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Der Ursprung des Preises (Tauschwertes) und seine Erklärungen bzw. Konzeptionen |
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Gerechtigkeit bzw. gerechte Preisregeln als Voraussetzung für den Wohlstand |
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Gerechtigkeit bezieht sich nicht in erster Linie auf individuelles Handeln, auf den „guten“ Menschen, sondern auf eine „gute" Ordnung menschlicher Beziehungen. Sicherlich hat ein „gerechter Mensch“ moralische Qualitäten, aber er kann für sich allein keine gerechte Ordnung sicherstellen: dies ist ein gesellschaftliches Problem. |
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Kurt W. Rothschild, Doyen der Österreichischen Wirtschaftswissenschaften |
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Gerechtigkeit ist der Name für eine Reihe moralischer Regeln, die für das menschliche Wohlergehen unmittelbar bestimmend sind und deshalb unbedingter verpflichtend sind als alle anderen Regeln des praktischen Handelns. |
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John S. Mill, einer der einflussreichsten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts |
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Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen. Eine noch so elegante ... Theorie muß fallengelassen werden, wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionierende und wohlabgestimmte Gesetze und Institutionen abgeändert oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind. |
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John Rawls, einer der wichtigsten politischen Philosophen des 20. Jahrhunderts |
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Das epochale Buch Der Wohlstand der Nationen von Adam Smith hat einen Untertitel, aus dem sich deutlich zwei Zwecke des Buches entnehmen lassen. Darin sollen die „Ursachen der Zunahme in der Ertragskraft der Arbeit“ untersucht werden, was schon mit dem Titel angedeutet wird. Außerdem sollen die „Regeln, nach welchen sich der Ertrag [der Arbeit] naturgemäß unter die verschiedenen Volksklassen verteilt“ erklärt werden. Einfacher ausgedrückt, das Buch sollte die Produktion und die Verteilung der Güter in der von Smith entworfenen marktwirtschaftlichen Ordnung erklären.
Man kennt Smith heute meistens nur als den Ökonomen, der mit Dem Wohlstand die Wirtschaftswissenschaft begründet hat. Wenn man Smith auch als Moralphilosophen kennt und sein Buch Theorie der ethischen Gefühle zuerst gelesen hat, würde man selbstverständlich davon ausgehen, dass er auch als Ökonom moraltheoretisch argumentiert. Man würde erwarten, dass er in seinem ökonomischen Werk etwas darüber sagt, wozu der Wohlstand gut seine sollte, und auch etwas darüber, welche Einkommensverteilung gerecht wäre. Davon erfährt man in dem Buch aber kaum etwas. Das hat schließlich für viele Verwirrungen, Missverständnisse und Fehlinterpretationen gesorgt.
Wenn man nicht vorsichtig genug ist, kann man auf den Gedanken kommen, dass für Smith die Politische Ökonomie - wie die Wirtschaftswissenschaft ursprünglich hieß - eine wertfreie Wissenschaft sein sollte, in der folglich auch so etwas wie Gerechtigkeit unwichtig wäre. Diesen Umstand nutzten die späteren, die falschen Liberalen für ihren ideologischen Zweck missbrauchen, die Macht und Privilegien der neuen Klasse der Kapitalbesitzer zu rechtfertigen. Wenn es keine Gerechtigkeit gibt, dann kann auch nichts ungerecht sein - auch nicht wenn wenige fast alles besitzen und die anderen für sie, nur um zu überleben, bei ihnen schuften und sich alles gefallen lassen müssten. So erfahren wir von Friedrich August Hayek, einem unter Neoliberalen populärsten, weil oberflächlichsten „Denker“ und dreistem Verfälscher der frühliberalen Lehre:
„Mehr als zehn Jahre lang habe ich mich intensiv damit befasst, den Sinn des Begriffs „soziale Gerechtigkeit“ herauszufinden. Der Versuch ist gescheitert; oder besser gesagt, ich bin zu dem Schluß gelangt, dass für eine Gesellschaft freier Menschen dieses Wort überhaupt keinen Sinn hat.“
Man kann sich aber trotzdem fragen, warum Smith in Dem Wohlstand ethische Fragen ausklammert. Wahrscheinlich tat er es deshalb, weil er dabei war, den Forschungsbereich einer neuen Wissenschaft erst zu bestimmen, was seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Einiges musste unweigerlich zu kurz kommen - auch wenn das Buch ein ordentlicher Wälzer ist. Trotzdem ist sein Buch keine geeignete Vorlage für die später entwickelte neoliberale Markttheorie, und schon gar nicht eins, aus dem sich eine wertfreie Auffassung der Wirtschaft entnehmen ließe. Schon mit einem Minimum von wissenschaftlicher Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit lässt sich dies nicht übersehen. Schumpeter kann hier als ein gutes Beispiel dienen. Seine ganze Bewunderung galt bekanntlich Walras, Smith würde er in seiner „analytischen“ Welt nicht einmal erblicken wollen, aber anders als viele andere Ökonomen kannte Schumpeter auch den Moralphilosophen Smith, so dass es nicht wundert, wenn er feststellt, dass schon in der Theorie der ethischen Gefühle „auch die Philosophie des Reichtums und Wirtschaftstätigkeit von A. Smith enthalten ist - nicht aber in Wealth of Nations.“
Der Wohlstand ist sozusagen ein unvollständiges Werk. Wie erklärt man diese Unvollständigkeit? Da kann uns die Aussage von Smith helfen, wonach er beabsichtigte, in seinem Leben noch ein Buch zu schreiben, über die „allgemeinen Prinzipien des Rechts und der Regierung ... und zwar nicht nur insofern es sich um die Gerechtigkeit (oder Rechtspflege) handelt, sondern auch was Verwaltung, Staatseinkünfte und Militärwesen, und alle sonstigen Gegenstände der Gesetzgebung anbelangt“. Im letzten Vorwort der Theorie der ethischen Gefühle sagt er, ihm sei gelungen in „Dem Wohlstand der Nationen“ sein Versprechen zum Teil einzulösen, „wenigstens insofern es sich um Verwaltung, Staatseinkünfte und Militärwesen handelt. Das auszuführen, was noch übrig gebelieben ist, nämlich eine Theorie des Rechts“, also der Gerechtigkeit, würde er aber aus Altersgründen nicht mehr schaffen. Überdies ließ Smith vor seinem Tod seine Notizen für diese dritte Säule seines Lebenswerks vernichten.
Gegen die Auffassung der falschen Liberalen, der Lakaien der Reichen und der Kapitalbesitzer, Smith hätte sich als Ökonom von der Gerechtigkeit und überhaupt von ethischen Fragen verabschiedet, spricht noch ein weiteres Indiz. Bekanntlich hat sich Smith in seinen letzten Lebensjahren, nachdem er als Ökonom berühmt wurde, fast ausschließlich mit der Umarbeitung und Ergänzung seiner Theorie der ethischen Gefühle beschäftigt. Das Buch, mit dem er seine wissenschaftliche Laufbahn eröffnet hatte, ist nun in einem gewissen Sinne auch zu seinem Alterswerk geworden, in dem er die reifsten Früchte seines Denkens niederlegte. An seiner Auffassung über die Gerechtigkeit hat er in den sechs Ausgaben, die zu seinen Lebzeiten erschienen sind, gar nichts geändert, bei einigen anderen Fragen hat er schon Korrekturen vorgenommen. Das kann nur bedeuten, dass Smith auch als Ökonom ein Moralphilosoph geblieben ist. Das wurde von manchen festgestellt, so ist das auch die Meinung von einem der Stammväter der amerikanischen Soziologie, Albion W. Small (1854-1926):
„Wenn jemand, der mit der Herangehensweise in der allgemeinen soziologischen Forschung vertraut ist, aber die ökonomische Literatur nicht kennt, zum ersten Mal das Buch Der Wohlstand der Nationen in die Hände nehmen würde, würde er sich nicht schwer tun dieses Buch ohne zu zögern in den Bereich der Untersuchung eines Aspekts der Soziologie einzuordnen. ... Smith hat neue Maßstäbe für die Erforschung der ökonomischen Bedingungen des Lebens erfunden, indem er das Leben im Ganzen als Moral erfasst hat, und den ökonomischen Prozess als Detail.“
Man kann es auch so ausdrücken: Die ökonomische Theorie der Marktwirtschaft war bei Smith eine angewandte Wissenschaft, die ihr vorausgegangene Grundlagenforschung wurde komplett im Rahmen der Ethik durchgeführt. So lässt sich auch die Aussage von Schumpeter verstehen, wonach die „Philosophie des Reichtums und der Wirtschaftstätigkeit“ sich in der Theorie der ethischen Gefühle befindet. Was war aber diese Ethik, die der marktwirtschaftlichen Ordnung von Smith zugrunde liegt?
Als Moralphilosoph wurde Smith nie sehr bekannt, aus dem einfachen Grund, weil er nicht sehr originell war. Sein Verdienst beschränkt sich hauptsächlich darauf, die besten neuen Ideen aus dem Zeitgeist der frühen Moderne zu einem gelungenen Ganzen zusammenzuführen. Das war dann der gedankliche Rahmen, aus dem er später seine ökonomische Ordnung abgeleitet hat. Im weiteren Sinne ist es also durchaus berechtigt zu sagen, dass die ökonomische Ordnung von Adam Smith ein Produkt des neuen Geistes der Moderne war. Das war der Grund, warum in den vorigen Beiträgen über manche Dinge gesprochen wurde, die auf den ersten Blick mit der Ökonomie kaum etwas zu tun haben scheinen. Doch, das alles hat sehr wohl mit der Ökonomie zu tun. Wenn wir uns jetzt die „Philosophie“ der Marktwirtschaft von Smith genauer anschauen, wird sich deutlich erkennen lassen, dass die Konzeption der marktwirtschaftlichen Ordnung eine der besten Früchte der geistigen Strömungen dieser Zeit ist.
Die paradigmatische Wende in der Ethik und Anthropologie am Anfang der Moderne
Wir haben in den vorigen Beiträgen das Entstehen der Moderne als die Folge des Scheiterns einer Philosophie, heute würde man sagen eines Paradigmas, über den Menschen und die Gesellschaft dargestellt. In wenigen Worten beschrieben würde man nach dieser vormodernen Vorstellung (Paradigma) eine bessere Gesellschaft errichten, indem man die Menschen zum Guten erzieht. Diese Aufgabe sollen die bereits besseren Menschen (Philosophen, Heilige, Adlige, allgemein: Eliten) erledigen, denen man dazu alle Macht überlassen sollte. Wer diese „besseren Menschen“ sein sollten, darüber gingen die Meinungen auseinander. Nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches sollten es die Priester der neu entstandenen christlichen Kirche sein. Das Scheitern des Christentums war ein weiterer empirischer Beweis dafür, dass sich eine gute Gesellschaft durch Umerziehung nicht einmal dann erreichen lässt, wenn man den Menschen einredet, dass sie ewig in der Hölle schmoren würden, wenn sie sich nicht besserten. Die Denker der Moderne haben als Alternative zu dieser Auffassung so ziemlich alle wichtigen Annahmen ihrer Vorgänger geändert. Kurz zusammengefasst:
Die negative menschliche Natur: Im vormodernen Denken ist der Mensch als gut geboren, ja sogar nach dem Bild Gottes geschaffen (bei Christen). Das versteht man unter der positiven menschlicher Natur. Mit der negativen menschlichen Natur ist aber nicht gemeint, dass der Mensch böse ist, sondern nur, dass er ein beschränkt rationales und beschränkt moralisches Wesen ist. Und dies betrifft nicht nur den Menschen aus dem „gemeinen“ Volk, sondern es gilt für alle Menschen - die modernen Denker haben Eliten in jeglicher Hinsicht abgelehnt.
Der Mensch ist ein Wesen mit bestimmten Affekten und Trieben: Diese sind seine einzige Natur und sie sind wie sie sind. Jede feste Zuordnung zu gut und böse ist willkürlich und empirisch nicht belegbar. Die Affekte und Triebe haben nur einen Zweck, die Erhaltung des eigenen Seins. Andere Zwecke gibt es nicht.
Der Mensch lässt sich nicht zum Guten umerziehen: Dazu ist weder die religiöse Erziehung geeignet, noch irgendwelche anderen. Die Affekte und Triebe lassen sich nicht umerziehen, schon deshalb nicht, weil sie an sich nicht gut oder böse sind.
Das Prinzip der einander neutralisierenden Affekte und Triebe: Mit geeigneten praktischen Regeln lässt sich eine Ordnung einrichten, in der Affekte und Triebe nicht asozial und zerstörerisch wirken, weil ihnen durch andere Affekte und Triebe entgegengewirkt wird. Es gibt sogar gewisse Möglichkeiten, „böse“ Affekte und Triebe als Mittel für einen guten Zweck zu nutzen.
Der Fortschritt bedeutet Verwirklichung der menschlichen Potentiale: „Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst“, hat Marx später trefflich ausgedrückt. Um Spinoza zu paraphrasieren: Der Mensch würde aufhören, ein Mensch zu sein, ob er sich in ein Pferd oder in einen Gott verwandeln würde. Das streben der Menschen, etwas Höheres und Besseres zu sein als ein Mensch, hat immer zu psychopatischen Exzessen geführt: Nietzsche etwa war eine tragikomische Gestalt eines gefallenen Übermenschen. Die übermenschlichen Phantasien der Mächtigen haben immer Leid und Unrecht in großem Ausmaß verursacht und nicht selten die ganze Gesellschaft zerstört.
Den formalen Rahmen dieser neuen Auffassungen bildeten am Anfang die Philosophie und die Ethik - die Wissenschaften wie wir sie heute kennen, sind bekanntlich das Produkt der Moderne. Insbesondere in der Ethik ist vieles geschehen. Einer der wichtigsten Begriffe der Ethik war die Gerechtigkeit, die in unseren bisherigen Beiträgen noch zu kurz kam. Das werden wir jetzt nachholen und berichtigen, weil für Adam Smith gerade die Gerechtigkeit von außerordentlicher Bedeutung war. Sie ist für ihn die wichtigste der sozialen Tugenden und für den Ökonomen Smith ist sie die Grundlage seiner Preistheorie und damit auch seiner ganzen Konzeption der Marktwirtschaft. Diesen ethischen Aspekt der marktwirtschaftlichen Ordnung wollen wir uns jetzt genauer anschauen.
Die paradigmatische Wende in der Ethik und Anthropologie am Anfang der Moderne
Es gibt nichts, was Smith als Moralphilosoph so uneingeschränkt schätzt und lobt, wie die Gerechtigkeit.
„Gerechtigkeit ist der Hauptpfeiler, der das ganze Gebäude stützt. Wenn dieser Pfeiler entfernt wird, dann muß der gewaltige, der ungeheuere Bau der menschlichen Gesellschaft ... in einem Augenblick zusammenstürzen und in Atome zerfallen.“
Hier hängt Smith an den Fersen seines Freundes und Bewunderers David Hume:
„Die menschliche Natur kann in keiner Weise ohne die Vereinigung der Individuen existieren; und diese Vereinigung könnte nie stattfinden, wenn nicht die Gesetze der Fairneß und Gerechtigkeit beachtet würden. Unordnung, Verwirrung, der Krieg aller gegen alle, sind die notwendigen Konsequenzen eines so zügellosen Verhaltens.
Das Wüten und die Gewalttätigkeit des Bürgerkrieges; was ist das anderes als eine Aufhebung der Gerechtigkeit zwischen den kriegführenden Parteien, die erkennen, daß diese Tugend für sie nicht länger von irgendeinem Nutzen oder Vorteil ist?“
Smith und Hume wahren bekanntlich bei vielen ethischen, anthropologischen und erkenntnistheoretischen Fragen ähnlicher oder gar gleicher Meinung, auch was die Gerechtigkeit betrifft. Explizit hat sich Smith aber mit der Gerechtigkeit nur in der Theorie der ethischen Gefühle beschäftigt, und dies auch noch in einem ziemlich engen „theoretischen“ Rahmen. Hume ging weiter, er hat über die Gerechtigkeit im praktischen gesellschaftlichen Kontext nachgedacht. Da fragt man sich: Hatte Smith auch vor, in seinem dritten Werk, das nie fertig wurde, eine auf die soziale und politische Verhältnisse bezogene Gerechtigkeit zu entwerfen? Das werden wir nie genau erfahren können. Ich würde sogar eine gewagte Vermutung in den Raum stellen: Smith hatte das ursprünglich vor, als er aber eingesehen hat, dass ihm zur Frage der Gerechtigkeit nicht viel mehr eingefallen ist als Hume, rückte er von dem Vorhaben ab, sein drittes Buch überhaupt zu schreiben. Ob diese Vermutung stimmt wird man auch nie prüfen können. Es lässt sich aber leicht zeigen, wie Hume mit seinen Auffassungen über die Gerechtigkeit Smith zur Seite steht. Nicht nur das: Seine Theorie über die Gerechtigkeit als soziale Tugend ist ein sehr passender Rahmen, die ethischen Auffassungen von Smith in ein vollständiges Bild einzuordnen. Diese Theorie steht vor allem im Buch An Enquiry Concerning the Principles of Morals - auf deutsch übersetzt als Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. Hume verfasste es im Jahre 1751 als Überarbeitung seines Erstlingswerks A Treatise of Human Nature. Im Folgenden nutzen wir die Auszüge aus diesem Buch, um Smiths Auffassungen dort, wo er seine Gedanken nicht zu Ende bringt, doch zu einem logischen Ganzen zu vervollständigen.
Unterstreichen wir noch einmal, dass sich Smith und Hume einig sind, dass die Gerechtigkeit eine soziale Tugend ist, und zwar eine mit sehr weit reichenden Folgen. Sie sind überzeugt, dass ohne sie die Gesellschaften nicht existieren können, also kein Gruppenleben möglich wäre. Zugespitzt ausgedrückt, die Gerechtigkeit macht den Menschen zum sozialen Wesen - zum aristotelischen zoon politikon. Als Beweis dafür bedient sich Smith eines drastischen Beispiels:
„Wenn es eine Gesellschaft zwischen Räubern und Mördern gibt, dann müssen sie, einem ganz alltäglichen Gemeinplatz zufolge, sich wenigstens des Raubens und Mordens untereinander enthalten.“
Hier hängt Smith an den Fersen seines Freundes und Bewunderers David Hume:
„Sogar Gesellschaften, die auf äußerst unmoralische und für die Interessen der Allgemeinheit äußerst zerstörerische Prinzipien gegründet sind, kommen nicht ohne gewisse Regeln aus. ... Räuber und Piraten könnten, wie oftmals bemerkt wurde, ihre verderbliche Verbindung nicht aufrechterhalten, wenn sie nicht unter sich eine neue distributive Gerechtigkeit einführten und sich jener Gesetze der Fairneß erinnerten, die sie gegenüber dem Rest der Menschheit verletzen.“
Die einzige Gerechtigkeit bei den Räubern kann natürlich nur darin bestehen, dass die Beute unter ihnen gerecht verteilt wird. Ist dies nicht der Fall, kommt es zum Verrat, die Räuberbanden zerfallen von innen und sie lassen sich leicht von außen zerschlagen. Es ist also eine Verteilungsgerechtigkeit, welche die Räuber zusammenhält. Auch in den Gesellschaften geht es bei der Gerechtigkeit um die Verteilung des Einkommens und die Verhältnisse von Macht und Ehre zwischen den Mitgliedern. Der Grund warum überhaupt verteilt werden muss, ist einfach. Schon die materiellen Mittel, um alle Menschen am Leben zu erhalten sind limitiert. Darüber hinaus benötigt der Mensch materielle Güter auch um seine Bedürfnisse nach Kreativität praktisch auszuleben - sei dies die Wissenschaft, Kunst oder andere geistige Betätigungen. Einfach ausgedrückt: Die Gerechtigkeit hat viel mit Armut zu tun.
„Nehmen wir an, die Natur habe die Menschen mit einem so reichlichen überflüß an allen äußerlichen Annehmlichkeiten ausgestattet, daß jeder einzelne, ohne Unsicherheit vor der Zukunft und ohne Sorge oder Anstrengung unsererseits, sich vollständig mit dem ausgestattet findet, was sein unersättlichster Appetit fordern oder seine üppigste Phantasie wünschen oder begehren kann.
Es scheint einleuchtend, daß in einem so glücklichen Zustand jede andere soziale Tugend blühen und sich verzehnfachen würde; aber von der vorsichtigen, argwöhnischen Tugend der Gerechtigkeit wäre nicht einmal geträumt worden. Weshalb eine Aufteilung der Güter, wenn jeder schon mehr als genug hat? Warum das Eigentum einführen, wenn ein Zuwiderhandeln ohnedies nicht möglich ist? Warum einen Gegenstand mein nennen, wenn ich, sobald ein anderer ihn sich aneignet, nur meine Hand auszustrecken brauche, um mir etwas zu verschaffen, das gleich wertvoll ist? Gerechtigkeit wäre in diesem Fall, weil völlig nutzlos, ein leeres Zeremoniell und könnte wahrscheinlich niemals einen Platz im Verzeichnis der Tugenden finden.“
Dem würde kaum jemand widersprechen. Wie sollte aber die Gerechtigkeit bei der Verteilung konkret aussehen? Eine alte Vorstellung von Gerechtigkeit ist die, die dem ethischen Prinzip Jedem das seine folgt. So etwas klingt einleuchtend und jeder würde dem zustimmen, aber was soll das genau bedeuten?
Seit Platon haben sich viele Denker und Philosophen vorgenommen, diese Frage zu beantworten, doch eine konkrete Antwort gelang keinem. Später haben sich Ökonomen der Sache angenommen. Sie wollten das Problem mit wissenschaftlichen Methoden lösen. Am Ende ihrer Suche nach der individuellen Leistung standen sehr scharfsinnige und beeindruckende Werttheorien. Jedoch haben sie sich alle als alte Metaphysiken und neue Ideologien entpuppt. Der Versuch scheiterte also kläglich. Der Wert bzw. die individuelle Leistung lässt sich nicht objektiv bestimmen oder messen, so dass die Gerechtigkeit als Entlohnung nach objektiver Leistung ein Ding der Unmöglichkeit ist. „Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig“, so Ludwig Wittgestein, einer der bedeutendsten Philosophen des vorigen Jahrhunderts. Die Suche nach dem Wert bzw. der individuellen Leistung war eine der vielen solcher unsinnigen Beschäftigungen des menschlichen Geistes.
Für Smith und Hume konnte die Gerechtigkeit keine individuelle Eigenschaft sein, sie konnte sich nicht auf das moralisch „richtige“ individuelle Handeln beziehen, sondern nur auf „gute" menschliche Beziehungen. Es ist nicht der Mensch, der gut und gerecht sein kann - was auch immer dies zu bedeuten hat -, gut und gerecht kann nur eine Ordnung sein. Eine solche Ordnung könnte nach ihrer Auffassung nur diejenige sein, in der kein Mensch es nötig hat, andere zu betrügen und zu missbrauchen, um zu überleben oder sich über seine biologischen Bedürfnisse hinaus verwirklichen zu können. Auf den Punkt gebracht ist also der „öffentliche Nutzen der alleinige Ursprung von Gerechtigkeit“ und ihr Zweck sei „das Glück der menschlichen Gesellschaft“, so Hume.
„Wenn wir die besonderen Gesetze untersuchen, durch welche die Gerechtigkeit gehandhabt und das Eigentum bestimmt wird, werden wir immer zu demselben Ergebnis gelangen: Das Wohl der Menschheit ist das alleinige Ziel aller dieser Gesetze und Vorschriften.“
Die Gerechtigkeit kann nur eine „Tugend sozialer Institutionen“ sein, so John Rawls, ein amerikanischer politischer Philosoph, dessen Hauptwerk A Theory of Justice (1971) als eines der einflussreichsten Werke der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts gilt. Im Sinne von Smith könnte man sagen: Die Menschen sind zu dumm und zu schlecht, um ohne Institutionen auszukommen, aber klug und gut genug, um sich gerechte und für das allgemeine Wohl geeignete Institutionen zu geben. Smith spricht in diesem Sinne von „Veränderungen in den äußeren Verhältnissen“:
„Der Mensch ist zum Handeln geschaffen und ist dazu bestimmt, durch die Betätigung seiner Fähigkeiten solche Veränderungen in den äußeren Verhältnissen, die ihn selbst oder andere Personen betreffen, herbeizuführen, wie sie für die Glückseligkeit aller am günstigsten scheinen mögen. Er darf sich nicht bei einem lässigen, untätigen Wohlwollen beruhigen, noch sich einbilden, daß er darum schon ein Menschenfreund sei, weil er in seinem Herzen für die Wohlfahrt der Welt alle guten Wünsche hegt.
Die Vervollkommnung der Verwaltung, die Ausbreitung des Handels und der Manufaktur sind große und hochwichtige Angelegenheiten.“
In heutiger Zeit, da die neoliberale Propaganda und Verfälschung aller aktuellen und historischen Tatsachen orwellsche Ausmaße erreicht, wird der neue Liberalismus als Kampf für das Individuum hochstilisiert, und die Freiheit als der einzig richtige Weg dazu. Die erfolgreichen Verfälscher des ursprünglichen Liberalismus, wie etwa Mises, Hayek, Friedman und all die anderen wollen im neuen Geist der Moderne eine Entdeckung der individuellen Freiheit, der individuellen Moral und Gerechtigkeit sehen, wenn sie von Moral und Gerechtigkeit überhaupt was halten. Als ob die Moderne eine Entdeckung des Individualismus wäre! Das war sie ganz bestimmt nicht, im Gegenteil: Solche Auffassungen sind die Erfindung der späteren Entwicklung des Liberalismus, die nichts als ein Verrat an der ursprünglichen Idee war. Fügen wir gleich hinzu, dass in dieser individualistischen Denkweise auch der Marxismus behaglich wie Fisch in Wasser schwimmt. Er ist ebenfalls nur ein individualistischer Exzess und somit ein Verrat an der ursprünglichen Moderne.
Wenn die Gerechtigkeit eine soziale Tugend und dermaßen wichtig ist, gibt es dann so etwas in dem Menschen wie einen Gerechtigkeitssinn? Hat ein Mensch ein inneres Bedürfnis nach Gerechtigkeit? Davon ist Smith fest überzeugt.
„Alle Menschen, selbst die dümmsten und gedankenlosesten, verabscheuen Trug, Untreue und Ungerechtigkeit und freuen sich, sie bestraft zu sehen.
Die Natur, um die Beobachtung der Regeln der Gerechtigkeit zu erzwingen, hat der menschlichen Brust jenes Schuldgefühl eingepflanzt, jene Schrecken des Bewußtseins, Strafe zu verdienen, die der Verletzung der Gerechtigkeit folgen, damit sie die Schutzwächter der Gemeinschaft der Menschen seien - die Schwachen zu schützen, die Ungestümen zu zähmen und die Schuldigen zu züchtigen.“
Dass es ein Gefühl oder Gemüt gibt, woraus das Bedürfnis der Menschen nach Gerechtigkeit stammt, wird bei Smith und Hume durch die Existenz von Regeln begründet. Die Menschen, sind bereit sich an eine Regel zu halten, wenn sie diese gerecht finden. Wenn also Smith über die Gerechtigkeit spricht, spricht er von der Befolgung der Regeln der Gerechtigkeit.
„Die Achtung vor allgemeinen Regeln für das Verhalten ist das, was man im eigentlichen Sinne Pflichtgefühl nennt, ein Prinzip von der größten Wichtigkeit im menschlichen Leben, und das einzige Prinzip, nach welchem die große Masse der Menschen ihre Handlungen zu lenken vermag.“
Auch die Wirtschaft sollte dank der Regeln richtig funktionieren, mit Regeln welche die Menschen als gerecht empfinden. Dazu kommen wir gleich. Heben wir aber noch einmal ausdrücklich hervor, dass für Smith und Hume im Grunde nicht die Ratio das ist, was die Gesellschaft zusammenhält, sondern das Gefühl oder Gemüt: der Gerechtigkeitssinn. Den rationalen Egoisten, die Erfindung der späteren Liberalen, würden Smith und Hume als reine Phantasterei zurückweisen.
Regeln als praktisch ausgeübte Gerechtigkeit
Wenn man die Theorie ließt, ist es auffällig, wie oft bei Smith die Begriffe Gerechtigkeit und Regel nebeneinander stehen, ja sogar im gleichen Satz. Wie ein roter Faden zieht sich durch das ganze Werk der Gedanke, dass „Regeln mit Recht als Gesetze der Gottheit angesehen werden“ sollten. Und von allen verschiedenen Regeln, die das Zusammenleben der Menschen möglich oder zumindest erträglich machen, sind gerade die der Gerechtigkeit etwas Besonderes. Smith sagt dies ausdrücklich und wiederholt, dass
„... die Regeln der Gerechtigkeit die einzigen sittlichen Regeln sind, die fest bestimmt und genau sind, daß diejenigen aller anderen Tugenden lax, vage und unbestimmt sind, daß die ersteren mit den Regeln der Grammatik verglichen werden können, die anderen aber mit den Regeln, welche die ästhetiker als Kriterium des Erhabenen und Eleganten ... aufstellen.
Die Mehrzahl der allgemeinen Regeln, die von den einzelnen Tugenden gelten, die allgemeinen Regeln, die bestimmen, was die Pflichten der Klugheit, der Nächstenliebe, des Edelmutes, der Dankbarkeit, der Freundschaft sind, diese Regeln sind in vielen Beziehungen unbestimmt und ungenau, sie lassen viele Ausnahmen zu und erfordern so viele Modifikationen.
Es gibt jedoch eine Tugend, auf deren Gebiet allgemeine Regeln mit der größten Genauigkeit jede äußere Handlung bestimmen, die sie erfordert. Diese Tugend ist die Gerechtigkeit. Die Regeln der Gerechtigkeit sind im höchsten Grade genau.“
Seit Hobbes sind die Regeln einer der wichtigsten Begriffe bei den Denkern der frühen Moderne. Das gilt auch für Hume:
„Die sozialen Tugenden der Gerechtigkeit und Treue ... sind in hohem Maße nützlich und tatsächlich absolut unentbehrlich für das Wohlergehen der Menschheit. Aber der aus ihnen erwachsende Nutzen ist nicht die Folge jeder einzelnen individuellen Handlung, sondern ergibt sich aus dem gesamten Plan oder System, worin die ganze Gesellschaft oder doch ihre Mehrheit übereinstimmen.“
Der vom Empirismus weit entfernte große Denker der Moderne Spinoza, einer der größten Rationalisten unter den Philosophen, hält die Regel für das wichtigste Ergebnis der Vernunft. Auch bei Smith sind die Regeln sozusagen ein Produkt der Ratio.
„Durch die Vernunft entdecken wir jene allgemeinen Regeln der Gerechtigkeit, durch welche wir unsere Handlungen bestimmen sollen.“
Der Mensch, auch als rational beschränktes Wesen, ist nach Smith immer noch im Stande, gerechte Regeln zu entwerfen, und sein Gefühl oder Gemüt für die Gerechtigkeit sorgt dafür, dass er sich an sie hält. Von diesen allgemeinen Positionen geht er beim Entwurf seiner Konzeption der marktwirtschaftlichen Ordnung aus. Diese beginnt mit den gerechten Preisregeln.
(Gerechte) Regeln als Ursache des Preises (Tauschwertes)
Es ist also richtig, wenn Schumpeter über die Preistheorie von Smith sagt, dass sie keine Suche nach dem Wert ist. Genauer gesagt, nicht Werte sondern Regeln sollten den Preis bzw. den Tauschwert erklären.
„Wenn der Leser die letzten Absätze von Buch I, Kap. 4 aufschlägt ... erklärt Smith an dieser Stelle, daß er die Regeln erforschen will, die „die Menschen natürlicherweise beachten, wenn sie Güter gegen Geld oder andere Güter eintauschen“. Das heißt, daß er am Wertproblem im oben definierten Sinne nicht in erster Linie interessiert war. Wonach er suchte, war eine Preistheorie, auf Grund derer er gewisse Lehrsätze aufstellen konnte, die jedoch die Erforschung des Wertphänomens nicht erforderlich machten.“
Wir erwähnen Schumpeter hier deshalb gern, weil er - wie bereits hervorgehoben - nicht derjenige ist, der von der frühliberalen Auffassung über die Marktwirtschaft etwas hält. In seiner Welt beginnt die Wirtschaftswissenschaft mit Walras. Was er in der zitierten Aussage mitteilt, wurde natürlich nicht von ihm entdeckt, sondern schon von vielen anderen gesagt. Zitieren wir dazu noch einen Ökonomen, um Schumpeters Aussage zu ergänzen:
„Die Tatsache, dass Adam Smith zuerst ein ethisches System aufgestellt hat, das menschliches Handeln auch auf wirtschaftlichem Gebiet regelt ( The Theory of Moral Sentiments, 1759), und dann erst über wirtschaftliche Probleme geschrieben hat ( An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations, 1776), ist von zentraler Wichtigkeit: Ohne eine ethische Grundlegung kann man - im Sinne von Adam Smith - nicht über ökonomische Probleme diskutieren. So sieht Adam Smith klar, dass die Probleme der Preisbildung und der Einkommensverteilung wesentlich ethische Probleme sind.“
Wenn Smith die Erklärung der Preise nicht in der „Erforschung des Wertphänomens“ sucht, wie es Schumpeter treffend ausdrückte, ist es von vornherein ausgeschlossen, dass der Preis so etwas wie eine objektive Substanz sein könnte. In der Sprache der Philosophie bzw. der Erkenntnistheorie würde man sagen, er lehnte ab, den Preis zu ontologisieren, also ihm eine „Realessenz“ anzudichten. Die neu begründete Wirtschaftswissenschaft von ihm, damals noch Politische Ökonomie genannt, stand damit auf Augenhöhe mit den anderen Wissenschaften. Im Lauf des 19. Jahrhunderts degenerierte diese ursprüngliche Wirtschaftswissenschaft immer schneller, sie wurde sozusagen in die Zange genommen: von einer Seite durch die Metaphysik und von der anderen durch die Ideologie. Alles spricht dafür, dass die Nachfolger von Smith nicht begriffen haben, dass man etwas für objektiv existent halten kann, auch wenn es nicht eine Art von Substanz ist. Wir haben diese neue erkenntnistheoretisch falsche Ausrichtung der Ökonomen im Laufe des 19. Jahrhunderts schon näher erörtert. Um das zu verdeutlichen, haben wir ein Beispiel aus der Physik bzw. Mechanik erwähnt. Es ist angebracht, an dieser Stelle dieses Beispiel noch ein bisschen ausführlicher zu besprechen.
Jeder Körper hat seine Masse, die er immer mit sich „schleppt“ und die immer gleich bleibt. So etwas bezeichnet man als Substanz. Ein Körper hat auch eine Geschwindigkeit. Wir würden gleich sagen, dass die Geschwindigkeit nicht dem Körper angehört. Wenn wir uns fragen würden, warum wir diese zwei Größen für wesentlich unterschiedlich halten, würden wir sagen, dass die Geschwindigkeit nicht auf die gleiche Weise dem Körper angehört wie die Masse. Ja, sie ist unbeständig. Wir können ein Geschoss in ein Labor bringen und seine Masse ganz genau bestimmen, aber wir können im Labor nie herausfinden, mit welcher Geschwindigkeit es dort eingeschlagen ist, wo wir es gefunden haben. Kann man dann sagen, dass die Geschwindigkeit nicht so objektiv wie die Masse ist? Das kann man nicht. Das wäre sinnlos. Betrachtet man einen Körper in einem konkreten Augenblick, gehört die Geschwindigkeit genauso objektiv zu ihm wie die Masse. Man kann übrigens die Geschwindigkeit genauso präzise messen wie die Masse. Es sind aber nicht nur diese zwei Größen, welche die Physiker genau messen können. Sie können zum Beispiel auch Kräfte genau bestimmen und messen, welche die Körperbewegung verursachen. Auch diese sind keine Substanz, weil auch sie nicht dem Körper „wirklich“ gehören. Auch manche anderen Größen in der Physik lassen sich nicht der Substanz zuordnen, aber mehr darüber brauchen wir nicht zu sagen.
Und nun kehren wir zurück zum Preis und behalten die Körperbewegung als Analogie im Hinterkopf. Der Preis nach Smith sollte keine Substanz sein - wie etwa die Masse in der Physik -, sondern eine Größe, die durch Regeln bewirkt und bestimmt wird. Man kann die Regel mit den Kräften in der klassischen Physik vergleichen, man sollte aber diese Analogie nicht überstrapazieren. Vor allem deshalb nicht, weil die Regeln nicht etwas bedeuten, was objektiv in dem Sinne ist, wie die Kräfte in der unbelebten Natur. Auf diese Eigenschaft der Regeln, dass sie nicht etwas sind, was einmal bestimmt wurde und für alle Zeiten unverändert bleibt, hat schon Hume aufmerksam gemacht:
„So hängen also die Regeln der Fairneß oder Gerechtigkeit vollständig von dem besonderen Zustand und der Lage ab, worin sich die Menschen befinden; und ihren Ursprung und ihre Existenz verdanken sie gerade jenem Nutzen, der dem Gemeinwesen aus ihrer strengen und regelmäßigen Befolgung erwächst.“
Davon geht auch Smith aus, als er mit der Erklärung der Preise begonnen hat. Die Regeln, welche die Preise bestimmen, sind einerseits das Produkt unserer Vernunft, sie sind somit „theoretisch“, aber sie beziehen sich streng auf die Umstände, unter denen sie angewandt werden sollen. Sie haben also einen empirischen Hintergrund. Ändern sich die empirischen Umstände, müssen sich auch Preisregeln ändern. Smith geht historisch vor und überlegt sich zuerst, welche Regeln für eine vorindustrielle Wirtschaft am besten geeignet wären.
„In dem ersten rohen Zustande der Gesellschaft, der der Kapitalanhäufung und Landaneignung vorhergeht, scheint das Verhältnis zwischen den Arbeitsmengen, die zur Erlangung der verschiedenen Gegenstände notwendig sind, der einzige Umstand zu sein, der einen Maßstab für den Tausch des einen gegen den anderen bilden kann. Wenn es z. B. unter einem Jägervolke in der Regel zweimal soviel Arbeit kostet, einen Biber zu erlegen, als ein Reh so müßte naturgemäß ein Biber zwei Rehe wert sein. Es ist begreiflich, daß das, was gewöhnlich das Produkt zweier Tage oder zweier Stunden Arbeit ist, doppelt soviel wert sein muß, als das, was das Produkt von einer eintägigen oder einstündigen Arbeit zu sein pflegt.“
In den primitiven Wirtschaften würden die Menschen als gerecht empfinden, dass sich der Wert - also der Tauschwert oder Preis - nach der Arbeitsmenge bildet, weil allen bekannt ist, wie viel Arbeit für jedes Gut erforderlich ist. Dies wäre zumindest die wichtigste Regel. Smith fügt gleich hinzu, dass die Arbeitsmenge im Sinne der Arbeitszeit sogar unter diesen völlig transparenten Umständen nicht die Preise vollständig erklären würde. Die Menschen würden auch andere Faktoren bei der Preisbildung als gerecht finden:
„Ist die eine Art der Arbeit anstrengender, als die andere, so wird natürlich eine Vergütung für die größere Mühe zugestanden werden, und das Produkt einer einstündigen schwereren Arbeit kann oft dem Produkt einer zweistündigen leichteren Arbeit im Tausch gleich gelten.
Oder wenn die eine Art Arbeit einen ungewöhnlichen Grad von Geschicklichkeit und Talent erfordert, so wird die Achtung, die man für solche Talente hat, ihrem Produkte einen höheren Wert geben, als den, der nur der aufgewendeten Zeit gebührt. Solche Talente können selten ohne langjährige übung erworben werden, und der höhere Wert ihres Produkts kann oft nichts weiter sein, als ein billiger Ersatz für die Zeit und Arbeit, welche ihrer Erwerbung gewidmet wurden.“
Die Verschiedenheit der Arbeiten, und daraus folgend die Unmöglichkeit sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, ist für Smith ein ausreichender Grund, die Preisregel im Sinne der Arbeitswertlehre für nichtprimitive Umstände als unbrauchbar abzulehnen. Er beobachtet richtig, dass die historische Entwicklung der Produktionsmethoden dazu führt, dass sich Berufe immer weiter unterschieden, mit der Folge, dass einer die Arbeit und die Leistung des anderen immer weniger beurteilen kann. Das führt Smith auf die Arbeitsteilung zurück. Es ist zwar so, dass die Arbeitsteilung nicht ein Phänomen der Industrialisierung ist - schon Platon fällt die Arbeitsteilung auf -, aber sie hat sich seitdem immer weiter fortentwickelt. Smith verdeutlicht diese neue beschleunigte Entwicklung mit seinem berühmten Beispiel der Produktion von Stecknadeln.
„Ein Mann zieht den Draht, ein anderer streckt ihn, ein dritter schneidet ihn in Stücke, ein vierter spitzt ihn zu, ein fünfter schleift ihn am oberen Ende, wo der Kopf angesetzt wird; die Verfertigung des Kopfes erfordert zwei oder drei verschiedene Verrichtungen; sein Ansetzen ist ein eigenes Geschäft, die Nadeln weiß zu glühen ein anderes; sogar das Einstecken der Nadeln in Papier bildet eine Arbeit für sich. Und so ist das wichtige Gewerbe, Stecknadeln zu machen, in ungefähr achtzehn verschiedene Tätigkeiten geteilt, die in manchen Fabriken alle von verschiedenen Händen verrichtet werden, während in ändern manchmal derselbe Mann zwei oder drei verrichtet. Ich habe eine kleine Fabrik dieser Art gesehen, in der nur zehn Menschen beschäftigt waren und manche daher zwei oder drei verschiedene Verrichtungen zu erfüllen hatten. Obgleich nun diese Leute sehr arm und darum nur notdürftig mit den erforderlichen Maschinen versehen waren, so konnten sie doch, wenn sie tüchtig arbeiteten, zusammen etwa zwölf Pfund Stecknadeln täglich liefern. Ein Pfund enthält über 4000 Nadeln von mittlerer Größe. Jene zehn Personen konnten mithin zusammen täglich über 48.000 Nadeln machen. Jeder einzelne kann daher, da er den zehnten Teil von 48.000 Nadeln machte, als Verfertiger von 4800 Nadeln an einem Tage angesehen werden. Hätten sie jedoch alle einzeln und unabhängig voneinander gearbeitet und wäre keiner für sein besonderes Geschäft angelernt worden, so; hätte gewiß keiner zwanzig, vielleicht nicht eine Nadel täglich machen; können, d.h. nicht den 240, vielleicht nicht den 4800. ... In jeder ändern Kunst und jedem anderen Gewerbe sind die Wirkungen der Arbeitsteilung ähnliche, wie in diesem sehr unbedeutenden Geschäft.“
Die Arbeitsteilung legt sozusagen einen „Schleier des Nichtwissens“ (veil of ignorance) über die Produktionsverhältnisse, um den bekannten Ausdruck von Rawls zu verwenden, der dazu noch immer undurchsichtiger wird. Dass dies nicht als Grund verstanden wurde, dass die Arbeitswertlehre praktisch unbrauchbar ist, lässt sich nicht leicht verstehen. Dieser Irrtum lebte noch zwei Jahrhunderte nach Smith Tot. Erst die zahlreichen gescheiterten sozialistischen Experimente in vielen Ländern, bei denen die Arbeitswertlehre die Grundlage der ökonomischen Planungen und der Einkommensverteilung war, haben die naiven Geister auf den Boden der Wirklichkeit geholt. Wir haben zur Problematik der Messung der individuellen Arbeitsleistung schon etwas mehr gesagt. Fügen wir dem noch hinzu, wie sich die Problematik ethisch erklären lässt, und zwar im Sinne von Smith. Es ist gut vorstellbar, dass Smith sagen würde, dass den Menschen die sozialistische Praxis der Einkommensverteilung nicht als gerecht erscheinen würde. Das kann auf den ersten Blick sehr merkwürdig klingen, wenn man davon ausgeht, dass die „einfachen Menschen“, also eine ganz große Mehrheit derjenigen, die nicht zu den herrschenden Machteliten gehören, im Grunde an die Gleichheit der Menschen glauben. Das Problem lässt sich wie folgt erklären:
Stellen wir uns vor, zwei Menschen bringen ihre Güter auf den Markt und wollen sie austauschen. Jeder von ihnen will „im Prinzip“ nur gerecht tauschen und jeder ist einverstanden, was dies bedeuten soll: Eine Leistung muss gegen eine genau gleiche andere Leistung ausgetauscht werden. Beide sind aber eingeschränkt rationale und eingeschränkt moralische Wesen. Wenn die Umstände so sind, dass einer den Arbeitspatz und Beruf des anderen nicht kennt, woher könnte er dann wissen, was der andere wirklich geleistet hat? Und wie kann man zwei ganz verschiedene Leistungen überhaupt quantitativ vergleichen? Man sagt ganz richtig, dass sich Äpfel und Birnen nicht vergleichen lassen. Aber der „Schleier des Nichtwissens“ reicht noch weiter. Jedem Tauschpartner ist aus der Erfahrung bekannt, dass viele Menschen nicht ganz ehrlich sind. Warum sollte also nicht auch beim Tausch über die Leistung gelogen und betrogen werden? Was tun? Man könnte einen Schiedsrichter einsetzen. Aber auch wenn dieser ganz besondere Fähigkeiten hätte, die Leistungen objektiv zu beurteilen, auch wenn er ein absoluter Experte und unfehlbar wäre - was natürlich gar nicht möglich wäre -, warum sollten die Tauschpartner diesem glauben? Außerdem kann der Schiedsrichter mit einer Seite mauscheln. Diesen Verdacht könnten beide Tauschpartner hegen, so dass letztlich keiner mit dem festgelegten Preis zufrieden sein wird. Nachdem sie sich unzufrieden getrennt haben, würde jeder darüber nachgrübeln, wie er die eigene Leistung in der Zukunft am besten verweigern und dem Schiedsrichter am überzeugendsten vortäuschen könnte. Das alles musste Smith im Sinne haben, als er sich gegen die Bestimmung der Preise durch erbrachte Leistung (Kosten) entschieden hat. Die Regel, nach der (angeblichen) Leistung bzw. den Produktionskosten die Preise zu bestimmen, führt zur negativen Motivation und zur Leistungsverweigerung. Er schlug andere Regeln vor, die von dem Endergebnis (Nachfragepreis) ausgehen. Diese Regeln würden die Menschen nicht nur als gerecht anerkennen, sie ließen sich auch nicht so leicht missbrauchen. Man kann diese anderen Regeln wie folgt im Sinne von Smith erklären:
Jeder Mensch bewundert und schätzt den Fleißigeren und Tüchtigeren. Das sind diejenigen, die im Vergleich zu den anderen bei gleichen Umständen bessere Ergebnisse erzielen. Als Produzenten erstellen sie Güter schneller und mit niedrigeren Kosten, so dass diese auch billiger verkauft werden können. Wenn man es so sieht, und die Menschen sehen es so, kann man mit gutem Gewissen den billigeren Verkäufer bevorzugen und das als gerecht empfinden. Die Regel, von einem zu kaufen, der billiger anbietet, könnte also als eine gerechte Regel von den Menschen akzeptiert werden. Die Güter sollen aber effizient hergestellt werden. Wie bringt man die Menschen dazu, sparsam wie möglich zu produzieren und so billig wie möglich zu verkaufen? Eine übergeordnete Instanz, eine welche die Macht über die Hersteller und Anbieter ausüben kann, käme für Smith nicht in Frage. Schon deshalb nicht, weil auch dort nur beschränkt rationale und beschränkt moralische Menschen sein können, die als solche versagen müssten. Seine Lösung ist eine andere: Man sollte jedem erlauben, dass er produziert und verkauft was er will. Die Konkurrenz würde jeden zwingen sich maximal anzustrengen, um Kosten zu sparen und billiger zu werden, weil die Käufer den im Endergebnis erfolgreichen Anbieter dafür belohnen würden, indem sie bei ihm kaufen. Sie würden dadurch Fleißige und Tüchtige bevorzugen, womit sich der Kreis des als gerecht wahrgenommenen Handelns schließt.
Das Wort Kreis passt zu diesem Vorgang sehr gut. Wir haben bei diesem System von Regeln einen echten Regelungskreis bekommen, so dass die Konzeption der Marktwirtschaft von Smith eine Konzeption der geregelten Ordnung ist. Dazu werden wir im nächsten Beitrag mehr sagen. Der Konkurrenzpreis ist schließlich ein Nachfragepreis, einer der vom Ergebnis her bestimmt wird, und nicht von den Kosten, den man als Angebotspreis bezeichnen kann. Gerade diese Eigenschaft des Marktpreises, dass letztendlich nur das Ergebnis zählt, hat die Marktwirtschaft zur ersten ökonomischen Ordnung in der Geschichte gemacht, in der die Produktivität automatisch und nachhaltig steigt. Das werden wir uns dann als nächstes genauer anschauen.
Ein Exkurs: Smith und die Tugend Wohlwollen
Smith war nicht reich, aber seine Einkünfte waren für seine Zeit ordentlich. Dazu gehörten auch die Einkünfte aus seinen Büchern, die einen reißenden Absatz fanden, auch wenn sie verhältnismäßig sehr teuer waren. Trotzdem lebte Smith sehr bescheiden - sehr sparsam. Das wundert nicht, als Ökonom war er doch so etwas wie ein Apostel der Sparsamkeit. Nun war es selbstverständlich zu erwarten, dass er nach seinem Tod eine beachtliche Geldsumme hinterlassen würde. Die Überraschung war aber groß, wie wenig man finden konnte. Dass ließ sich zuerst nicht erklären. Man hat aber zuvor beobachtet, dass bei seiner Bestattung manche Menschen anwesend waren, denen man sonst in seinen Kreisen nie öffentlich begegnete. Dort lag der Schlüssel für eine Erklärung der fehlenden Hinterlassenschaft. Ja, Smith hatte großzügig aber ganz geheim die Bedürftigen unterstützt. Er war ein großer Wohltäter. Warum klingt diese Erkenntnis auf den ersten Blick so überraschend?
Ein sehr frommer Mensch würde sich durch Wohltaten Verdienste bei Gott erwerben wollen, doch bei Smith kann man dies ausschließen. Dass Gott in seiner Vollkommenheit unsere armseligen Tugenden als lobenswert erschienen könnten, wäre nämlich für ihn unvorstellbar. Wollte Smith etwa durch die Wohltätigkeit die Welt ein bisschen besser machen? Viel spricht nicht dafür, aber einiges sehr dagegen. Er schreibt:
„Wohlwollen und Wohltätigkeit ist für das Bestehen der Gesellschaft weniger wesentlich als Gerechtigkeit. Eine Gesellschaft kann ohne Wohltätigkeit weiter bestehen, wenn auch freilich nicht in einem besonders guten und erfreulichen Zustande, das überhandnehmen der Ungerechtigkeit dagegen müßte sie ganz und gar zerstören.
Die Wohltätigkeit ist die Verzierung, die das Gebäude verschönt, nicht das Fundament, das es trägt, und darum war es hinreichend, sie dem einzelnen anzuempfehlen, keineswegs jedoch nötig, sie zwingend vorzuschreiben
.“
Smith hat also etwas praktiziert, was er für die Gesellschaft und die Menschheit nicht als besonders nützlich erachtete. Seine Wohltätigkeit müsste dann nur etwas sein, was nur ihm persönlich nützen würde. Aber wie? Es könnte sich nur um etwas handeln, was den inneren Wert und die Würde des Menschen hervorbringt. Smith hatte seine Antwort dazu:
„Ein Mensch, der in Übereinstimmung mit den Regeln vollkommener Klugheit, strenger Gerechtigkeit und richtigen Wohlwollens handelt, mag vollkommen tugendhaft genannt werden.“
Diejenigen, die Smith die letzte Ehre erwiesen haben und die keiner kannte, wussten, dass die Menschheit jemanden verloren hat, „der sich dem Ideal eines vollkommenen Weisen und Tugendhaften so weit nähern dürfte, als es die Schwachheit der menschlichen Natur überhaupt zulässt“. Diese Worte benutzte Smith bei der Beschreibung Humes in einem Brief an den Verleger, der Humes Autobiographie veröffentlichen sollte. Und wenn wir schon bei Hume sind, sollten wir abschließend noch etwas erwähnen.
In dem oben zitierten Buch von Hume ist von zwei sozialen Tugenden die Rede, vom Wohlwollen und von der Gerechtigkeit, und zwar in dieser Reinfolge. Es bleibt aber bis heute ein Rätsel, warum Hume 13 Tage vor seinem Tod, in dem Brief an den Verleger, schrieb, dass aus dem Buch die Worte zu streichen seien, dass es in der menschlichen Natur eine solche Empfindung wie Wohlwollen gebe. Wurde dies Hume erst klar, als er Den Wohlstand von seinem Freund Smith gelesen hat? Wie dem auch sei, Hume gelang es zu begreifen, wenn auch spät, dass so etwas wie Wohlwollen in der menschlichen Brust nicht zu finden ist: Es sei denn, diese Menschen hießen Smith und Hume.
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