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Die moralphilosophischen Grundlagen der neuen ökonomischen Ordnung von Adam Smith |
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Die Sympathie (Empathie) als Fähigkeit zum Nachempfinden und zur Anteilnahme |
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Es ist mir unbehaglich, zu denken, dass ich eine Sache billige, eine andere missbillige, ein Ding schön und ein anderes hässlich nenne, über Wahrheit und Unwahrheit, Vernunft und Torheit entscheide, ohne zu wissen, aus was für Gründen ich den Entschluss fälle. |
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David Hume, berühmter schottischer Philosoph, Historiker und Ökonom |
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Das Prinzip, nach welchem wir unser eigenes Verhalten natürlicherweise billigen oder mißbilligen, scheint ganz dasselbe zu sein, wie dasjenige, nach dem wir die gleichen Urteile über das Betragen anderer Leute fällen. Wir billigen oder mißbilligen das Verhalten eines anderen Menschen auf die Weise, daß wir uns in seine Lage hineindenken und nun unsere Gefühle darauf prüfen, ob wir mit den Empfindungen und Beweggründen, die es leiteten, sympathisieren können oder nicht. |
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Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle |
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Die moderne sensualistische Auffassung, wonach moralische Beweggründe nicht aus rationalen Überlegungen und Einsichten, sondern aus Gefühlen entstehen, ist alles andere als neu. Man findet diesen ethischen Ansatz schon vor fast zweieinhalb Jahrtausenden bei Aristoteles, dann bei Epikur, in der neuen Philosophie bereits bei Bacon und auch bei anderen wichtigen modernen Philosophen. Es war aber erst David Hume, der wie kein anderer der sensualistischen Ethik zum Durchbruch verholfen hat, indem er zuerst - mit seinen skeptizistischen Einwänden - der Vernunft ihre Anmaßungen weggenommen hat. Sein lebenslanger Freund und Bewunderer Adam Smith folgte ihm. Er hat mit der Sympathie zur sensualistischen Ethik womöglich auch etwas Neues und Originelles beigetragen, aber ob dem wirklich so ist, das soll jetzt dahingestellt bleiben. Uns interessiert seine Idee der Sympathie deshalb, weil sie die Grundlagen erklärt, auf die er seine ökonomische Theorie der Marktwirtschaft stellte. Die ökonomische Theorie von Smith und damit auch die Idee der marktwirtschaftlichen Ordnung ist ein Kind von Überlegungen über die Ethik, erst später, bei seinen falschen Nachfolgern, wurde die ökonomische Theorie der Marktwirtschat für wertfrei erklärt. Dieser Liberalismus vom Ende des 19. Jahrhunderts, die so genannte Neoklassik oder üblicherweise ausgedrückt Neoliberalismus, stellt den ursprünglichen Liberalismus auf den Kopf. Er ist nichts mehr als nur eine Ideologie der Reichen - der Kapitalisten und Bankiers.
Die ursprüngliche Auffassung der Marktwirtschaft zu verstehen bedeutet also die Ethik von Smith zu verstehen, und diese beruht weitgehend auf dem Begriff Sympathie. Deshalb verdient die Sympathie unsere ganze Aufmerksamkeit. Sie ist der Pfad, der Smith zur Marktwirtschaft führt, die im Grunde eine geregelte Ordnung ist. Die Sympathie zu begreifen bedeutet also zugleich zu verstehen, warum jemand, der mit Leib und Seele sein ganzes Leben ein Moralphilosoph war, überhaupt zum Ökonomen wurde.
Die Sympathie als der Vorgang, durch den sich bei den Menschen ethische Gefühle bilden
Wir haben schon erwähnt, dass die Bezeichnung Sympathie problematisch ist. Das lässt sich schon erahnen aus der Tatsache, dass diejenigen, die das Werk von Smith gut kennen, anstatt Sympathie ein anderes Wort benutzen, das Smith nie benutzte: Empathie. Dieser Wortaustausch hat in der Tat gute Gründe. Mit ihm lässt sich verhindern, dass der falsche Eindruck entsteht, die Sympathie sei eine bestimmte Tugend, ein soziales Gefühl, das in etwa dem ähnelt, was man unter Altruismus, Wohlwollen oder Erbarmen versteht. Dem ist aber nicht so. Seltsamerweise war sich Smith der Möglichkeit einer solchen Verwechslung offensichtlich bewusst. Gleich am Anfang seiner Theorie der ethischen Gefühle schreibt er:
„Erbarmen“ und „Mitleid“ sind Wörter, die dazu bestimmt sind, unser Mitgefühl mit dem Kummer anderer zu bezeichnen. Das Wort „Sympathie“ kann dagegen, obgleich seine Bedeutung vielleicht ursprünglich die gleiche war, jetzt doch ohne Verstoß gegen den Sprachgebrauch dazu verwendet werden, um unser Mitgefühl mit jeder Art von Affekten zu bezeichnen.“
Smith ging offensichtlich nicht davon aus, dass seine Erweiterung des ursprünglichen Geltungsbereichs des Wortes Sympathie auf „unser Mitgefühl mit jeder Art von Affekten“ zur Quelle für Missverständnisse und Verwirrungen sein wird. Aber hinterher ist bekanntlich jeder klüger. Deshalb benutzen wir im Folgenden neben dem Wort Sympathie auch die Empathie: Sympathie dann, um bei Smith zu bleiben, Empathie, um bei Smith nachzubessern. Was Smith mit der Sympathie bzw. Empathie zu erklären beabsichtigte, steht eigentlich schon in dem Untertitel des eben benannten Buches.
„Versuch einer Analyse der Prinzipien, mittels welcher die Menschen naturgemäß zunächst das Verhalten und den Charakter ihrer Nächsten und sodann auch ihr eigenes Verhalten und ihren eigenen Charakter beurteilen.“
Smith wollte also Prinzipien erklären, die „das Verhalten und den Charakter“ der Menschen erforschen, und diese Prinzipien sind es eigentlich das, was er unter Sympathie versteht. Die Sympathie ist für ihn also so etwas wie ein analytisches Werkzeug, mit dem er erforscht, was ein Mensch will und nicht will, und was er folglich unter bestimmen Umständen tun und lassen wird. Aus dem Titel des Buches heraus kann man schon ahnen, dass er seine moralischen Erklärungen „des Verhaltens und des Charakters“ der Menschen durch die Sympathie bzw. Empathie nicht auf rationale Gründe, sondern auf Gefühle zurückführen wird. Die Ethik von Smith gehört in der Tat nicht zu einer rationalistischen, sondern eindeutig zu einer sensualistischen. In dem vorigen Beitrag haben wir die wichtigsten Unterscheide zwischen diesen zwei Richtungen in der Ethik näher untersucht. Unter anderem haben wir festgestellt, dass die Entscheidung für die Gefühle zwingend zum empirischen erkenntnistheoretischen Ansatz führt, nach dem das Wissen auf dem Boden der Tatsachen aufgebaut werden muss.
Dass die sensualistische Ethik zwangsläufig beim Empirismus landen muss, ist schon auf den ersten Blick einleuchtend: Die Gefühle lassen sich nicht denken. Aber Smith war auch in einer anderen Hinsicht ein konsequenter Empirist. Die Sympathie bzw. Empathie selbst, als ein analytisches Werkzeug, mit dessen Hilfe er nun Gefühle empirisch erforscht, hat er auch empirisch begrünet: Sie beruht auf der Tatsache, dass der Mensch fähig ist, sich in die Lage eines anderen Menschen gewissermaßen hineinzuversetzen, und seine Gefühle als die eigenen zu erleben. Eine solche menschliche Fähigkeit ließe sich bestimmt nicht mit rein rationalen Mitteln beweisen, deshalb bedient sich Smith einfacher und einleuchtender Beispiele, um sie zu begründen.
„Wenn ich sehe, wie jemand gegen einen anderen eben zum Schlage ausholt, und wie dieser Schlag gerade auf das Bein oder den Arm des anderen niedersausen soll, dann zucke ich unwillkürlich zusammen und ziehe mein eigenes Bein oder meinen eigenen Arm zurück; und wenn er wirklich den Körper des anderen trifft, dann fühle ich ihn in gewissem Maße selbst und empfinde den Schmerz, wie der Betroffene.“
Smith hat immer eine ganze Menge von einleuchtenden Beispielen bei der Hand, die seine Ausführungen lebhaft und spannend machen, auch für die Sympathie bzw. Empathie, also über die Fähigkeit des Menschen sich in die Lage des anderen zu versetzen und seine Gefühle als die eigenen fühlen kann. Er folgert daraus, dass die „Natur“ bzw. der „allweise Schöpfer der Natur“ dadurch die Menschen befähigt hat, in Gesellschaft friedlich zu leben. Diese Erklärung ist zumindest einleuchtend. Wenn wir die Schmerzen, die wir den anderen antun, als unsere eigenen empfinden, dann empört sich der „innere Mensch“ in unserer Brust und wir versuchen uns zu mäßigen oder zu ändern. Smith war also bei weitem nicht der Auffassung von Hobbes, wonach die Menschen, sich selbst überlassen, in einem sozialdarwinistischen Vernichtungskrieg leben müssten. Er spricht - an wenigen Stellen zwar, aber immerhin - sogar von Harmonie.
„Um diese Harmonie zustande zu bringen, hat die Natur die Zuschauer gelehrt, sich in Gedanken in die Lage des zunächst Betroffenen zu versetzen, und ebenso hat sie diesen letzteren gelehrt, sich wenigstens bis zu einem gewissen Grade in jene der Zuschauer hineinzudenken. ... Wie sie immer wieder überlegen, was sie wohl fühlen würden, wenn sie selbst wirklich die Betroffenen wären, so sieht er sich immer wieder veranlaßt, daran zu denken, welchen Eindruck auf ihn, wenn er nur einer der Zuschauer wäre, dann seine jetzige Lage machen würde. Wie ihre Sympathie sie veranlaßt, seine Lage gewissermaßen mit seinen Augen zu betrachten, so veranlaßt ihn seine Sympathie, seine Lage gewissermaßen mit ihren Augen anzusehen, insbesondere, wenn er sich in ihrer Gegenwart befindet und unter ihren Augen handelt.
Der allweise Schöpfer der Natur hat auf diese Weise den Menschen gelehrt, die Gefühle und Urteile seiner Brüder zu achten; sich mehr oder weniger zu freuen, wenn sie sein Betragen gutheißen, und sich mehr oder weniger verletzt zu fühlen, wenn sie es mißbilligen. Er hat den Menschen, wenn ich so sagen darf, zum unmittelbaren Richter der Menschen gemacht und hat ihn auch in dieser wie in mancher anderen Beziehung nach seinem Bilde geschaffen und ihn zu seinem Statthalter auf Erden bestellt, damit er das Verhalten seiner Brüder beaufsichtige.“
Fügen wir noch hinzu, dass die Fähigkeit des Menschen nachzuempfinden, was der andere fühlt und das Bedürfnis sich mit ihm zu identifizieren, für verschiedene ethische Gefühle von unterschiedlicher Intensität ist. Da hat die „Natur“ bzw. der „allweise Schöpfer der Natur“ doch nicht alles richtig gemacht, aber dazu werden wir später einiges sagen, wenn wir uns die ethischen Gefühle einzeln anschauen werden. Davor muss noch erklärt werden, wie sich die ethischen Gefühle im Allgemeinen bilden. Erst wenn man diese Frage beantwortet hat, kann man nach den konkreten Gefühlen forschen. Um diese prinzipielle Frage noch zu klären, ist es möglicherweise am besten, noch zwei andere philosophische Auffassungen zu erwähnen, die von Hutcheson und Kant, und in Bezug zu ihnen die Frage einfacher zu beantworten.
Smith besuchte als Student (1740) die Vorlesungen des Philosophen und Ethikers Francis Hutcheson (1694-1747) und war von ihnen beeindruckt. Die Hauptidee von Hutcheson ist, dass der Mensch neben den bekannten fünf Sinnen, die sich biologisch - also empirisch - eindeutig identifizieren lassen, auch andere Sinne, „innere“ Sinne besitzt, die er mit sich auf die Welt bringt. Dazu soll auch ein moralischer Sinn („moral sense“) gehören. Diesem Sinn ist es zu verdanken, dass die Menschen Freude fühlen, wenn sie sich für das Wohlergehen anderer einsetzen. Der Mensch strebe deshalb Zustände an, in der das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl erreicht werden sollte, was später zum moralischen Hauptprinzip des Utilitarismus wurde. Es lässt sich nicht übersehen, dass die Idee von einem moralischen Sinn im Grunde dem „Gold in der Seele“ bei Platon entspricht. Smith folgt aber dieser Idee seines Lehrers nicht. Er lehnt schon in der Theorie der ethischen Gefühle die Auffassung von einem eingeborenen moralischen Sinn ab, und zwar aus mehreren Gründen. Unter anderem weil solche fertigen moralischen Sinne nicht empirisch nachweisbar wären. Die Lösung, die Smith vorschlägt, ähnelt der von Kant, zu der dieser bei seinen erkenntnistheoretischen Untersuchungen kommt. Es ist Folgendes gemeint:
Immanuel Kant (1724-1804) war durch den Skeptizismus von Hume erschüttert. Wie er selbst sagte, dieser hätte ihn aus seinem „dogmatischen Schlummer“ aufgeweckt. Wenn es der Vernunft unmöglich sei, die strukturellen und kausalen Zusammenhänge in der empirischen Welt (Sein) zu erfassen, wenn sich die Realität nicht rein rational - aus der Vernunft heraus - rekonstruieren lässt, was würde die Vernunft dann überhaupt können - fragte Kant. Was kann ich wissen? - ist seine berühmte Frage. Er kommt zur Schlussfolgerung, dass es bestimmte eingeborene - jeder Erfahrung vorausgehende - Formen der Vernunft gibt, mit denen sich „Ordnungen aller möglichen Erfahrungen“ - vereinfacht gesagt theoretische Systeme des Wissens - entwerfen lassen. Diese „Formen der Vernunft“ sind aber noch kein Wissen über die empirische Welt, sondern nur gewisse Dispositionen für ein solches Wissen. Hier unterscheidet sich Kant prinzipiell von Platon, von dem er sonst vieles übernommen hat, bei dem diese Kenntnisse schon in der Seele untergebracht, aber verschüttet sind, und die man durch die Vernunft ins Bewusstsein holen kann.
Smith hat von Kant nie gehört, seine Auffassung über die Bildung der ethischen Gefühle hat im Grunde das gleiche Muster. So wie der Mensch nicht mit bestimmten Kenntnissen auf die Welt kommt, genauso gibt es auch keine eingeborenen ethischen Gefühle - heute sagen wir eher Werte - nach Smith. Was es gibt sind nur bestimmte Dispositionen, und zwar die bereits dargestellten Fähigkeiten des Menschen, die Fähigkeit zum Nachempfinden und zur Anteilnahme. Smith verdeutlicht die Bildung der konkreten ethischen Gefühle durch Nachempfinden mit der Bildung der Vorstellungen von körperlicher Schönheit und Hässlichkeit. Er bedient sich dabei des Spiegel-Gleichnises.
„Unsere ersten Vorstellungen von körperlicher Schönheit und Häßlichkeit sind von der Gestalt und der körperlichen Erscheinung der anderen abgeleitet, nicht von unserer eigenen. ... Es freut uns, wenn unser Äußeres ihr Gefallen erregt, und es beleidigt uns, wenn es offensichtlich ihren Widerwillen hervorruft. Wir werden nun ängstlich bemüht sein, in Erfahrung zu bringen, inwiefern unsere äußere Erscheinung ihren Tadel oder ihre Billigung verdient. Wir prüfen unsere Gestalt Glied um Glied und bemühen uns - indem wir vor einen Spiegel treten oder ein anderes Auskunftsmittel anwenden - so sehr als möglich, uns aus der Entfernung und mit den Augen anderer Menschen zu betrachten.
Jedenfalls ist es einleuchtend, daß wir um unsere Schönheit und Häßlichkeit nur wegen ihrer Wirkung auf andere Menschen besorgt sind. Wenn wir keine Verbindung mit der Gesellschaft hätten, dann wäre uns beides vollständig gleichgültig.“
Analog zu diesem Verfahren, bilden sich laut Smith auch die ethischen Gefühle.
„Wir billigen oder mißbilligen unser eigenes Betragen, indem wir uns in die Lage eines anderen Menschen versetzen und ... mit seinen Augen und von seinem Standort aus betrachten und nun zusehen, ob wir von da aus an den Empfindungen und Beweggründen, die auf unser Betragen einwirken, Anteil nehmen und mit ihnen sympathisieren könnten oder nicht. Niemals können wir unsere Empfindungen und Beweggründe überblicken, niemals können wir irgendein Urteil über sie fällen, wofern wir uns nicht gleichsam von unserem natürlichen Standort entfernen, und sie gleichsam aus einem gewissen Abstand von uns selbst anzusehen trachten. Wir können dies aber auf keine andere Weise tun, als indem wir uns bestreben, sie mit den Augen anderer Leute zu betrachten, das heißt so, wie andere Leute sie wohl betrachten würden.
Wenn ich mich bemühe, mein eigenes Verhalten zu prüfen, wenn ich mich bemühe, über dasselbe ein Urteil zu fällen und es entweder zu billigen oder zu verurteilen, dann teile ich mich offenbar in all diesen Fällen gleichsam in zwei Personen. ... Die erste Person ist der Zuschauer, dessen Empfindungen in bezug auf mein Verhalten ich nachzufühlen trachte, indem ich mich an seine Stelle versetze und überlege, wie dieses Verhalten mir wohl erscheinen würde, wenn ich es von diesem eigentümlichen Gesichtspunkt aus betrachte. Die zweite Person ist der Handelnde, die Person, die ich im eigentlichen Sinne mein Ich nennen kann, und über deren Verhalten ich mir - in der Rolle eines Zuschauers - eine Meinung zu bilden sucht. Die erste ist der Richter, die zweite die Person, über die gerichtet wird.“
Die Bildung der ethischen Gefühle - heute würde man sagen Werte - ist nach Smith immer ein gesellschaftlicher Prozess. Er war bestimmt kein Individualist, ein methodischer Individualist schon gar nicht. Ursprünglich war also der Liberalismus keine individualistische Ethik, wie es heute beim Neoliberalismus der Fall ist. Auch hier wurde der ursprüngliche Liberalismus auf den Kopf gestellt. Dies verdient näher erläutert zu werden.
Die Gesellschaft als Voraussetzung für die Bildung der individuellen ethischen Gefühle
Es wurde immer wieder bemerkt - mit Recht -, dass Smith von Aristoteles sehr beeinflusst war. Das bezieht sich nicht nur auf seine ethische, sondern auch auf soziale und ökonomische Auffassungen, was wir noch näher sehen werden. Was die Gesellschaft und Staatstheorie betrifft, folgt Smith der Auffassung von Aristoteles, wonach der Mensch ein zoon politikon, ein politisches Tier ist, womit gemeint ist, dass der Mensch ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaften bildendes Lebewesen ist. Ganz am Anfang seiner Politik schreibt Aristoteles dass der
„... Mensch von Natur ein staatenbildendes Lebewesen ist ... Wer aber nicht in Gesellschaft leben kann oder in seiner Autarkie ihrer nichts bedarf, der ist kein Teil des Staates, sondern ein wildes Tier oder Gott.“
Auch Aristoteles, im Gegensatz zu Platon, war gewissermaßen ein empirischer Philosoph. Ihm konnte folglich nicht entgangen sein, dass es Tiere gibt, die alleine geboren werden und nur bei der Paarung kurz eine Verbindung zu den Artgenossen haben, ansonsten verbringen sie ihr ganzes Leben lang alleine. Bei den Menschen ist so etwas unmöglich. Der Mensch gänzlich außerhalb der Gesellschaft war immer nur ein Produkt der literarischen Phantasie. Tarzan ist eine sehr spannende Erzählung, aber sie ist nur eine reine Erfindung. Normalerweise gehen die Erzähler mit ihren Helden der Einsamkeit nicht so weit. Erinnern wir uns etwa an Robinson Crusoe oder Kapitän Nemo, die sich zuerst vollständig in der Gesellschaft entwickelt haben und dann aus ihr ausgetreten sind. Der Mensch kann schon deshalb nicht von Geburt an alleine überleben, weil er nicht die nötigen Kenntnisse zum biologischen Überleben mit sich auf die Welt bringt, was bei vielen Tierarten der Fall ist. Deshalb waren für Aristoteles die Gesellschaft und der Staat eine Tatsache, die keines weiteren Beweises bedurfte. Für den konsequenten Empiriker Smith, konnte erst recht nicht die Frage aufkommen, was ein Individuum ohne Gesellschaft bedeuten würde. Immer dann, wenn Smith den Menschen, der „keine Verbindung mit der Gesellschaft hätte“, benutzt, ist dieser Mensch für ihn ausschließlich ein analytisches Werkzeug, um bestimmte Gegensätze besser hervorzuheben. Um zu seinen eigenen ethischen Positionen zu kommen, benutzt er immer den Menschen, der in die Gesellschaft eingebettet ist. Nur durch gesellschaftliche Interaktionen und Handlungen entstehen die ethischen Gefühle überhaupt:
„Wäre es möglich, daß ein menschliches Wesen an einem einsamen Ort bis zum Mannesalter heranwachsen könnte ohne jede Gemeinschaft und Verbindung mit Angehörigen seiner Gattung, dann könnte es sich ebensowenig über seinen Charakter, über die Schicklichkeit oder Verwerflichkeit seiner Empfindungen und seines Verhaltens Gedanken machen, als über die Schönheit oder Häßlichkeit seines eigenen Gesichts. All das sind Gegenstände, die es nicht leicht erblicken kann, auf die es natürlicherweise nicht achtet, und für die es doch auch nicht mit einem Spiegel ausgerüstet ist, der sie seinem Blicke darbieten könnte. Bringe jenen Menschen in Gesellschaft anderer und er ist sogleich mit dem Spiegel ausgerüstet, dessen er vorher entbehrte. Dieser Spiegel liegt in den Mienen und in dem Betragen derjenigen, mit denen er zusammenlebt, die es ihm stets zu erkennen geben, wenn sie seine Empfindungen teilen, und wenn sie sie mißbilligen; hier erst erblickt er zum erstenmal die Schicklichkeit und Unschicklichkeit seiner eigenen Affekte, die Schönheit und Häßlichkeit seines eigenen Herzens.
Bei einem Menschen, der von Geburt an jeder Gesellschaft fremd war, würden die Objekte seiner Leidenschaften, die äußeren Körper, die ihn fördern oder schädigen, seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Die Affekte selbst, die Begierden und Abneigungen, die Freuden und Leiden, die durch diese Gegenstände erregt werden, können ... kaum jemals zu Gegenständen seines Nachdenkens werden. ... Bringe den Menschen in Gesellschaft und alle seine Affekte werden sogleich zu Ursachen neuer Affekte werden. Er wird bemerken, daß die Menschen manche dieser Affekte billigen und gegen andere Widerwillen empfinden. Er wird in dem einen Falle erfreut, im anderen niedergeschlagen sein; seine Begierden und Abneigungen, seine Freuden und Leiden werden nun oft zu Ursachen neuer Begierden und neuer Abneigungen, neuer Freuden und neuer Leiden werden.“
Es kann bei Smith keine Rede von einem Menschen sein, der als ein selbstbestimmtes Wesen geboren wird, mit fest umrissenen individuellen Bedürfnissen und Vorstellungen, wie er leben will und was seine wahren Ziele sind, und schon gar nicht sind für Smith die Gesellschaft oder der Staat etwas Unerwünschtes, die das Individuum hindern würden, seine angebliche „wahre“ Identität zu entwickeln. Hier hat der Neoliberalismus alles verfälscht: die Auffassung von Smith, die des ursprünglichen Liberalismus überhaupt und auch die humanistischen und emanzipatorischen Gedanken der Moderne. Der Ruf nach der individuellen Freiheit ist die Moral der Schurken und Ganoven, der neuen Klasse, die durch Besitz der Produktionsmittel die Gesellschaft erpresst und an ihr parasitiert.
In dem Werk, das Smith die Unsterblichkeit brachte, also in dem Wohlstand der Nationen, geht er noch weiter. Für ihn ist es selbstverständlich, dass die Gruppen oder Klassen das Verhalten und den Charakter ihrer Mitglieder in hohem Maße bestimmen, und das vor allem durch den sozialen und ökonomischen Status dieser Gruppen. So werden an manchen Stellen die Unternehmer angeprangert, weil sie als eine geschlossene interessengeleitete Gruppe ständig gegen die Arbeiterschaft und Gesellschaft agieren und sich gegen sie verschwören. Es fehlt nur ein kleiner Schritt zur Auffassung, die im Vorwort Zur Kritik der Politischen Ökonomie bei Marx steht.
„Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“
Aber auch darüber werden wir später mehr sagen. Was Smith jedoch niemals behauptet hat ist, dass für den einzelnen Menschen die Gesellschaft an sich einen Wert haben könnte, dass das Glück und Wohlergehen der Gesellschaft in irgendeiner Weise das sind, was zu den moralischen Gefühlen der Mitglieder der Gesellschaft gehört.
„Der Anteil, den wir an dem Glück und dem Wohlergehen von Einzelpersonen nehmen, entspringt in den meisten Fällen nicht aus dem Interesse, das wir dem Glück und dem Wohlergehen der Gesellschaft entgegenbringen. Der Untergang oder der Verlust eines einzelnen Menschen berührt uns nicht tiefer darum, weil dieser Mann ein Glied oder Teil der Gesellschaft ist und uns der Untergang der Gesellschaft besonders nahe gehen würde ... unsere Rücksicht für die Individuen [entspringt nicht] aus unserer Rücksicht für die Gesamtheit ... unsere Rücksicht für die Gesamtheit wird aus den besonderen Rücksichtnahmen zusammengesetzt und gebildet, die wir den verschiedenen Individuen entgegenbringen, aus denen sie besteht.“
Aus diesem Zitat ist eindeutig klar, dass es völlig falsch ist, was die selbsternannten Nachfolger von Smith, die Neoliberalen, als selbstverständlich verbreiten, dass nämlich Smith in der Theorie noch von dem solidarischen und wohlwollenden Menschen ausgegangen wäre, und dann hätte er in einem scharfen Schwank zum Menschen als Nutzenmaximierer und Egoisten umgesteuert. Sowohl in der Theorie als auch in dem Wohlstand ist der Mensch nach Auffassung von Smith ein beschränkt rationales und beschränkt moralisches Wesen.
Die Vernunft des „unparteiischen Zuschauers“ als Geburtsstätte der allgemeinen Regeln
Ganz knapp formuliert, besagt die Sympathie bzw. Empathie, dass sich Gefühle durch Gefühle bilden, die Ratio bestimmt nur das Verfahren. Es führt kein direkter Weg von der Vernunft zur Moral. Deshalb wollte der Rationalismus lange Zeit von den Gefühlen nichts wissen, aber indem er sie verworfen hat, hat er sich auch von den Tatsachen verabschiedet und es blieb ihm nichts anderes übrig, als sein Dasein in den dunklen Kellern der Metaphysik zu fristen. Deshalb kann es nicht verwundern, dass der Rationalismus vor der Moderne keine Wissenschaft hervorgebracht hat. Die sensualistische Ethik war dann die Rückkehr zu den Tatsachen - eine Entdeckung des realen Menschen. Als sich Smith für die Gefühle entschieden hat, stellte er seine Ethik auf empirische und damit wissenschaftliche Grundlagen. Auch dadurch, aber auch aus weitern Gründen hat Sympathie bzw. Empathie den Weg zur besserer Anwendung von Vernunft eröffnet und schließlich Smith zu der Auffassung über die Regelen bzw. die geregelte Ordnung geführt, über die wir schon einiges gesagt haben. In der Fortsetzung dessen, was wir über die Sympathie oder Empathie bereits gesagt haben, erörtern wir auch noch, wie sie zur Auffassung über die geregelte Ordnung beigetragen hat. das hat sie im dreifachen Sinne:
1: Gewohnheiten und Sitten der Gesellschaft werden als eine „objektive“ Realität begriffen
Wie bereits festgestellt, ist es eine Tatsache, dass der Mensch nur in der Gesellschaft leben kann. Eine genauso unbestrittene Tatsache ist, dass die verschiedenen Gesellschaften ihre spezifischen Gewohnheiten und Sitten haben, die sich voneinander stark unterscheiden. Schon antike Philosophen haben bemerkt, dass es ganz normal ist, dass manches, was in dem einem Volk als Schande und Tadel empfunden wird, in einem anderen als Tugend und Ehre gelten kann. Erwähnen wir jetzt nur ein drastisches Beispiel aus dieser Zeit. Im antiken Karthago, das sich aus einem Handelsstützpunkt im 6. Jh. v. Ch. zu einer Mittelmeermacht entwickelte, wurden zum Beispiel eigene Kinder dem Saturn geopfert. Wer keine Kinder hatte, kaufte sie. Vater und Mutter haben diese gottesdienstliche Zeremonie mit einer heiteren und vergnügten Mine verfolgt. Noch einige Zeit früher hat am anderen Ende der Welt der große chinesische Denker Konfuzius dasselbe festgestellt:
„Von Natur aus sind die Menschen fast gleich; erst die Gewohnheiten entfernen sie voneinander.“
Wie bereits erwähnt, waren diese gewaltigen Unterschiede zwischen den Gewohnheiten und Sitten den Rationalisten immer suspekt - sie konnten mit ihnen nichts anfangen. Smith als Empirist hat diese Tatsachen mit der Sympathie bzw. Empathie als analytischem Werkzeug vollständig erfasst.
2: Bei der Bildung der ethischen Gefühle durch das Nachempfinden ist der Mensch notgedrungen ein soziales Wesen
Keiner wird bestreiten, dass der Einzelne die Gefühle der anderen erahnen kann, die Frage ist nur, wie treu und intensiv er sienachfühlen kann. Bei verschiedenen Gefühlen ist dies unterschiedlich - dazu kommen wir noch -, aber allgemein gesprochen war Smith immer der Auffassung, dass der Mensch nie genau nachempfinden kann, was der andere wirklich fühlt. Der andere ist uns nicht zugänglich. Niemand kann aus sich hinaussteigen und sich umschauen, wie es woanders ist. Die „objektive“ Welt um uns herum ist unsere individuelle Konstruktion, so dass wir schließlich auch nicht immer und nicht genau wissen können, was der andere wirklich fühlt, sondern nur ungefähr.
„Da wir keine unmittelbare Erfahrung von den Gefühlen anderer Menschen besitzen, können wir uns nur so ein Bild von der Art und Weise machen, wie eine bestimmte Situation auf sie einwirken mag, daß wir uns vorzustellen suchen, was wir selbst wohl in der gleichen Lage fühlen würden. Mag auch unser eigener Bruder auf der Folterbank liegen - solange wir selbst uns wohl befinden, werden uns unsere Sinne niemals sagen, was er leidet. Sie konnten und können uns nie über die Schranken unserer eigenen Person hinaustragen und nur in der Phantasie können wir uns einen Begriff von der Art seiner Empfindungen machen. ... Es sind nur die Eindrücke unserer eigenen Sinne, nicht die der seinigen, welche unsere Phantasie nachbildet. Vermöge der Einbildungskraft versetzen wir uns in seine Lage, mit ihrer Hilfe stellen wir uns vor, daß wir selbst die gleichen Martern erlitten wie er, in unserer Phantasie treten wir gleichsam in seinen Körper ein und werden gewissermaßen eine Person mit ihm; von diesem Standpunkt aus bilden wir uns eine Vorstellung von seinen Empfindungen und erleben sogar selbst gewisse Gefühle, die zwar dem Grade nach schwächer, der Art nach aber den seinigen nicht ganz unähnlich sind.
Jedes Vermögen, das ein Mensch in sich findet, ist der Maßstab, nach welchem er das gleiche Vermögen bei einem anderen beurteilt. Ich beurteile deinen Gesichtssinn nach meinem Gesichtssinn, dein Gehör nach meinem Gehör, deine Vernunft nach meiner Vernunft, dein Vergeltungsgefühl nach meinem Vergeltungsgefühl, deine Liebe nach meiner Liebe. Ich habe kein anderes Mittel und kann kein anderes Mittel haben, sie zu beurteilen.“
Ein weiteres Problem beim Nachfühlen ist die Subjektivität - die subjektive Voreingenommenheit. Sie hat natürlich auch damit zu tun, dass jeder Mensch sich für wichtiger hält als andere, er ist egoistisch, aber laut Smith hat die Subjektivität auch objektive Gründe. Was wir von unserem Standpunkt aus überhaupt empfangen können, sind nur unvollständige und deformierte Daten über die Gefühle der anderen. Hier hat sich Smith des Gleichnisses von Hobbes bedient, dass nämlich das Bild in unserem Auge nicht der Realität entspricht.
„Dem Auge des Körpers Gegenstände groß oder klein erscheinen, nicht so sehr ihren wirklichen Maßen entsprechend, als vielmehr entsprechend der größeren oder geringeren Entfernung ihres Standortes ... In meiner gegenwärtigen Situation scheint eine ungeheure Landschaft von Wiesen und Wäldern und fernen Gebirgen nicht mehr Platz einzunehmen als den des kleinen Fensters, an dem ich schreibe, und unverhältnismäßig kleiner zu sein als die Stube, in der ich eben sitze.“
Diese Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung der Tatsachen sieht Smith auch bei der Wahrnehmung der Gefühle der anderen.
„Ebenso erscheint uns infolge der ursprünglichen, egoistischen Affekte der menschlichen Natur der Verlust oder Gewinn eines ganz kleinen eigenen Vorteils von ungeheuer größerer Wichtigkeit, er erregt eine weit leidenschaftlichere Freude oder Betrübnis, ein weit brennenderes Verlangen oder Widerstreben, als die bedeutendste Angelegenheit eines anderen Menschen, zu dem wir in keiner besonderen näheren Beziehung stehen.“
Und wie üblich hat er Beispiele parat, wie etwa dieses:
„Stellen wir uns vor, daß das große chinesische Reich mit all seinen Myriaden von Einwohnern plötzlich durch ein Erdbeben verschlungen würde, und überlegen wir, wie ein human gesinnter Mensch in Europa, der keinerlei Beziehung zu jenem Weltteil hätte, dadurch berührt werden würde, wenn er von diesem fürchterlichen Unglück Kenntnis erhielte. Er würde, denke ich, zunächst seiner Trauer über das Mißgeschick jenes unglücklichen Volkes sehr lebhaften Ausdruck geben, er würde sich mancherlei trübseligen Betrachtungen über die Unsicherheit des menschlichen Lebens hingeben und über die Eitelkeit aller Arbeiten und Werke der Menschen, die in einem Augenblick so völlig vernichtet werden können. Er würde vielleicht auch, wenn er ein nachdenklicher Mensch wäre, mancherlei Überlegungen über die Wirkungen anstellen, die dieses Unglück für den Handel Europas und für den Geschäftsverkehr der Welt im allgemeinen nach sich ziehen dürfte. Und wenn er mit all dieser artigen Philosophie fertig wäre, wenn er einmal all diesen humanen Empfindungen geziemend Ausdruck gegeben hätte, dann würde er seinem Geschäft oder seinem Vergnügen nachgehen, sich seiner Erholung oder seiner Zerstreuung widmen und alles das mit der gleichen Gemächlichkeit und Ruhe, als ob kein derartiger Vorfall sich ereignet hätte. Der geringfügigste Unfall, der ihm selbst zustoßen könnte, würde in ihm eine weit stärkere Beunruhigung hervorrufen. Das Bewußtsein, daß er morgen seinen kleinen Finger verlieren müßte, würde ihn schon heute nachts nicht schlafen lassen; dagegen wird er bei dem Untergang von hundert Millionen seiner Brüder mit der tiefsten Seelenruhe schnarchen ... die Vernichtung jener ungeheuren Menschenmenge scheint offenbar eine Sache zu sein, die ihn weit weniger berührt, als dieses erbärmliche Mißgeschick, das ihn selber angeht.“
Die zwei wichtigen Denker des späten Mittelalters, die Vordenker der Moderne, wie etwa Machiavelli und Hobbes - über die wir schon etwas mehr gesagt haben - würden sich da nur bestätigt fühlen. Ein solcher Smith wäre erst recht derjenige, den sich seine selbsternannten Nachfolger, die Neoliberalen, so sehnlich wünschen, aber das ist nicht der wahre Smith. Er ist viel mehr.
3: Der unparteiische Zuschauer als die „Objektivierung“ der ethischen Gefühle mit Hilfe der Vernunft
Man kann sich leicht denken, dass es ein Vorteil für die Gesellschaft bzw. für die ganze Menschheit wäre, wenn der Mensch die Gefühle der anderen getreulich nachempfinden könnte. Dann würde der Mensch wissen, was seinem Nächsten nicht gefällt oder ihn sogar schmerzt. Dann wäre möglich die Aufforderung in der Bibel anzuwendeng, dass man dem anderen nicht das antun sollte, von dem man selbst nicht möchte, dass es die anderen ihm selbst antun. Kant hat diese moralische Forderung zum wichtigsten Prinzip (kategorischer Imperativ) seiner rationalistischen Ethik gemacht und sie in der Philosophie bzw. Ethik heimisch gemacht. Der Mensch soll nach diesem Prinzip immer und bedingungslos aus reiner Pflicht handeln.
Die Pflicht als die Grundlage der Moral ist zwar alt wie die Ethik selbst und spielt in vielen ethischen Systemen eine Rolle, aber kaum jemand ging so weit wie Kant. Er bestand auf die Befolgung der Pflicht um der Pflicht willen unabhängig von jedem Affekt und Trieb sowie ohne Rücksicht auf das konkrete Handlungsresultat. Diese Pflichtethik von Kant war eigentlich eine Rückkehr zur positiven menschlichen Natur und damit ein intellektueller Verrat an der Moderne. Dazu werden wir später noch etwas sagen. In dieser Hinsicht könnte der Unterschied zwischen Kant und Smith nicht größer sein. Eine Ethik aus der Pflicht heraus käme für Smith nie in Frage, weil sein Mensch ein moralisch und rational unvollkommenes Wesen ist, der zum einen nicht irgendwelchen moralischen Pflichten entsprechend handeln würde, wenn er dies nicht wollte, weil er nie wissen könnte, was der andere möchte und was nicht. Wie bereits hervorgehoben, war der Rationalismus von Anfang an auch eine Flucht vor den Tatsachen, die nur störend waren, wenn man hochtrabend, aber zugleich bequem über Mensch und Gott sinnieren wollte. Wie angedeutet, hatte Smith mit der Sympathie bzw. Empathie ein analytisches Werkzeug, mit dem nicht nur die Tatsachen, also die Gefühle, erfasst werden können, sondern mit diesem Werkzeug hat er auch den Weg zur besserer Anwendung von Vernunft eröffnet. Diese Möglichkeit hat Smith mit dem gerade zitierten Gleichnisses verdeutlicht:
„Ich kann auf keine andere Weise einen richtigen Vergleich zwischen jenen großen Objekten und den kleinen Gegenständen ziehen, die um mich sind, als indem ich mich wenigstens in der Phantasie an einen anderen Standort versetze, von wo ich beide aus ungefähr gleicher Entfernung überblicken kann, so daß ich mir dadurch ein Urteil über ihre wahren Größenverhältnisse zu bilden vermag.“
Das überträgt Smith nun auf Gefühle. Der Mensch kann dank seiner Einbildungskraft, die im Wesentlichen auf seinem Denkvermögen beruht, beliebig die Standorte wechseln. Anders gesagt, der Mensch kann gedankliche Experimente machen. Man kann eine vorläufige Auffassung über ein konkretes Gefühl als eine Hypothese in die empirisch-konkrete Situation der vielen Betroffenen hineintragen und damit die Richtigkeit dieser Hypothese bzw. des Gefühls testen. Man kann ebenso aus der empirisch-konkreten Situation eine allgemein gültige Erklärung bezüglich der ethischen Gefühle suchen, also eine, die bezogen auf eine konkrete Gesellschaft eine mehr oder weniger universelle - sozusagen objektive - Geltung hat. Weil diese Möglichkeit jedem Menschen als denkendem Wesen zur Verfügung steht, gibt es nach Smith zwei moralische Instanzen in jedem Menschen: eine subjektive und eine höhere. Die höhere Instanz ist diejenige, auf der sich der unparteiische Zuschauer befindet, wie sich Smith ausdrückt, der ein gerechter Richter und Schiedsherr über unser Verhalten ist.
„Wir bemühen uns, unser Verhalten so zu prüfen, wie es unserer Ansicht nach irgendein anderer gerechter und unparteiischer Zuschauer prüfen würde. Wenn wir uns erst in seine Lage versetzen und wir dann immer noch an allen Affekten und Beweggründen, die unser Verhalten bestimmten, durchaus inneren Anteil nehmen, dann billigen wir dieses Verhalten aus Sympathie mit der Billigung dieses gerechten Richters, den wir in Gedanken aufgestellt haben. Fällt die Prüfung anders aus, dann treten wir seiner Mißbilligung bei und verurteilen unser Verhalten.“
Smith nennt diese zwei Instanzen auch Tribunale. Eines dieser Tribunale berücksichtigt nur rohe Gefühle und Oberflächlichkeiten, das ist das Tribunal des egoistischen und oberflächlichen „äußeren“ Menschen. Das zweite Tribunal ist ein „weit höheres Tribunal“, das auf Vernunft, Grundsatz, Gewissen beruht, es ist das Tribunal des uns „vorgestellten unparteiischen und wohlunterrichteten Zuschauers“ oder das des „inneren Menschen“.
„Die Rechtsprechung jedes dieser beiden Tribunale gründet sich auf Prinzipien, die in mancher Hinsicht zwar ähnlich und verwandt, in Wirklichkeit aber doch voneinander verschieden und abweichend sind. Die Gerichtsbarkeit des „äußeren“ Menschen gründet sich durchaus auf den Wunsch nach realem Lob und auf die Abneigung gegen realen Tadel. Die Gerichtsbarkeit des „inneren“ Menschen gründet sich ganz und gar auf den Wunsch, lobenswürdig zu sein und auf die Abneigung dagegen, tadelnswert zu sein; diese Gerichtsbarkeit gründet sich auf den Wunsch, jene Eigenschaften zu besitzen und jene Handlungen zu vollbringen, die wir an anderen Menschen lieben und bewundern, und auf die Furcht, jene Eigenschaften zu besitzen und jene Handlungen zu vollbringen, die wir an anderen Menschen hassen und verachten.“
Wenn man sich jetzt an die Beispiele des vorigen Zitats erinnert, über das katastrophale Erdbeben in China und den kleinen Finger, bekommt man leicht den Eindruck, dass sich Smith widerspricht. Gewissermaßen stimmt das, aber es ist kein Widerspruch in seiner Theorie, sondern ein Widerspruch in der menschlichen Natur. Smith bietet nämlich auch ausreichend Beispiele dafür, dass es so etwas wie ein zweites Tribunal in unserer Brust, den unparteiischen Zuschauer, wirklich gibt. Erwähnen wir ein paar dieser Beispiele.
Wenn wir das Gemüt und den Charakter eines Fremden beurteilen, dessen Verhalten und Handlungen uns selbst nicht beeinflussen würden, so Smith, dann verwenden wir die Maßstäbe des unparteiischen Zuschauers. Es ist daran zu sehen, dass wir nicht auf der Ebene der Gefühle des Fremden bleiben, sondern wir verlangen zusätzliche Informationen, um uns erst dann ein Urteil über das Verhalten und die Handlungen zu bilden.
„Unsere Sympathie mit der Freude oder dem Kummer eines anderen wird immer äußerst unvollkommen sein, solange wir nicht mit den Ursachen dieser Affekte bekannt sind. Allgemeine Wehklagen, die nichts anderes zum Ausdruck bringen als die Qualen, die der Leidende empfindet, erwecken eher eine gewisse Neugierde in uns, den Wunsch, seine Lage kennen zu lernen ... Die erste Frage, die wir stellen, ist: „Was ist dir widerfahren?“ Solange diese Frage nicht beantwortet ist, werden wir zwar ein gewisses Unbehagen fühlen, einerseits infolge der unklaren Vorstellung, die wir uns von seinem Unglück machen, noch mehr aber weil wir uns mit Vermutungen darüber quälen, was es wohl für ein Unglück gewesen sein mag - aber unser Mitgefühl für ihn wird nicht sehr beträchtlich sein.
Sympathie entspringt also nicht so sehr aus dem Anblick des Affektes, als vielmehr aus dem Anblick der Situation, die den Affekt auslöst. Wir fühlen mitunter für einen anderen einen Affekt, dessen er selbst ganz und gar unfähig zu sein scheint; denn dieser Affekt entsteht in unserer Brust, sobald wir uns in seinen Fall hineindenken, aus der Einbildungskraft; während er in seinem Herzen durch die Wirklichkeit nicht hervorgerufen wird. Wir erröten für die Schamlosigkeit und Roheit eines anderen, obwohl er selbst scheinbar kein Gefühl für die Unschicklichkeit seines Betragens hat; denn wir können uns des Gedankens an jene Beschämung nicht erwehren, die uns ergreifen würde, wenn wir selbst uns auf so unvernünftige Weise betragen hätten.“
Auch Wohltaten, so Smith, werden von uns nicht unbedingt deswegen geschätzt, weil sie Freude und Glück der Gesellschaft oder der Menschheit vermehren. Wir fragen uns nach den Gründen, die dahinter stecken, und erst dann billigen oder missbilligen wir die Wohltaten.
„Wir sympathisieren nicht schon darum mit der Dankbarkeit eines Menschen gegen einen anderen durchaus und von ganzem Herzen, weil dieser andere der Urheber des Glücks jenes Menschen gewesen ist, sondern nur dann, wenn er dieses Glück aus Beweggründen herbeigeführt hat, denen wir ganz und gar zustimmen können. Unser Herz muß den Maximen des Handelnden beipflichten, es muß all die Neigungen, die sein Verhalten bestimmten, nachfühlen, bevor es mit der Dankbarkeit dessen, der die wohltätigen Wirkungen dieser Handlungen empfangen hat, volle Sympathie und Übereinstimmung empfinden kann.“
Wenden wir die unparteiischen Maßstäbe auch auf uns selbst an? Smith bejaht das.
„Das aufrichtigste Lob kann uns nur wenig Freude bereiten, wenn es nicht als irgendeine Art von Beweis für unsere Lobenswürdigkeit betrachtet werden kann. Es genügt keineswegs, daß man uns Achtung und Bewunderung auf diese oder jene Weise, vielleicht bloß aus Unwissenheit oder Irrtum, entgegenbringt. Wenn wir uns dessen bewußt sind, daß wir es nicht verdienen, in einem so günstigen Rufe zu stehen, und daß man, wenn man die Wahrheit über uns wüßte, uns mit ganz anderen Gefühlen betrachten würde, dann ist unsere Genugtuung weit davon entfernt, vollständig zu sein.
Nur die schwächlichsten und oberflächlichsten Menschen können sich an jenem Lobe sehr ergötzen, von dem sie selbst wissen, daß es durchaus unverdient ist. Ein schwacher Mensch mag manchmal daran Gefallen finden, ein weiser Mann wird es bei jeder Gelegenheit von sich weisen.“
Smith behauptet sogar, dass die unparteiische Beurteilung zeitlich der parteiischen vorausgeht, sie ginge sogar dem eigenen egoistischen Nutzen voraus:
„Ursprünglich jedoch billigen wir eines anderen Menschen Urteil nicht als etwas Nutzbringendes, sondern als richtig, als genau zutreffend, als übereinstimmend mit Wahrheit und Wirklichkeit. ... In gleicher Weise wird der Geschmack ursprünglich nicht als etwas Nützliches gebilligt, sondern als richtig, als feinfühlend, als genau seinen Gegenständen angemessen. Die Vorstellung der Nützlichkeit aller dieser Eigenschaften ist offenkundig eine später hinzutretende Überlegung und nicht sie ist es, was jene Eigenschaften zunächst unserer Billigung empfiehlt.“
Solche Ansichten und Aussagen bieten in der Tat eine gewisse Bestätigung dafür, dass Smith in der Theorie einen sentimentalen und wohlwollenden Menschen ins Auge fasste, nicht einen nur egoistischen, wie angeblich im Wohlstand. Beides stimmt nicht. Dieser unparteiische Zuschauer aus der Theorie, der „große Inwohner unserer Brust“, ist nicht einer, der imstande wäre, über die ethischen Gefühle zu herrschen, er beeinflusst sie nur.
„Obgleich aber die Billigung seines eigenen Gewissens in manchen außerordentlichen Fällen dem Menschen in seiner Schwäche kaum Genüge tun kann, obgleich das Zeugnis des in Gedanken vorgestellten unparteiischen Zuschauers, des großen Inwohners seiner Brust, nicht immer allein imstande ist, ihm Halt zu gewähren, so ist doch in allen Fällen der Einfluß und die Autorität dieses Prinzips sehr groß; und nur, wenn wir diesen inneren Richter zu Rate ziehen, können wir jemals die Dinge, die uns selbst betreffen, in ihrer richtigen Gestalt und in ihren wahren Maßen erblicken oder können wir jemals einen richtigen Vergleich zwischen unseren eigenen Interessen und denen anderer Menschen ziehen.“
Aber wie groß die Autorität dieses Prinzips sein mag, Smith ist klar, dass es alleine nicht ausreicht, einen Menschen zu zwingen, als ein moralisches Wesen zu leben und zu handeln:
„Der Mensch in unserer Brust, der gedachte und ideale Beobachter unseres Fühlens und Verhaltens, muß oft durch die Gegenwart eines wirklichen Beobachters geweckt und an seine Pflicht erinnert werden.“
Aber wie? Die Auffassung von Smith liegt in der klassischen Formel, die Menschen seien zwar zu schlecht und zu unvernünftig, um ohne Institutionen auszukommen, sie seien aber gut und klug genug, um sich die nötigen Institutionen zu geben. Im Sinne des Aristoteles: „Wir können den Wind nicht ändern, aber wir können die Segel anders setzen.“ Der unparteiische Zuschauer, der dank der Vernunft die Gefühle auf ihre allgemeine Gültigkeit und ihre Auswirkungen prüfen kann, kann sich dann Regeln ausdenken, wie das menschliche Miteinander optimal funktionieren könnte. Mit dem unparteiischen Zuschauer gelangt Smith also zu den Regeln, die nach seiner Überzeugung „mit Recht als Gesetze der Gottheit angesehen werden“ können. So ist Smith, wie Spinoza vor ihm, durch seine ethischen Überlegungen zur geregelten Ordnung gekommen. Bei Spinoza ging es um eine politische, bei Smith um eine ökonomische geregelte Ordnung.
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