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Wie ethische Gefühle verfälscht werden und wie sie dennoch nützlich sein können |
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Ein Exkurs: Immanuel Kant und seine vormoderne Konterrevolution in der Ethik |
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Das deutsche Denken war also noch am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts zu beträchtlichem Teil aus Quellen gespeist, die aus vorwissenschaftlichen Schichten des Bewusstseins entsprangen. |
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Ernst Topitsch, ein österreichischer Philosoph und Soziologe |
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Nietzsche sagt, Kants kategorischer Imperativ habe einen üblen Geruch nach Blut und Folter an sich. ... Der Kantische Begriff der unbedingten Pflicht entstammt einer autoritären, patriarchalischen, religiösen Tradition, die man nicht hätte rekonstruieren, sondern aufgeben sollen. Hätten wir uns an Humes Rat gehalten, hätten wir aufgehört, über unbedingte Pflichten zu reden, sobald wir aufhörten, uns vor Qualen nach dem Tode zu fürchten. ... Wir hätten den Namen des Gesetzgebers „Gott“ nicht durch den Namen „Vernunft“ ersetzen sollen. |
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Richard Rorty, bekannter amerikanischer Philosoph |
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Es gibt berechtigte Gründe über die Deutschen als verspätete Nation (Helmuth Plessner) zu sprechen. Als nämlich bei den westlichen Nachbarn schon längst über neue politische, ökonomische und soziale Ordnungen diskutiert wurde, beschäftigte sich der deutsche Geist - wie in den Jahrhunderten davor - mit den „schönen Künsten“ an den Höfen der Feudalherren. Man kann dazu interessanterweise bemerken, dass in dieser Hinsicht Deutschland gar nicht so verschieden vom zaristischen Russland war. Auch die Russen waren schon immer unheimlich stolz auf ihre Kultur. Es gilt eigentlich für die ganze vormoderne Zeit, dass die „schönen Künste“, eingehüllt in die Religion und Mystik, fast vollständig den Geist ausfüllten, so dass die „deutschen Zustände“ an sich nichts Neues und Originelles waren. Man könnte auch davon ausgehen, dass sich der neue Geist der Moderne in Deutschland spontan vielleicht nie entwickelt hätte, aber wie dem auch sei, er ist von draußen gekommen. Deutschland war Nachzügler. Bei seinem mühseligen Einstieg in die Moderne handelte es sich zuerst um sehr oberflächliche Nachahmungen dessen, was bei den westlichen Nachbarn vor sich ging, worüber Marx im Manifest spöttisch schrieb:
„Die ausschließliche Arbeit der deutschen Literaten bestand darin, die neuen französischen Ideen mit ihrem alten philosophischen Gewissen in Einklang zu setzen oder vielmehr von ihrem philosophischen Standpunkte aus die französischen Ideen sich anzueignen. Diese Aneignung geschah in derselben Weise, wodurch man sich überhaupt eine fremde Sache aneignet, durch die übersetzung. Es ist bekannt, wie die Mönche Manuskripte, worauf die klassischen Werke der alten Heidenzeit verzeichnet waren, mit abgeschmackten katholischen Heiligengeschichten überschrieben. Die deutschen Literaten gingen umgekehrt mit der profanen französischen Literatur um. Sie schrieben ihren philosophischen Unsinn hinter das französische Original. Z.B. hinter die französische Kritik der Geldverhältnisse schrieben sie „Entäußerung des menschlichen Wesens“, hinter die französische Kritik des Bourgeoisstaates schrieben sie „Aufhebung der Herrschaft des abstrakten Allgemeinen“ usw.“
Diese deutschen „Literaten“ waren von ihrer Gesinnung her eigentlich Theologen, die sich gezwungen sahen die mittelalterliche Standesordnung modern umzudeuten, um der feudalen Epoche am Sterbebett noch ein letztes Mal neues Leben einzuhauchen. Sie wollten oder konnten ihre vormodernen Positionen und Sichtweisen nicht aufgeben, sondern sie haben nur die Formen des neuen Diskurses übernommen. Wie während der ganzen Vormoderne üblich, wollten sich auch die deutschen „Literaten“ nicht mit der Realität bzw. mit den Tatsachen beschäftigen, sondern am besten weiterhin über Gott und die Welt sinnieren - allerdings der neuen Sprache angepasst. Heinrich Heine bemerkte damals ironisch dazu: „Die Deutschen sind ein gemeingefährliches Volk. Sie ziehen unerwartet ein Gedicht aus der Tasche und beginnen ein Gespräch über Philosophie.“ Mit dem Gedicht wollte Heine darauf anspielen, dass es eigentlich Worte bzw. Begriffe (Kategorien) sind, was der deutsche Geist bzw. die spekulative Vernunft benötigt, die Tatsachen aber nicht. Genauer gesagt braucht diese spekulative Vernunft die Tatsachen schon, aber nur um zu den Begriffen (Kategorien) zu gelangen: Man nennt das abstrahieren. An diesem Umgang mit den Tatsachen in der deutschen Philosophie lässt sich am deutlichsten erkennen, wie sie von Anfang an gegen den Geist der Moderne war - was sich übrigens bis heute nicht viel geändert hat. Da dieser Bezug der Vernunft zu den Tatsachen einen entscheidenden Einfluss auf die Ethik ausübt, ist es angebracht dazu ein paar Sätze mehr zu sagen.
Die Verachtung der Tatsachen vonseiten der vormodernen Philosophie der Vernunft
Es hat bei den vormodernen Philosophen kaum etwas so wenig Achtung genossen wie die Tatsachen. Vor allem die Vernunft konnte mit ihnen nichts anfangen. Es ist in der Tat sehr „unbequem“, mit den echten Tatsachen zu arbeiten:
„Zwischen der theoretischen Tatsache, die genau und streng ist und der praktischen Tatsache mit ihren Konturen, die so verschwommen und unbestimmt, wie alles, was uns durch unsere Wahrnehmung kund wird, sind, gibt es keine übereinstimmende Beziehung. Daher kann dieselbe praktische Tatsache einer Unzahl theoretischer Tatsachen entsprechen.“
Es ist in der Tat bequem, mit den „reinen“ Tatsachen oder anders ausgedrückt mit Begriffen (Kategorien) umzugehen. Diese sind aber nichts anderes als empirische Tatsachen, die eine anerkannte Autorität von „lästigen“ Details „befreit“ hat. Weniger freundlich formuliert sind die „reinen“ Tatsachen, also die „rein theoretischen“ Begriffe (Kategorien), nur entstellte Tatsachen, die als solche im Denksystem, für das sich ein Philosoph entschieden hat, keine Unannehmlichkeiten und Widersprüche mehr verursachen. Um dies zu verschleiern, musste sich die spekulative Vernunft einige Ausreden ausdenken. Eine der raffiniertesten Kunstgriffe ist der, den Spieß umzudrehen. Die empirischen Tatsachen seien angeblich nicht echt, sondern verzerrt und entstellt. So hat Platon die empirischen Tatsachen in seinem berühmten Höhlengleichnis als „Schatten“ der wahren („idealen“) Welt bezeichnet und die ganze Philosophie für Jahrtausende in eine Sackgasse geschickt.
Heute scheint es nicht leicht verständlich zu sein, dass den Philosophen, den so stolzen und selbstbewussten Welterklärern und Alleswissern Jahrtausende lang nicht eingefallen ist, die Vernunft auf die richtigen Tatsachen anzuwenden, um durch sie die Realität zu erklären. Erst die Naturwissenschaften waren es, die am Anfang der Moderne begonnen haben, sich mit den empirischen Tatsachen zu beschäftigten und dabei Erfolge erzielt, von denen man davor nicht einmal träumen konnte. Verglichenen mit den Errungenschaften der Wissenschaft muten die Ergebnisse der spekulativen Vernunft wie Märchen an. Dank der Tatsachen bzw. der neuen Wissenschaften konnte die Vernunft - der menschliche Verstand - zu einer Ehre gelangen, die man früher nicht für möglich halten konnte. Erst danach hat auch die Philosophie begonnen die Tatsachen ernst zu nehmen, zuerst nur in Westeuropa, vor allem in Großbritannien, wo sich eigentlich die neue tatsachenbezogene, also empirische Philosophie entwickelte.
Das merkwürdige am neuen Status der Vernunft ist, dass ihr die Kompetenzen stark beschnitten wurden. Erinnern wir uns, dass etwa bei Platon die Vernunft sogar über das Schöne und Gute entscheiden sollte, dagegen beschränkte man in der neuen empirischen Philosophie den Bereich der Vernunft auf die Formen und Muster des logischen Denkens. Und man berechtigte gerade die empirischen Tatsachen über die Richtigkeit der Erkenntnisse der Vernunft zu entscheiden. Die berühmte Redewendung von Hume drückt dies eindrucksvoll und präzise aus:
„Auf diese Weise müssen wir in all unseren Gedanken und Vorstellungen aufräumen: Greifen wir irgendein Band heraus, etwa über Gotteslehre oder Schulmetaphysik, so sollen wir fragen: Enthält er irgendeinen abstrakten auf Erfahrung gestützten Gedankengang über Tatsachen und Dasein? Nein. Nun, so werft ihn ins Feuer, denn er kann nichts als Blendwerk und Täuschung enthalten.“
Die verschämte und beleidigte Vernunft flüchtete daraufhin nach Deutschland. In welcher Form auch immer war die neue deutsche „kritische Philosophie“ nur ein kurioser Versuch die vormoderne spekulative Vernunft zu retten. Am Anfang dieser Tradition stand Immanuel Kant (1724-1804), mit seiner Kritik der Vernunft. Die Kritik der Vernunft an sich ist sehr wohl modern. Die modernen, vor allem die empirischen Philosophen wollten mit der Kritik der Vernunft herausfinden, was die Vernunft aus dem Objekt seines Denkens, also aus den Tatsachen, erkennen kann, die Kritik der Vernunft von Kant war doch eine andere: Sie war sozusagen eine Selbstkritik der Vernunft. Als bei den westlichen Philosophen über die Eignung der Vernunft für die Wissenschaften diskutiert wurde, haben sich Kant und die wichtigsten deutschen Philosophen mit der Kritik der Vernunft beschäftigt, um herauszufinden, was alles die Vernunft nicht kann und was alles gegen sie spricht. Sie haben sozusagen die Vernunft gegen die Vernunft gestellt. Das Sokratische, „man weiß das man nichts weiß“, wurde zum ganzen Stolz der deutschen Philosophie. Einige der größten Namen der deutschen Philosophie schickten die Vernunft auf den Weg der Dialektik. Die Dialektik beruht auf einer ebenfalls kuriosen „Entdeckung“ einer angeblich besonderen Fähigkeit der Vernunft: Wenn sie sich selbst negiert, geschieht ein mystischer Sprung der Vernunft auf eine höhere Stufe. Bei diesem „qualitativen“ Sprung nach Vorne werden zugleich auch die Tatsachen der früheren „dialektischen Stufe“ geopfert. Ein bisschen überzogen ausgedrückt sind die Tatsachen bei den deutschen Dialektikern nur Abfallprodukte der selbstbezogenen Fortentwicklung der Vernunft. Musterhaft für diese Niedrigschätzung der Tatsachen steht die berühmte Antwort von Hegel auf die Frage, was es für ihn bedeuten würde, wenn die Tatsachen seiner Auffassung widersprächen: „Desto schlimmer für die Tatsachen.“
Keiner will Kant für alles verantwortlich machen, was in der deutschen Philosophie nach ihm geschehen ist, er hat aber zweifellos viel dazu beigetragen, dass die deutsche Philosophie sich von der Metaphysik bzw. der spekulativen Vernunft immer noch nicht ganz befreien konnte. Deshalb verwundert es, wenn Kant selbst sagte, dass Hume derjenige gewesen ist, der seinen dogmatischen Schlummer beendet habe. Man kann aber sagen, dass Kant liegen blieb und sich nur auf die andere Seite drehte, um weiter in der Metaphysik versunken zu träumen. Wenn es schon unmöglich war, die Allzuständigkeit und universelle Kompetenz der Vernunft zu retten - Hume hat hier nämlich ganze Arbeit geleistet -, dann sollte die Vernunft nach Kant für ein exklusives Wissen sorgen, das sozusagen tiefer, reiner und besser sein sollte als es die Erkenntnisse aus den Tatsachen sind. Deshalb musste Kant darauf bestehen, dass sich unter der Oberfläche der empirischen Wirklichkeit ein „verborgenes Diesseits“ befindet, das der (reinen) Vernunft doch zugänglich wäre, auch wenn nur in allgemeinen Formen oder Mustern des Denkens. Die Tatsachen sollten so etwas wie die Kleidung sein, in der sich der echte Mensch befindet. Diese Spaltung der Realität in die „Erscheinungen“ und in die „geistigen (intelligiblen) Dinge an sich“ ist für Kant eine dermaßen unbestrittene Selbstverständlichkeit, dass sie gar nicht (kritisch) hinterfragt muss oder gar darf. Folglich ist bei ihm auch die Vernunft zweigeteilt. Für die sinnenzugängliche Realität reicht schon die „praktische Vernunft“ (Verstand), für die dahinter liegende ist unbedingt die „reine Vernunft“ nötig. Die „reine Vernunft“ hat „theoretische Funktion“ und bietet allgemeine Gebrauchsanweisungen für die „praktische Vernunft“. Folglich können diejenigen, die nicht die Tiefe der „reinen Vernunft“ erreichen, nicht die Wirklichkeit richtig deuten und folglich auch nicht richtig praktisch handeln. Die Philosophie von Kant ist damit beschreibend-erzählerisch geblieben, wie die ganze vormoderne Philosophie, also eine Metaphysik des Seins.
Es ist gerade „die Metaphysik, in welche ich das Schicksal habe, verliebt zu sein“, so Kant selbst. In der Metaphysik bekommt die spekulative Vernunft die exklusive Aufgabe nach den tiefer liegenden Prinzipien des Seins bzw. des „verborgenen Diesseits“, die sich angeblich nie aus dem unmittelbar Gegebenen herleiten lassen, zu suchen. In der angelsächsischen Philosophie hat man reinen Tisch gemacht und die Metaphysik als eine nicht-empirische Gedankenspielerei abgelehnt, die für wissenschaftliche Zwecke völlig unbrauchbar ist. Da ist es aber umso merkwürdiger, wie es in der deutschen Philosophie überall von Worten wie Wissenschaft und wissenschaftlich wimmelt. Nehmen wir als Beispiel Marx. Er spricht ständig und überall von der Wissenschaft. Wir wissen, was aus seiner „Wissenschaft“ geworden ist, und nicht besser sieht es mit all den „wissenschaftlichen“ Spekulationen aller seiner früheren (Hegel, Schelling, Fichte) sowie späteren (Heidegger, Popper, Habermas, Luhmann, …) Kollegen aus. Keiner von ihnen hat je etwas Vernünftiges und Bestimmtes über die ersten und letzten Gründe der „tiefer liegenden“ Wirklichkeit gesagt und erst recht nicht über etwas, was die Existenz des Menschen verbessern könnte. Der Philosoph Herbert Schnädelbach, der sich aus unserer heutigen Perspektive mit dieser Problematik beschäftigt, fasst seine Überlegungen folgendermaßen zusammen:
„Das Philosophieren verfügt über keinen eigenen Realitätszugang; immer ist der durch Erfahrung und die empirischen Wissenschaften vermittelt. Bloßes Denken ist noch kein Erkennen, was freilich nicht ausschließt, daß Erkennen Denken voraussetzt und enthält, wie wir umgekehrt schon immer etwas erkannt haben müssen, um etwas zum Nachdenken zu haben. ... Philosophie als Grundlagenwissenschaft oder als Wissenschaftssynthese - mit diesen Programmen war stets das Bild vom Fundament oder vom Dach des Hauses der Wissenschaft verbunden; beide Vorstellungen halte ich für irreführend. Wenn mit ‚Grundlagen’ die grundlegenden Erkenntnisse einer wissenschaftlichen Disziplin gemeint sein sollen, so gehören die immer schon dieser Disziplin an; es ist nichts Philosophisches an ihnen. Was Materie ist, sagt uns der Kernphysiker, und was das Leben, die Biologen, und wenn sie es den Philosophen nicht sagen, können die es auch nicht wissen. Die Dach-Metapher hingegen ist geeignet, die Philosophie hoffnungslos zu überfordern: Wie sollte ein Philosoph, der die Wissenschaften nicht wirklich kennt, deren Resultate zu einer alles umfassenden Weltsicht zusammenführen können, ohne die größte Konfusion anzurichten?“
„Offenbar verkörpert dieses so formulierte Ideal spekulativer Vernunft eine bestimmte Form intellektueller Weltflucht vor dem Hintergrund der Erfahrung. ... Der Metaphysiker ist demnach überzeugt, dass die Wissenschaft von der Natur nicht die erste Wissenschaft sein kann, weil die allgemeinen Bestimmungen sowie die Gründe und Ursachen der natürlichen Dinge nicht in der Natur selbst zu finden sind, sondern nur im Reich des reinen Denkens. So ordnet auch Kant der Metaphysik immer noch die spekulative Vernunft zu, die den Bereich der sinnlichen Erfahrung überschreitet und sich „reine Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen“ zutraut; und Kant zufolge war es Platon, der damit begann.“
Der intellektuellen Redlichkeit der nichtempirisch orientierten Philosophien kann man Beifall spenden, mit der Wirklichkeit haben sie aber nicht mehr zu tun als etwa Poesie oder Musik. Es gibt keine übersinnlichen theoretischen „Tiefen“ unter den Tatsachen. Deshalb ist es kaum übertrieben, wenn Herder die Kategorien von Kant als „öde Wüste voll leerer Hirngeburten ... anmaßende Wortnebel“ bezeichnet. Um auf den (faden) Geschmack der „tiefer gelegenen“ Erkenntnisse über die Realität zu kommen, erinnern wir uns etwa daran, wie Heidegger Dasein in seinem bekanten Buch Sein und Zeit erklärt:
„Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderen Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehört aber dann, daß es in diesem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat. Und dies wiederum besagt: Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein. Diesem Seienden eignet, daß mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist. Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmung des Daseins. Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, daß es ontologisch ist.“
Der Vorwurf, die Metaphysik sei der Ersatz der früheren Theologie, wurde seit Langem erhoben. Es ist in der Tat auffällig, wie der Bezug der Metaphysik zu den Tatsachen gleich dem in der Theologie ist: Man hat nur Gott durch Vernunft ersetzt. Die Herrlichkeit und die Allmacht des Gottes werden nach Auffassung der Theologen durch Herrschaft über die Tatsachen unter Beweis gestellt. Was sind nämlich die Gotteswunder? Sie stellen immer einen Verstoß gegen die empirische Ordnung der Tatsachen dar. Der Gott ist also mächtiger als die Tatsachen oder anders gesagt als die Gesetze der Natur, genauso wie die spekulative Vernunft. Deshalb wundert es nicht, dass Hume, der große Kritiker der Metaphysik, zugleich auch ein großer Kritiker der Religion war.
„In der Tat liegt der gerechteste und einleuchtendste Einwand gegen einen beträchtlichen Teil der Metaphysik darin, daß sie nicht eigentlich eine Wissenschaft sei, sondern entweder entstehe aus den fruchtlosen Bemühungen menschlicher Eitelkeit, die in dem menschlichen Verstande völlig unzugängliche Gegenstände eindringen möchte, oder aus der List gängigen Aberglaubens, der, da er sich auf freiem Felde nicht verteidigen kann, dieses undurchdringliche Gestrüpp züchtet, um seine Schwäche zu verbergen und zu schützen. Aus dem freien Felde verjagt, fliehen diese Räuber in den Wald und liegen auf der Lauer, in jede unbewachte Straße des Geistes einzufallen und ihn durch religiöse Furcht und Vorurteile zu überwältigen.“
Es war schon immer so, dass die Vertreter der spekulativen Vernunft sozial und politisch diskriminierten. Man teilte die Menschen auf in diejenigen, die nur auf der „Oberfläche“ der Tatsachen denken können, und die Besonderen, deren Denkvermögen größer war. Dann liegt der ordnungspolitische Gedanke nahe, dass man denjenigen, die fähig sind zu den „tiefer gelegenen“ Wahrheiten durchzudringen - wo auch die Antwort auf die Frage nach dem letzten Sinn der Realität liegt - überlassen sollte die Gesellschaft zu beherrschen. Die „reine Vernunft“ von Kant führt - oder weist zumindest die Richtung - zurück auf den Weg zur Philosophie von Platon und zu seinen Philosophen-Königen, also zur Herrschaft der Wissenselite. Hinter den Ansprüchen des spekulativen Denkens, das sich über die Tatsachen erhebt, schlummern die totalitären Tendenzen der deutschen traditionellen Philosophie, die sich als solche leicht ideologisch und politisch missbrauchen lässt, wie es Plessner schon im Jahre 1935 ahnte und was in der Tat zum Verhängnis der „verspäteten Nation“ wurde.
„In der Kantischen Lehre sind zwei wesentliche Voraussetzungen des totalen Ideologiegedankens enthalten:
1. die Verstecktheit einer praktischen Gebrauchsbestimmung in einer theoretischen Funktion des menschlichen Geistes,
2. die Undurchsichtigkeit des Bewußtseins für sich selbst.“
Man hat auch schon längst bemerkt, dass die Ansätze und Theorien aus den deutschen Werkstätten in ihrer sprachlichen Form kritisch sind, in der Praxis aber bestens dem aktuellen Stand der Dinge angepasst. Den Vertretern des deutschen „Kritizismus“, in welcher Form und Ausrichtung auch immer, fiel es nie schwer, auf die eine oder andere Weise autoritäre, repressive und inhumane Herrschaftsformen zu rechtfertigen. Das gilt für die Marxisten und Popperianer gleichermaßen, angefangen hat es aber schon mit Kant. So schreibt er in der „Metaphysik der Sitten“:
„Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staates gibt es also keinen rechtmäßigen Widerstand des Volks; denn nur durch Unterwerfung unter seinen allgemein-gesetzgebenden Willen ist ein rechtlicher Zustand möglich; also kein Recht des Aufstands (seditio), noch weniger des Aufruhrs (rebellio), am allerwenigsten gegen ihn, als einzelne Person (Monarch) unter dem Vorwande des Mißbrauchs seiner Gewalt (tyrannis)..“
In seinem 1793 in der „Berlinischen Monatsschrift“ veröffentlichen Aufsatz „Über den Gemeinanspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ erklärt er „alle Widersetzlichkeit gegen die oberste gesetzgebende Gewalt, alle Aufwiegelung, um Unzufriedenheit der Untertanen tätlich werden zu lassen, allen Aufstand, der in Rebellion ausbricht“, für „das höchste und strafbarste Verbrechen im gemeinen Wesen“. Das sind dermaßen klare Worte, dass sie einem kalte Schauer den Rücken hinunterlaufen lassen.
Fügen wir noch hinzu, dass man Kant nicht mit Hobbes vergleichen und rechtfertigen kann, nur weil sich dieser auch für eine totalitäre Herrschaft (Leviathan) einsetzte und zwar nicht nur deshalb, weil Hobbes erst am Anfang der Moderne stand. Hobbes hat bekanntlich das „natürliche“ Recht auf Selbsterhaltung über alles gestellt. Nach dem Vertrag mit dem Volk, so Hobbes unmissverständlich, hat der Souverän die Pflicht für die Existenz der Bürger gut zu sorgen; verletzt er diese Pflicht, haben die Untertanen das Recht auf Umsturz:
„Wird jemand aus Furcht vor augenblicklichem Tod zu einer gesetzwidrigen Tat veranlaßt, ist er vollkommen entschuldigt, weil keiner verpflichtet werden kann, die Erhaltung seines Lebens zu vernachlässigen. ... Wer aller Nahrungsmittel und jedes Unterhaltes beraubt ist und ohne Übertretung der Gesetze sein Leben nicht erhalten kann - was bei einer Hungersnot bisweilen der Fall ist, wo man Lebensmittel weder durch Kauf noch sonst auf eine Art bekommen kann - und zur Erhaltung des eigenen Lebens einem ändern das Seine heimlich oder mit Gewalt nimmt, der ist gänzlich entschuldigt.“
Auch viele anderen empirischen Philosophen haben sich dieser Auffassung von Hobbes angeschlossen, wie etwa Locke und Hume. Und Smith? Er bedauert sogar, dass die Menschen so sehr zögern, ihre Herrscher zur Rechenschaft zu ziehen:
„Selbst wenn die Ordnung der Gesellschaft es zu fordern scheint, daß wir ihnen Widerstand leisten, vermögen wir es doch kaum über uns zu bringen, dies zu tun. Daß die Könige die Diener ihres Volkes sind, daß ihnen Gehorsam oder Widerstand geleistet, daß sie abgesetzt oder bestraft werden sollen, je nachdem, wie es gerade die Wohlfahrt des Gemeinwesens verlangen mag - das ist die Lehre der Vernunft und der Philosophie, aber es ist nicht die Lehre der Natur. Die Natur lehrt uns vielmehr, uns ihnen um ihretwillen zu unterwerfen, zu zittern und uns zu Boden zu beugen vor ihrer erhabenen Stellung, ihr Lächeln als einen hinreichenden Lohn zu betrachten, der uns alle unsere Dienstleistungen zu vergüten vermag, und ihr Mißfallen, auch wenn kein anderes übel daraus folgen sollte als die schwerste von allen Demütigungen zu fürchten.“
Man kann nur staunen, welche Meinung Smith über die Revolutionäre - um es geläufiger auszudrücken - hat.
„Ob man aber Rebellen die Treue halten solle, ob man Häretikern die Treue halten solle, das sind Fragen, die oft mit wütendem Eifer von weltlichen und kirchlichen Gelehrten erörtert worden sind. Es ist, wie mich dünkt, unnötig, zu bemerken, daß sowohl Rebellen als Häretiker jene unglücklichen Menschen sind, die, wenn die Verhältnisse zu gewissen gewaltsamen Entscheidungen führen, das Unglück haben, zu der schwächeren Partei zu gehören. In einer Nation, die in Parteien geteilt ist, gibt es zweifellos immer eine geringe Zahl, wenn auch gewöhnlich nur eine ganz geringe Zahl, von Personen, die ihr Urteil unberührt von der allgemeinen Ansteckung erhalten.“
Moderne ergebnisorientierte versus vormoderne spekulative Moral
Die Philosophen, welche sich um die Tatsachen der menschlichen Natur nicht kümmern, so Spinoza, bilden sich ein „den Gipfel der Weißheit zu erreichen“ aber „statt eine Ethik haben sie meistens eine Satire geschrieben und niemals eine Politik-Theorie konzipiert, die sich auf das wirkliche Leben anwenden ließe; sie haben nur etwas produziert, das als eine Chimäre anzusehen ist oder das man in Utopia oder in jedem goldenen Zeitalter der Dichter, wo dies führwahr am wenigsten erforderlich war, hätte errichten können“. Die nicht empirische Ethik von Kant ist eine Bestätigung dafür.
Nach der Metaphysik der Sitten von Kant „liegt der moralische Wert der Handlung nicht in der Wirkung, die daraus erwartet wird“, sondern im „guten Willen“. Der gute Willen ist allein durch das gute Wollen gut und deshalb muss er ohne Einschränkungen für gut gehalten werden, „wenngleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichern Natur es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlt, seine Absicht durchzusetzen“. Dem höchsten moralischen Wert kann also laut Kant die „Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit weder etwas zusetzen noch abnehmen“. Tugenden seien folglich Abstraktionen, also formalisierte Zusammenfassungen möglicher Erfahrungen mit menschlichem Wollen.
Die Werte, die man in der Transzendenz entwirft, vermitteln den Eindruck, dass sie universalgültig und zeitlos sind. Sie sind es in der Tat, aber nur deshalb, weil sie unterbestimmt sind: Sie sind tausendmal destillierte Destillate von Tatsachen. Sie sind inhaltsleere sprachliche Hülsen in die man, je nach Bedarf, alles hineinstecken kann. Als solche sind die Werte der spekulativen Philosophen unendlich interpretierbar und manipulierbar, so dass sich mit ihnen alle individuellen Standpunkte moralisch verteidigen lassen. Dies ist im Wesentlichen auch der Grund, warum sie sich einer so großen Beliebtheit erfreuen. Für die moralische Gestaltung der Gesellschaft sind aber all diese Werte, die angeblich „nichts Empirisches, aber doch Allgemeingeltendes“ bedeuten, unwissenschaftlich und folglich nutzlos, ja sogar gefährlich. Die Transzendenz ist schließlich kein Ort, wo sich Werte bestimmen, begründen und rechtfertigen lassen und schon gar nicht einer, wo sich die Sozialwissenschaften niederlassen können, auch die Wirtschaftswissenschaft nicht. Weil bei uns die ökonomischen Fragen im Vordergrund stehen, machen wir uns ein paar Gedanken darüber.
Wie würde eine Welt funktionieren, in der die moralischen Werte nicht an zwingenden praktischen Ergebnissen gemessen werden? Was wäre zum Beispiel erreicht, wenn wir dem Unternehmer seinen Egoismus verbieten und ihn auf einen guten Willen einschwören? Wie wird er praktisch handeln, wenn er verpflichtet wird, bei allem was er tut, zuerst sein Herz zu befragen? Ihm wird ganz bestimmt einfallen, dass sein Profit mit Egoismus gar nichts zu tun hat. Denn Profit, so wird er unter anderem argumentieren, bräuchte man für Investitionen, und diese wolle man deshalb tätigen, weil der gute Wille - also die moralische Pflicht - verlange, für fleißige Menschen Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist im Grunde die Idee der protestantischen Ethik von Max Weber. Folglich wird der pflichtbewusste, spricht der sittliche Unternehmer seinem Vorhaben desto mehr gerecht, je niedrigere Löhne er zahlt und je schlechtere Arbeitsbedingungen er bietet. Mit einem Wort, je schlechter er die Ärmsten behandelt, desto mehr hat er der Sache der höchsten praktischen Tugend Genüge getan. Deshalb wundert es nicht, dass Kant die soziale Revolte der unteren Schichten als „das höchste und strafbarste Verbrechen im gemeinen Wesen“ bezeichnete und entsprechend verurteilte. Aber dies ist nur eine der möglichen Interpretationen des guten Willens. Dem Pfad der kantischen Metaphysik folgend, gelangte man später, als der Sozialismus noch hoch im Kurs stand, zum ethischen Sozialismus. Es geht also buchstäblich alles.
Um nicht nur bei Kant zu bleiben, erwähnen wir noch Martin Heidegger, der den ausgetretenen Weg der deutschen Metaphysik noch immer beschritten hat, als dieser schon etliche große Namen und berühmte spekulative Systeme hervorgebracht hatte. Im Jahre 1933 ruft Heidegger, mit all seinem Prestige als Denker und als Rektor der Universität die Freiburger Studenten auf: „Nicht Lehrsätze und Ideen seien die Regeln eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz.“ Sollten Heideggers metaphysische Spekulationen ein tiefer dringendes Denken sein, dann muss mit dieser Tiefe etwas nicht stimmen, wenn die aus ihr gewonnenen Schlussfolgerungen und Konsequenzen nicht anders sind als die der braunen Lumpen und Schläger der Weimarer Zeit. Man kann auch noch auf die Arroganz dieses selbsternannten Kenners des metaphysischen Jenseits hinweisen. Es wurde glaubhaft berichtet wie Heidegger einen Studenten, der wissen wollte, was das Sein sei, des Saales verwiesen hat.
Wenn man über die Beliebigkeit der nicht empirischen Philosophie bzw. der Ethik von Kant nachdenkt, kann man berechtigterweise auch die Frage stellen: Warum sollte der oberste Begriff der moralisch vollkommenen Welt gerade der gute Wille sein? Warum nicht der Glaube, die Liebe und die Hoffnung, wie bei den Christen, oder das Gute, das Wahre und das Schöne wie bei den antiken Philosophen, oder aber schließlich die Solidarität, die Gleichheit und die Gerechtigkeit wie bei den Sozialisten? Moralische Prinzipien, die nur Verallgemeinerungen, und damit formalisierte Zusammenfassungen von möglichen bzw. wünschenswerten Erfahrungen sind, und die nicht auf vorhersehbaren oder verwirklichbaren Tatsachen fußen, weil sie sie nur leere Begriffshülsen sind, kann man auch beliebig benennen.
Fügen wir auch noch hinzu, dass die Entkoppelung der Ethik von den Tatsachen nicht bedeutet, dass die spekulativen Werte die Tatsachen bzw. die Realität nicht beeinflussen können. Diese Werte, auch wenn sie an sich inhaltsleer sind, verursachen doch praktische Konsequenzen. Sie können nämlich Gefühle mobilisieren und damit unter Umständen eine unabdingbare Voraussetzung für die Lösung von Problemen bilden. Das können aber auch Künste, wie etwa die Musik und Poesie.
Die schottischen Moralphilosophen haben eine völlig andere Auffassung und Erklärung der Werte entworfen. Um sie zu veranschaulichen, stellen wir die Moralphilosophie von Smith der Metaphysik der Sitten von Kant gegenüber. Im scharfen Gegensatz zu Kant gibt es für Smith keine Moral ohne konkrete praktische Ergebnisse (Konsequenzprinzip). Bei ihm kann ein Mensch nicht einmal dann als moralisches Wesen gelten - er drückt dies in dem folgenden Zitat aus -, wenn „bloß der Mangel an Gelegenheit, Gutes zu tun, Schuld dafür trägt“.
„Der Mensch ist zum Handeln geschaffen und ist dazu bestimmt, durch die Betätigung seiner Fähigkeiten solche Veränderungen in den äußeren Verhältnissen, die ihn selbst oder andere Personen betreffen, herbeizuführen, wie sie für die Glückseligkeit aller am günstigsten scheinen mögen. Er darf sich nicht bei einem lässigen, untätigen Wohlwollen beruhigen, noch sich einbilden, daß er darum schon ein Menschenfreund sei, weil er in seinem Herzen für die Wohlfahrt der Welt alle guten Wünsche hegt. Damit er vielmehr die ganze Kraft seiner Seele aufbiete und jeden Nerv anstrenge, um die Zwecke zu verwirklichen, die zu fördern die Bestimmung seines Daseins ist, darum hat Natur ihm die Lehre gegeben, daß weder er selbst noch die übrigen Menschen mit seinem Betragen zufrieden sein, noch diesem vollen Beifall gewähren können, solange er nicht tatsächlich jene Zwecke verwirklicht hat. Sie läßt ihn wissen, daß der Ruhm guter Absichten ohne das Verdienst guter Handlungen nur wenig dazu helfen wird, den lauten Beifall der Welt hervorzurufen, oder auch nur den höchsten Grad der Selbstbilligung zu erwecken. .
Der Mensch der nicht eine einzige bedeutende Handlung vollbracht hat, dessen ganzer Lebenswandel, und dessen ganze Aufführung jedoch die gerechtesten, vornehmsten und edelsten Empfindungen ausdrückt, der hat nicht das Recht, einen sehr hohen Lohn zu beanspruchen, selbst dann nicht, wenn an seiner Nutzlosigkeit bloß der Mangel an Gelegenheit, Gutes zu tun, schuld trägt. Wir können ihm trotzdem die Belohnung verweigern, ohne uns dadurch einem Tadel auszusetzen. Wir können ihn immer noch fragen: 'Was hast du getan? Welche wirkliche gute Tat kannst du vorbringen, die dir das Recht auf eine so große Gegenleistung geben könnte? Wir achten dich und lieben dich, aber wir schulden dir nichts.'“
Die „verborgene, latente Tugend zu belohnen, die bloß aus Mangel an Gelegenheit, Gutes zu tun, nutzlos geblieben ist, ihr jene Ehren und Auszeichnungen zu gewähren, … das wäre in der Tat das Werk des göttlichsten Wohlwollens“ so Smith weiter, aber für die Gesellschaft der Menschen, so wie sie wirklich sind, wäre eine solche Ethik falsch. In der realen Welt müsste man andere Kriterien für die Tugend anwenden und zwar:
„Die wohlwollenden Neigungen und Gesinnungen verdienen nur dann das höchste Lob, wenn sie nicht solange warten, bis es für sie schon beinahe zum Verbrechen wird, sich nicht in Taten zu erweisen. “
Um alle Zweifel zu zerstreuen, bedient sich Smith eines stark überzogenen Vergleiches:
„Ein fleißiger Schurke bebaut den Boden, ein guter, aber nachlässiger Mensch läßt ihn unbebaut. Wer von beiden soll nun die Ernte einheimsen? Wer von beiden soll in Not und wer in Fülle leben? Der natürliche Lauf der Dinge entscheidet zugunsten des Schurken, die Empfindungen der Menschen entscheiden naturgemäß zugunsten des Tugendhaften. … So wird der Mensch durch die Natur selbst angeleitet, jene Verteilung der Dinge in gewissem Maße zu verbessern, die sie selbst sonst vorgenommen hätte.“
Und es ist nach Smith auch gut so, dass der „natürliche Lauf der Dinge“ zugunsten des Schurken entscheidet. Den praktischen Ergebnissen verpflichtet ist es für Smith also hinnehmbar, wenn jemand auch aus egoistischen Gründen zur Entwicklung einer guten Gesellschaft beiträgt. Den berühmtesten Satz, der diese Auffassung auf den Punkt bringt, hat Smith später als Ökonom geschrieben:
„Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihre Eigenliebe, und sprechen ihnen nie von unseren Bedürfnissen, sondern stets von ihren Vorteilen. Nur ein Bettler will lieber ganz vom Wohlwollen seiner Mitbürger abhängen.“
Die falschen Nachfolger von Smith, die Neoliberalen, wollen in dieser Aussage eine Bestätigung dafür sehen, dass Smith in Dem Wohlstand ein anderer als früher war. Das stimmt aber nicht. Auch in der Theorie findet man problemlos Behauptungen, die dem vorigen Zitat entsprechen:
„Jedermann stimmt dem allgemeinen Grundsatz zu, daß der Erfolg, da er nicht von dem Handelnden abhängt, auch keinen Einfluß auf die Gefühle haben sollte, die wir über die Verdienstlichkeit oder die Schicklichkeit seines Betragens hegen. Sobald wir aber ins einzelne gehen, da finden wir, daß unsere Gefühle kaum in einem einzigen Fall ganz genau dem entsprechen, was dieser gerechte und billige Grundsatz uns vorschreiben würde. Der glückliche oder ungünstige Erfolg einer Handlung pflegt nicht nur unsere gute oder schlechte Meinung von der Klugheit, mit der sie durchgeführt wurde, zu bestimmen, sondern er entfacht auch fast immer unsere Dankbarkeit oder unser Vergeltungsgefühl, unsere Empfindung von der Verdienstlichkeit oder von der Verwerflichkeit der Absicht.“
Smith tadelt sogar diejenigen Moralphilosophen - zu denen man ganz bestimmt auch Kant zählen müsste -, die vom tugendhaften Leben nur dann etwas wissen wollen, wenn die Handlungen auf guten Absichten beruhen.
„Daß die Welt nach dem Erfolg urteilt und nicht nach der Absicht, das war zu allen Zeiten die Klage der Menschen und das bildet die größte Entmutigung der Tugend.
Mag auch zwischen den verschiedenen Gliedern der Gesellschaft keine wechselseitige Liebe und Zuneigung herrschen, so wird die Gesellschaft zwar weniger glücklich und harmonisch sein, wird sich aber deshalb doch nicht auflösen müssen. Die Gesellschaft kann zwischen einer Anzahl von Menschen - wie eine Gesellschaft unter mehreren Kaufleuten - auch aus einem Gefühl ihrer Nützlichkeit heraus, ohne gegenseitige Liebe und Zuneigung bestehen bleiben; und mag auch kein Mensch in dieser Gesellschaft einem anderen verpflichtet oder in Dankbarkeit verbunden sein, so kann die Gesellschaft doch noch durch eine Art kaufmännischen Austausches guter Dienste … aufrechterhalten werden.“
Smith wollte schließlich einen praktischen Humanismus verwirklichen und nicht eine abstrakte Moral predigen. Seine Tugenden oder - wie man es heute sagen würde: Werte - waren immer konkrete Aspekte der Praxis und damit handfeste Tatsachen, an denen sich der moralische und soziale Fortschritt messen ließ. Darüber, ob diese ergebnisorientierte Auffassung, die man mit Recht als typisch modern bezeichnen können, etwas völlig Neues war, lässt sich streiten. Es steht nämlich schon in der Bibel, dass sich die guten Taten „an ihren Früchten erkennen“ lassen (Mt. 7,20). Sollten wir uns um eine Definition der ergebnisorientierten Ethik bemühen, könnten wir vielleicht solche Werte als mit menschlichem Willen begründete Zielsetzungen bezeichnen, die an vorhersehbare und verwirklichbare Tatsachen gebunden sind. Und allein mit ihnen ließe sich von einer „Ethik der Verantwortung“ (Max Weber) sprechen. Alle anderen Werte, die dieser Bedingung nicht genügen, sind nur Heilsgüter und Offenbarungen von Wahrsagern und Sehern, die, wenn sie an die Macht kommen, in ihrer fanatischen Blindheit nur großes Unheil anrichten.
Kants kurzer Aufenthalt im neuen Geist der Moderne
„Man ist bei Kant wie auf dem Jahrmarkt. Da ist alles zu haben: Willensfreiheit und Willensunfreiheit ..., Atheismus und der Liebe Gott“, so Paul Ree. Den Vorwurf der Beliebigkeit musste sich Kant von Anfang an anhören. Deshalb muss man sich nicht wundern, wenn man bei Kant auch Gedankengänge findet, die dem Geist der Moderne bestens entsprechen. Auch wenn wir dazu hier nichts gesagt haben, ist es unbestritten, dass sich Kant, mit seiner Kritik der Vernunft, große Verdienste für die Entwicklung der modernen Erkenntnistheorie erworben hat. Für seine Ethik ließe sich das schwer sagen, aber einige gute Einfälle lassen sich auch hier finden. Erwähnen wir jetzt einen von ihnen.
Bei einer „guten Organisation des Staates kommt es darauf an“, schrieb Kant in seiner Altersschrift Zum ewigen Frieden (1795), die selbstsüchtigen Neigungen bzw. „ihre Kräfte so gegen einander zu richten, dass eine die anderen in ihrer zerstörerischen Wirkung aufhält, oder diese aufhebt: so dass ... der Mensch, wenn gleich nicht ein moralisch guter Mensch, dennoch ein guter Bürger zu seyn gezwungen wird.“ Als ob Kant Bedenken hätte, nicht richtig verstanden zu werden, spitzte er diese Formulierung gleich zu, mit dem bekannt gewordenen Vergleich mit der Welt von vernünftigen Teufeln:
„Das Problem der Staaterreichung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben), auflösbar und lautet so: „Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesammt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber in Geheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, dass, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, dass in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten.“ Ein solches Problem muss auflösbar seyn.“
Man braucht kaum zu bemerken, dass Kant mit den Teufeln nicht gemeint hat, dass alle Menschen mehr oder weniger böse wären, sobald ihnen die Macht dazu zur Verfügung stünde. Ihm ging es darum, die allbekannte Tatsache zu berücksichtigen, die sich wie ein roter Faden durch die ganze Geschichte zieht, dass es bösen Menschen immer wieder gelingt, an Macht zu gelangen, und dann nützen sie sie auf verhängnisvolle Weise aus. Das muss verhindert werden. Es wäre sogar dann unbedingt nötig das zu verhindern, wenn die bösen Menschen nur zu einer kleinen Minderheit gehören würden, was wahrscheinlich der Realität entspricht, aber wir werden das nie genau herausfinden können. Wie dem auch sei, wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass es immer genug rücksichtslose und selbstsüchtige Menschen für jede gesellschaftlich attraktive Position geben wird. Daraus folgt, dass der Staat mit seinen Institutionen und Gesetzen so eingerichtet werden soll, dass solche Mensche kein Unheil anrichten. Wir können dann die Methode des Tests mit vernünftigen Teufeln, man kann auch sagen mit rationalen Egoisten oder raffinierten Trittbrettfahrern, für Institutionen einsetzen.
Warum sollte man aber mit den „vernünftigen Teufeln“ nur hinterher testen, warum sollte man nicht grundlegend von der Annahme über die rational und moralisch beschränkten Menschen ausgehen? Hier hat Kant die Moderne nur am Rande erreicht.
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