnen, weil ihm klar war, dass es sich dabei um keine echte Freiheit handeln kann. Schon deshalb nicht, weil der Produktionsprozess seine unerbittlichen Gesetze hat, denen der Mensch sich fügen muss. Mehr darüber sagen wir bei Adam Smith. Außerdem sollte bei Hobbes der Souverän (Leviathan) in die Wirtschaft eingreifen dürfen, wenn er dies für sinnvoll hält, und dass würde er laut Hobbes immer wieder tun müssen, weil die ökonomisch Starken ihre Macht missbrauchen und die ganze Wirtschaft schädigen würden. Der Starke würde den Schwachen ausbeuten und entrechten, dieser würde sich wehren, so dass alles zurück in den Krieg jeder gegen jeden abgleiten würde. Als ob Hobbes geahnt hätte, wie der Real Existierende Kapitalismus funktionieren würde. Natürlich war in seiner Zeit auch vom Kapitalismus noch keine Rede, nicht einmal das Wort war bekannt. Um herauszufinden, was es mit der Freiheit auf sich hat, bedienen wir uns noch einmal unseres einfachen Beispiels.
Wie gesagt, die Kreisverkehrregelung ist eine von mehreren Lösungen des Problems, wie man möglichst vielen Fahrzeugen ermöglicht, eine Kreuzung schnellstmöglich zu passieren. Sie hat ihre Vorteile und Nachteile, so dass man sie nicht für jede Kreuzung empfehlen könnte. Wenn der Verkehr überwiegend sehr schwach ist, braucht man mit einer Kreuzung nichts zu tun; mit einer einfachen und billigen Regel für die Vorfahrt, nämlich Rechts vor Links, würde man nämlich auch gut auskommen. Bei beiden Lösungen würde man eine geregelte Ordnung realisieren. Eine weitere Möglichkeit ist, einen Verkehrspolizisten in der Mitte der Kreuzung aufzustellen. Welche Art der Lenkung hätten wir dann?
Auf den ersten Blick würde man sagen, da könnte es sich um ein klares Beispiel von Steuerung handeln. Da gibt es nämlich einen, der allein über alle Entscheidet. Ja, das stimmt, aber was genau tut dieser? Er beobachtet ständig die Lage und in Bezug auf diese Lage entscheidet er, welche Fahrzeuge die Erlaubnis bekommen die Kreuzung zu passieren und welche warten sollen. Das bedeutet, dass er - wenn er seine Arbeit richtig macht - eigentlich über gar nichts entscheidet. Da läuft ein Prozess ab, nach einem - wie man es heute sagen würde - Algorithmus, in dem Wirkung und Gegenwirkung, Macht und Gegenmacht sich gegeneinanderstellen und sich ausgleichen. Es ist also richtig wenn man sagt, dass der Verkehrspolizist den Verkehr regelt und nicht steuert.
Man sagt bei Ampeln auch, sie würden den Verkehr regeln. Das ist aber falsch. Die Ampel arbeitet buchstäblich so wie sie es „will“, ohne überhaupt etwas in ihrer Umgebung zu berücksichtigen. Drinnen sind nämlich Zeitrelais, die blind immer weiter so durchschalten, wie man sie einmal eingestellt hat. Ob eine Richtung Grün bekommt, auch wenn es dort kein einziges Fahrzeug gibt, so dass sich in einer anderen Richtung eine Schlange bildet, weil die Ampel dort auf rot steht, ist für die Ampel völlig egal. Wir haben es also mit einer typischen Steuerung zu tun. Nebenbei bemerkt kann man sich fragen, ob eine funktional dermaßen einfache Lenkung überhaupt effizient sein kann. Sie kann es in der Tat sein. Wenn die Kreuzung symmetrisch belastet ist und der Verkehr stark ist, was vor allem in den großen Städten normalerweise der Fall ist, ist die Steuerung durch Ampeln sehr effizient und es lohnt sich, in die erforderliche Technik zu investieren.
Die bereits besprochenen Lösungen für den Kreuzungsverkehr kann man also in zwei Gruppen aufteilen, je nachdem, ob sie auf der Regelung oder der Steuerung beruhen. Gibt es aber eine Möglichkeit, wo man weder steuert noch regelt? Das wäre in unserem Beispiel eine Kreuzung, bei der nicht einmal die einfache Vorfahrtsregel Rechts vor Links gelten würde. Würde man über eine Kreuzung sagen, dass hier „die Freiheit herrscht“, dann könnte es sich nur um diese handeln. Dass eine solche „freiheitliche“ Kreuzung überhaupt brauchbar wäre, lässt sich nicht im Geringsten bezweifeln. Solche Kreuzungen gab es schon immer, sogar lange bevor es Menschen gab, in der Tierwelt nämlich. Was würde aber die Freiheit in dieser Situation bedeuten? Nichts anderes, als dass sich der Stärkere die Freiheit nehmen würde, die Kreuzung nach Lust und Laune zu benutzen. Die Freiheit würde die Herrschaft des Stärkeren bedeuten. Und genau das ist die beste Definition der Freiheit, die es gibt. Die großen Denker am Anfang der Moderne waren sich dessen sehr bewusst und deshalb war für sie die Freiheit nichts, womit sie etwas anfangen konnten. Das gilt auch für die ökonomischen Liberalen bzw. Frühliberalen.
„'Naturwüchsige' Freiheit würde in ein gesellschaftliches Chaos münden, in dem die Mindestbedürfnisse der Menschen nicht mehr befriedigt werden könnten; die Freiheit der Schwachen würde von den Starken unterdrückt. Weil diese Denker erkannten, daß menschliche Ziele und Bestrebungen nicht automatisch miteinander harmonieren, und weil sie (auch wenn ihre Lehren im einzelnen auseinander gingen) anderen Zielen ebenfalls großen Wert beimaßen, etwa der Gerechtigkeit, dem Glück, der Kultur, der Sicherheit oder unterschiedlichen Graden von Gleichheit, waren sie bereit, die Freiheit im Interesse anderer Werte und auch im Interesse der Freiheit selbst zu beschneiden. Denn ohne diese Beschneidung wäre es unmöglich, jenen Zusammenhalt zu schaffen, der ihnen wünschenswert erschien.“
Es waren die bürgerlichen Reichen, die die Freiheit zur Rechtfertigung bzw. zur Legitimierung ihres Reichtums, ihrer Macht und ihrer Privilegien erhoben haben. Ihnen ist die Freiheit genau das, was der feudalen Klasse das Gottesgnadentum war, eine Beschwörungsformel ihrer Herrschaft. Es ist gar nicht übertrieben, wenn man sagt, alle soziopolitischen Ordnungen waren schon immer freiheitliche Ordnungen. Je despotischer sie waren, desto mehr Freiheit konnten die Despoten genießen. Es kann also keine Rede davon sein, dass die Ordnung der Moderne eine freiheitliche Ordnung ist, wenn man unter der Freiheit nicht die Freiheit der herrschenden Klasse meint. Im strengen ordnungstheoretischen Sinne sind freiheitliche Ordnungen typische gesteuerte Ordnungen. Das kann man zusammenfassen wie folgt:
Man kann entweder steuern, dann haben wir die eine Funktionsweise des Sozialsystems, oder regeln, dann haben wir die andere. Tertium non datur. Folglich entbehrt es jeder Grundlage, über das System der unbeschränkten Freiheit als eine Konzeption der Ordnung von besonderer Art zu sprechen, weil eine solche gar nicht möglich ist. Die freiheitliche Ordnung ist ein großer Irrtum der Moderne oder zumindest eine naive Utopie, zu der kein liberaler Ökonom, kein Philosoph oder sonst jemand eine Theorie geschrieben hat. Alles was uns die Verfechter der freiheitlichen Ordnung hinterlassen haben, stellt nichts als nur ein Mosaik von Absichten, Versprechungen und Hoffnungen dar. Die freiheitliche Ordnung ist immer nur eine Ideologie der herrschenden Klasse.
zu Teil 2
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