DIE BISHERIGEN PARADIGMEN DER WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT
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  Summary O Der Frühliberalismus | für Eilige
 
 
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  Der Ursprung des Privateigentums und seine Erklärungen bzw. Konzeptionen
  Die Prinzipien Gleichheit und Verdienst (Leistung) aus skeptisch-moderner Sicht
       
 
Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Gesellschaftliche Unterschiede dürfen nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.
 
    Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (18. Jahrhundert)    
       
 
Alle Menschen haben ein Recht auf gleiche Behandlung, außer dann, wenn ein anerkanntes Gemeinschaftsinteresse das Gegenteil erfordert. Daher wird jede soziale Ungleichheit, deren Nutzen für die Gesellschaft nicht mehr einsichtig ist, nicht nur zu einer Unzuträglichkeit, sondern zu einer Ungerechtigkeit.
 
    John. S. Milleinflussreicher englischer liberaler Philosoph und Ökonom (19. Jahrhundert)    
 
Ungleichheit sei nur erlaubt, falls es Grund zu der Annahme gibt, dass die Praxis, die eine Ungleichheit einschließt oder in einer Ungleichheit resultiert, sich zum Vorteil jeder an ihr beteiligten Partei auswirkt. Hier ist hervorzuheben, dass jede Partei Vorteile aus der betreffenden Ungleichheit erzielen muss.
 
    John Rawlseinflussreicher amerikanischer politischer Philosoph (20. Jahrhundert)    

Ob etwas richtig bzw. falsch ist hängt immer davon ab, nach welchen Kriterien der Wahrheit bzw. Richtigkeit gemessen wird. Jede Kultur bevorzugt ihre eigenen Kriterien, und diese ändern sich im Laufe der Zeit - mit dem Zeitgeist. Die Moderne hat ihre eigenen Kriterien erfunden und entwickelt, die das Entstehen der modernen Wissenschaften und den Beginn des industriellen Zeitalters erst ermöglicht haben. Es ist angebracht, über diese Kriterien etwas im Allgemeinen zu sagen, bevor wir sie bei der kritischen Untersuchung der Prinzipien Gleichheit und Verdienst (Leistung) anwenden.

Die Moderne war eine Rückkehr zum Rationalismus nach vielen Jahrhunderten der Herrschaft des christlichen theokratischen Dogmatismus. Der Rationalismus als philosophische und erkenntnistheoretische Auffassung war schon vor Jahrtausenden bekannt, aber dieser vormoderne Rationalismus war nicht empirisch. Die vormodernen Philosophen hatten ihre Denksysteme nie von der erfahrbaren Realität abhängig gemacht, auch wenn sie über diese gesprochen haben. Bei Platon sieht man das besonders deutlich. Die „echte“ Welt bzw. das eigentliche Sein ist laut Platon alleine das Sein der Ideen, die Welt der unserer Erfahrung zugänglichen realen Tatsachen ist nur eine (sehr) schlechte Nachahmung dieser Ideen, die als solche keine Achtung eines vernünftigen Menschen verdient. Die richtigen Erkenntnisse lassen sich folglich nur durch das reine Denken - das sich auf die Welt der Ideen bezieht – gewinnen. Diese Erkenntnisse sollen dann der Realität aufgezwungen werden, damit auch sie gut wird. So eingestellte vormoderne Philosophen waren rationalistisch nur in dem Sinne, dass sie ihre Systeme nach bestimmten festen Denkformeln aufgebaut haben. Was sie erreicht haben, waren realitätsfremde Spekulationen, die aber sehr beeindrucken können. Sie zeigen, was die menschliche Phantasie alles kann, wenn sie von den Zwängen und Schranken der Realität befreit wird. In der deutschen Philosophie gab es fast so etwas wie einen Wettbewerb um die phantasievollsten realitätsfremden Systeme, der in der Tat absonderliche Blüten trieb. Das Paradebeispiel ist die Philosophie von Hegel, in der die Einstellung des „modernen“ nichtempirischen Rationalismus bestens erkenntlich ist. Auf die Frage, was er tun würde, wenn die tatsächliche Erfahrung nicht seiner Philosophie entsprechen würde, hat der große deutsche Philosoph stolz und trotzig beantwortet: Desto schlimmer für die Tatsachen.

Der Rationalismus der Moderne war ein anderer: ein empirischer, oder genauer gesagt ein ergebnisorientierter. Nach der Einstellung dieses neuen Rationalismus soll das Denken sozusagen nur ein menschliches Werkzeug sein, mit dem sich etwas Erwünschtes praktisch erreichen lässt. Die Formel dieses neuen Rationalismus war die Beherrschung der Natur. Der Philosoph Francis Bacon (1561-1626) war der erste, der den Fortschritt des Wissens zum Nutzen der Menschheit als oberstes Ziel der Wissenschaften proklamierte. Soll das Denken reale Ergebnisse bringen, dann muss natürlich die Realität bestimmen, was richtig und was falsch ist. Das Denken wurde sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt. Das heißt, möge etwas im formal-logischen Sinne noch so einwandfrei sein, ohne eine empirische Verifikation gilt es noch nicht als richtiges Wissen oder Erkenntnis. Auch auf die Frage des Privateigentums haben die frühmodernen Denker aus dieser zweckrationalen Sicht beantwortet. Damit werden wir uns im nächsten Beitrag näher beschäftigen. In diesem Beitrag bereiten wir uns darauf vor.

Die jahrtausendelange Geschichte des Scheiterns der egalitären Ordnungen

Durch den empirischen und ergebnisorientierten Rationalismus haben Anthropologie und Ethik große Änderungen erfahren. Das sogenannte Gute im Menschen, das in den vormodernen Ethiken ganz oben - meistens im Himmel - angesiedelt war, sollte genauso wie das Wissen den Tatsachen untergeordnet werden. Den guten Absichten und Tugenden gebührt nicht schon eine Achtung an sich, sondern nur dann, wenn sich mit ihnen praktisch etwas erreichen lässt, was aus dem einen oder anderen Grund wünschenswert ist. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Schließlich sollten auch die Prinzipien oder Kriterien der Aneignung von Besitz danach bewertet werden, ob sich mit ihnen bestimmte Ergebnisse - noch besser gesagt Werte - realisieren lassen. Das gilt auch für die Prinzipien Gleichheit und Verdienst (Leistung), die viel älter als die Moderne sind. Wir haben über sie schon einiges gesagt, jetzt wollen wir herausfinden, wie sie sich historisch in der Praxis bewährt haben und warum dem so war.

Erinnern wir uns, dass Locke in seiner politischen Philosophie - die sich als eines der wirkungsmächtigsten ordnungspolitischen Gedankensysteme erwiesen hat, die es jemals auf diesem Planeten gab - die Prinzipien Gleichheit und Verdienst biblisch argumentierte. Das zeugt davon, wie alt sie sind. Als großer empirischer Philosoph hätte Locke diese Prinzipien empirisch argumentieren sollen - oder gar müssen. Das wäre eine moderne Argumentation gewesen. Aber er hat das nicht getan. Er blieb in dieser Hinsicht nicht seinem eigenen Empirismus treu. Die biblischen Argumente haben nämlich in sich nichts Empirisches. Die Christen hat bekanntlich recht wenig interessiert, ob Gleichheit eine empirische Tatsache ist, sie haben sie dogmatisch aus der heiligen Schrift abgeleitet: Wenn alle von einem einzigen Menschen abstammen, von Adam, den Gott auch noch nach eigenem Antlitz schuf, mussten die Nachfolger von Adam alle als gleich gelten. Doch wie sah die Praxis des Christentums aus?

Die Urchristen, als sie im Römischen Reich noch eine Minderheit waren und für ihre Macht noch kämpfen mussten, haben die Gleichheit sogar über das Verdienst gestellt, mit ihrem wichtigsten Prinzip Nächstenliebe. Sie haben die Nächstenliebe damals praktisch so gedeutet, dass die unterdurchschnittlich Leistungsfähigen von den anderen tatkräftig unterstützt werden müssen. Als dann die christliche Kirche die Herrschaft über die Gesellschaft gewonnen hatte, war es damit endgültig vorbei. Die Nächstenliebe musste sich mit der Sonntagspredigt zufriedengeben, für die Praxis hatte sie keine Relevanz mehr. Die christlichen Gesellschaften wurden genauso sozial gespalten wie die vorchristlichen, im ideologischen Sinne waren sie sogar noch totalitärer. Jede andere Denkweise als die ihre wurde mit Schwert und Feuer bekämpft. Man kann es kaum fassen, wenn man bedenkt, welche Denk- und Religionsfreiheit zuvor im Römischen Reich herrschte.

Fügen wir noch hinzu, dass im real existierenden Christentum neue Ungleichheiten, also  Macht und Privilegien, mit dem Gottesgnadentum begründet wurden. Der ursprünglich so verachtete individuelle Reichtum wurde zum Gottesgeschenk umgedeutet und damit für legitim und unantastbar erklärt – durch das Erbe sogar über Generationen hinweg. Jeder Schurke und Ganove, wie etwa John D. Rockefeller, konnte seitdem sagen: „Gott hat mir mein Geld gegeben“. Mag sein, dass die Religion das einzig bezahlbare Opium für das Volk ist (Marx), für die Reichen ist Gott das bestmögliche Mittel für die Gewissensberuhigung: Wenn es Gott gibt, ist alles erlaubt. War für die Urchristen die schrecklichste Sünde das Mammon-Geld („Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“, Mt 6,24), haben die Pfaffen Sexualität zur schlimmsten Sünde erklärt. Später haben die Reformatoren immer wieder versucht, die christlichen Gesellschaften zurück zu den ursprünglichen Prinzipien Gleichheit und Nächstenliebe zu bringen, jedoch ohne nennenswerten Erfolg.

Die Bürgerlichen Revolutionen haben den Kampf gegen die christliche Klassengesellschaft und Priesterherrschaft unter der Parole geführt: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Was die Gleichheit und Brüderlichkeit betrifft, davon ist in der Praxis so gut wie nichts geblieben. Eigentlich wurde schon im politischen Entwurf für die neue bürgerliche Ordnung von Locke das Prinzip Gleichheit mit einem nachgeschobenen Prinzip drastisch relativiert, wie wir  schon gesehen haben. Locke meinte nämlich, die Menschen hätten das Geld erfunden und sich entschieden es zu benutzen, deshalb bleibe ihnen nichts anderes übrig, als auch die negativen sozialen Folgen hinzunehmen. Wann in der Geschichte diese Entscheidung getroffen wurde und wo sich dieser Gesellschaftsvertrag befindet, hat uns Locke - der große Empirist - nie verraten.mehr

Rousseau war der erste bedeutende Denker der Moderne der nicht bereit war, bei den Prinzipien Gleichheit und Verdienst (Leistung) Kompromisse einzugehen. Er lehnt die individuelle Bereicherung und damit auch das Privateigentum bedingungslos ab. Wenn nämlich die Menschen gleich sind, dann müssten sie auch gleich viel leisten können. Der Zustand, dass einige viel besitzen und der Rest der Gesellschaft so gut wie nichts, wäre dann ungerecht: Das Eigentum wäre dann Diebstahl, wie es spätere der Sozialist (Anarchist) Proudhon auf den Punkt brachte. Es wäre nicht falsch, Rousseau als Urvater der sozialistischen und kommunistischen Utopien zu bezeichnen. Er konnte selber nie erfahren, wie seine Auffassung in der Praxis funktionieren würde, erst die Sozialisten und Kommunisten hatten sich im 20. Jahrhundert zahlreiche solche Gelegenheiten erkämpft - der ganze Planet war einmal rot oder rosa. Aber schon im gleichen Jahrhundert sind diese Ordnungen, die dem Prinzip Gleichheit und Verdienst (Leistung) konsequent gefolgt sind, zusammengebrochen. Sie haben sich in der Praxis nicht bewährt.

Es könnte ein falscher Eindruck entstehen, wenn wir jetzt nicht erwähnen würden, dass schon in der vorchristlichen Zeit die Gleichheit einen hohen Stellenwert hatte und für sie gekämpft wurde. Bei Platon können wir es nachlesen. Er meinte, die Geschichte läuft in Zyklen. Diese werden, laut Platon, durch Anhäufung des Reichtums bei wenigen verursacht. Eine gute Ordnung verdirbt durch die Gier einer immer kleineren Zahl von Reichen, die neben dem Reichtum auch die politische Macht an sich reißen und dann Gesetze schreiben, die sie vor einer immer größeren Masse der Armen auch juristisch schützt. So entstandene oligarchische (plutokratische) Ordnungen werden irgendwann durch die Demokratie bezwungen. Die Demokratie ist also die politische Stufe, die aus der Oligarchie hervorgeht. “Die Demokratie entsteht ... wenn die Armen nach gewonnenem Siege einen Teil der anderen Partei ermorden, einen Teil verbannen und dann die Übriggebliebenen gleichen Anteil an der Staatsverwaltung und den Staatsämtern nehmen lassen.“ Aber die Demokratie ist laut Platon auch nicht stabil. Sie scheitert an einer anderen Übertreibung als der, die die Oligarchie letztlich zerstört, nämlich an der Übertreibung der Freiheit. „Denn die allzu große Freiheit schlägt offenbar in nichts anderes als in allzu große Knechtschaft um, sowohl beim Individuum wie beim Staate.“ Die Freiheit ist laut Platon also auch eine Ursache für die Verarmung des Volkes, aber aus einem anderen Grund als bei den Oligarchien. Bei Oligarchien wird das Volk ausgeplündert, bei den Demokratien wird die Wirtschaft durch den Krieg aller gegen alle - wie es Hobbes später formulierte - ruiniert. Nach der Oligarchie (Plutokratie) und Demokratie (Ochlokratie) taucht ein „rädelsführender Volksführer“ auf, ein Tyrann - heute sagen wir Diktator - der dann eine radikale Gleichheit und eine - wie wir es heute sagen würden - Kommandowirtschaft einführt. Wenn man heute Platon liest, fragt man sich verwirrt, ob sich nach zweieinhalb Jahrtausenden gar nichts in der Welt geändert hat.

Schon dieser kurze Blick in die Vergangenheit räumt alle Zweifel aus, dass es in der Geschichte unzählige Male versucht wurde, eine Gesellschaft nach den Prinzipien von Gleichheit und Verdienst zu realisieren. Gescheitert sind sie alle. Uns geht es jetzt nicht darum, das vollständig zu erklären, sondern nur darum herauszufinden, wie diese Prinzipien selbst dazu beigetragen haben.

Sind die Prinzipien Gleichheit und Verdienst (Leistung) empirisch falsch?

Wenn man das Prinzip Gleichheit empirisch prüfen will, kann man das auf zweierlei Weise tun: Man kann zum einen prüfen, ob die realen Menschen wirklich gleich sind und zum anderen ob die Gleichheit von den Menschen wirklich gewünscht wird. Rousseau war überzeugt, dass beides stimmt und er meinte mit dem Naturzustand beides empirisch nachweisen zu können. In seiner Zeit der Entdeckungen neuer Kontinente ließ sich der Naturzustand in der Tat empirisch erforschen. Es wurde schnell klar, dass die Naturvölker ähnlich wie die frühen Christen leben, nach den Prinzipien Gleichheit und Solidarität. Rousseau selbst war nicht vor Ort, er hat also selbst keine empirischen Daten gesammelt, was ihn aber nicht daran hinderte, sich romantische Vorstellungen über den Menschen im Naturzustand herbeizudenken. Dazu kommen wir noch. Neben der empirischen Schwäche hat die Rousseausche Auffassung vom Naturzustand eine logische Schwäche. Sie ist in sich widersprüchlich. Wenn die Menschen ursprünglich so gleich und gut gewesen wären, wie er behauptet, warum ließen sie dann zu, dass die Schurken, die das Privateigentum erfunden haben, sie überlisten, also die Gesellschaft beklauen und sich zu den Herrschern aufschwingen? Noch wichtiger ist die Frage, woher solche Schurken überhaupt kamen. Dazu haben wir schon mehr gesagt.mehr Dass mit dieser Erzählung etwas nicht stimmt zeigt die Tatsache, dass es solche Schurken zuerst viele Jahrtausende nicht gab, sondern erst seit etwa 5 Jahrtausenden, als die ersten großen Zivilisationen entstanden.

Trotzdem ist der Naturzustand ein guter Beweis, dass die Menschen gleich sind. Wären die Menschen nicht gleich, dann wären schon vor vielen Jahrtausenden Klassen- und Kastengesellschaften entstanden. Die Sozialdarwinisten, Neoliberalen und andere Elitentheoretiker würden sagen, in diesen Gesellschaften habe die „Masse“ die Besseren unterdrückt. Das ist aber unmöglich. Sollte es in einer Sippe eine kleine Zahl der höher Entwickelten geben, wäre es für diese immer möglich, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion den Stamm zu verlassen und anderswo ihre Zivilisation der „Übermenschen“ zu gründen. Es gibt jedoch keine Indizien die dafür sprechen, dass so etwas je geschehen wäre. Das Entstehen der Kasten- und Klassengesellschaften vor etwa 5 Jahrtausenden hat andere Gründe als eine etwaige natürliche Ungleichheit der Menschen - dazu später.

Aristoteles und die Frage: Wollen die Menschen wirklich gleich sein?

Der oben erwähnte griechische Philosoph Platon gehörte bekanntlich zu den elitären Denkern. Er hat die Ungleichheit mit dem Willen Gottes erklärt. Als er Menschen formte, habe er angeblich den Glücklichsten in die Seele „Gold beigemischt, deswegen haben sie vorzüglichen Wert, allen Helfern aber Silber, und Eisen und Erz den Landleuten und übrigen Handwerkern. Aristoteles war zwar kein egalitärer Denker, aber er lehnte die Aufteilung der Menschen nach dem Platonschen Prinzip (Gold, Silber, Eisen und Erz) ab, mit der Begründung, dass sich nichts davon prüfen oder nachweisen lässt. Man kann hierbei von einem empirischen Argument sprechen. Solche Argumente sind für Aristoteles üblich. Sein Denken war somit eine Brücke zwischen dem alten spekulativen Rationalismus und dem modernen ergebnisorientierten. Deshalb sind seine Beobachtungen von Gleichheit und Verdienst (Gerechtigkeit) für uns von Bedeutung.

Aristoteles widerspricht nicht nur der Platonschen Auffassung von den Wissenseliten, wie wir es heute sagen würden, er ist auch nicht mit ihm einverstanden, dass nur die materielle Ungleichheit die Ursache des Zerfalls der Gesellschaft und der Revolutionen sei. Er bezieht sich dabei auf die Erfahrung.

„Dass die Vermögensgleichheit einen gewissen Einfluss auf die politische Gemeinschaft hat, schienen auch einige von den Alten erkannt zu haben, wie denn Solon entsprechende Gesetze gegeben hat und es auch bei anderen ein Gesetz gibt, das es verbietet, Land zu erwerben, soviel man will.
Außerdem gibt es Revolutionen nicht nur wegen der Ungleichheit des Besitzes, sondern auch wegen solcher in der Ehre, allerdings in entgegengesetztem Sinne: die Leute werden die Ungleichheit des Besitzes rebellieren, die Gebildeten aber gegen die Gleichheit der Ehre.
Gewiss ist es also, um Bürgerkriege zu verhindern, zuträglich, wenn das Vermögen der Bürger gleich ist, aber viel nützt es in Wahrheit nicht.“ ... >

Wenn die Gleichheit „in Wahrheit nicht viel nützt“, dann kann man auch nichts gegen das Privateigentum sagen. Aristoteles - anders als Platon, der den Philosophen-Königen kein Eigentum zubilligen wollte - war er in der Tat gar nicht gegen das Privateigentum. Er hat auch gewichtige Gründe erwähnt, warum gemeinsames Eigentum nicht ökonomisch nützlich ist. Diese lassen sich viel später auch bei Adam Smith finden, er hat sie aber in die völlig neue Denkweise (Paradigma) der Moderne eingebettet. Eine schlüssige und umfassende Erklärung, wo und wie die ungleiche Eigentumsverteilung nützlich sein kann, musste also auf Smith warten. Dazu mehr im nächsten Beitrag.

Platon würden die Meinungen der „einfachen“ Menschen nie interessieren, bei Aristoteles ist das anders. Sein Empirismus kommt auch darin zum Ausdruck, dass er wissen wollte, was die Menschen über die Gleichheit denken. Was er dabei herausgefunden hat, ist höchst interessant. Er stellt fest, dass „die Revolution überall durch die Ungleichheit entsteht... Ganz allgemein gesagt, empört man sich, weil man nach dem Gleichen strebt.“ 1302a. Das würde bedeuten, dass die Menschen die Gleichheit sehr schätzen. Er ließ sich aber nicht mit solchen Aussagen und Bekundungen zufrieden stellen, er wollte mehr darüber wissen, was die Menschen unter der Gleichheit konkret verstehen. Sein Ergebnis ist sehr ernüchternd. Man hört nicht nur völlig verschiedene Meinungen über die Gleichheit, sondern nicht alle meinen wirklich Gleichheit, wenn dieses Wort in den Mund nehmen.

„Die einen verlangen nach Gleichheit und empören sich, wenn sie meinen, zu wenig erhalten zu haben, obschon sie denen, die mehr haben, doch gleich sind; die anderen verlangen nach Ungleichheit, und Bevorzugung, wenn sie glauben, ungleich zu sein. ... Wenn sie zurückgesetzt sind, empören sie sich, um gleich viel zu erhalten, und wenn sie gleich viel haben, um mehr zu bekommen.“ ... >

Zu den Menschen, die von Gleichheit sprechen, aber ihre eigene Bevorzugung meinen, zählen nach Aristoteles vor allem diejenigen, die bei Platon den höchsten Stellenwert hatten und das Volk diktatorisch beherrschen sollten, die Gebildeten.

„Denn die Gebildeten werden sich ärgern, als verdienten sie es nicht, bloß gleich viel wie die andren zu besitzen, und darum werden sie sich oft verschwören und Aufstände machen. Außerdem ist die Schlechtigkeit der Menschen unersättlich; zuerst mögen sie sich mit zwei Obolen begnügen, aber wenn ihnen das erste gewohnt geworden ist, verlangen sie immer mehr, bis sie ins Unbegrenzte kommen. Denn die Natur des Begehrens ist unbegrenzt.“ ... >

Man kann meinen, dass Platon weitsichtig genug war, als er den herrschenden Wissenseliten kein Eigentum zubilligte, jedoch war er es nicht. Was sollte nämlich diese „Eliten“ daran hindern, dass sie sich als allmächtige Herrscher dieses Recht im Nachhinein beschaffen. Gegenüber dieser Gefahr war später auch Hobbes blind, als er seinen Leviathan entworfen hat.

Aristoteles geht auch der Frage nach, was es damit auf sich hat, dass die Menschen über die Gleichheit dermaßen unterschiedliche Auffassungen haben. Heute würden wir sagen, dass er sich für die Psychologie der Gruppen interessierte, fast zweieinhalb Jahrtausende bevor die Psychologie als Wissenschaft entstanden ist. Als ein scharfer Beobachter der Realität hat er sogar für all die verschiedenen Auffassungen von Gleichheit und Ungleichheit gewissermaßen ein gemeinsames Erklärungsmuster herausgefunden:

„Die einen meinen, wenn irgendeine Gleichheit bestehe, so seien sie überhaupt gleich, und die anderen, wenn irgendeine Ungleichheit bestehe, so seien sie überhaupt ungleich.
Die Demokratie entstand dadurch, das man meinte, wer in einem bestimmten Punkte gleich sei, der sei es auch in allem ... die Oligarchie umgekehrt dadurch, dass man glaubte, wie die Menschen in einem bestimmten Punkte ungleich sind , so meint man, sie seien überhaupt (da sie nämlich im Vermögen ungleich sind, so meinte man, sie seien überhaupt ungleich).“ ... >

Das Wort Demokratie in diesem Zitat verdient eine Bemerkung. Die gute Ordnung heißt bei Aristoteles Politie, die aber am ehesten dem entspricht, was wir heute als Demokratie bezeichnen. Den Begriff Demokratie würde man heute eher mit Anarchie übersetzen. Aristoteles war damit der erste Demokratietheoretiker und hat zweifellos so manche Gedanken über die Demokratie hinterlassen, die auch zwei Jahrtausende danach, als die neuen Demokratien entstanden sind, brauchbar waren. Seine Auffassung von Demokratie in toto war aber nicht modern. Der wahre Hintergrund seiner Demokratie (Politie) war die Idee des Guten. Er war auf der Suche nach einer Ordnung der Tugend - wie Platon vor ihm -, die dann entstehen würde, wenn man herausgefunden hat, wer die Tugendhaften sind, denen man dann die Herrschaft überlässt. Die zwei größten Philosophen der Antike sind sich nur darin nicht einig, wer die Tugendhaftesten sind. Bei Aristoteles waren es die Mittigen. Seine Begründung lässt sich mit wenigen Zitaten gut verdeutlichen:

„Schwierig ist es dagegen, wenn man übermäßig schön, kräftig, adlig oder reich ist, oder übermäßig arm, schwach und gedemütigt. Die einen werden leicht übermütig und schlecht im Großen, die anderen bösartig und schlecht im Kleinen; die einen tun im übermut unrecht, die anderen in Boshaftigkeit. Offensichtlich also die auf diese Mitte aufgebaute staatliche Gemeinschaft die beste, und solche Staaten haben eine gute Verfassung, in denen die Mitte stark und den beiden Extremen überlegen ist. Dass also die Mitte am besten ist, ist klar.“ ... >

Man ist ein bisschen verwirrt, dass Aristoteles so viel Vertrauen in die Mittelschichten hegt, vor allem angesichts dessen, was man bei ihm auch nachlesen kann, nämlich dass es „Adelige und Tüchtige nirgendwo mehr als hundert gibt, Reiche und Arme dagegen überall viele.“... > Wo ist dann diese breite Mitte der Tugendhaften? Es gibt sie in der Tat nicht. Hier hat Aristoteles etwas sträflich übersehen. Die historische Erfahrung zeigt sogar, dass den Mittelschichten die Demokratie nicht am Herzen liegt. Blickt man nur ein Jahrhundert zurück, stellt man fest, dass die Mittigen nicht nur gegen die Gleichheit, sondern auch gegen die Demokratie waren. Die tragende Kraft der faschistischen Bewegungen waren immer die mittleren Schichten - viele Soziologen haben im Faschismus einen Extremismus der Mitte gesehen. Vor ein paar Jahrzehnten haben sich die mittleren Schichten mit den Reichsten identifiziert und mit unzähligen „Reformen“ wie die Wahnsinnigen die Unterschichten in den Staub getreten. Anstatt sich zur Oberschicht emporzuhieven, haben sie sich dabei nur selbst den Ast abgesägt, auf dem sie saßen - die Mittelschicht befindet sich seitdem im freien Fall. Marx lässt grüßen.

Der moderne Egalitarismus: Die Rückkehr der alten Idee des Guten durch die Hintertür

Für die modernen Denker galt es als selbstverständlich und über jeden Zweifel erhoben, dass alle Menschen gleich sind. Eine Gesellschaft der Gleichen haben sie daraus aber nicht abgeleitet und auch der Weg der Moderne zur Demokratie war sehr zögerlich. Die extrem egalitaristischen Entwürfe, die sozialistischen und kommunistischen, sind erst später entstanden. Es wurde oft bemerkt, dass diese Entwürfe auch biblische Vorbilder haben, so wie es bei Locke der Fall war, als er sich wankelmütig und halbherzig für Gleichheit einsetzte. Es ist interessant hier noch zu erwähnen, dass der erste bedeutende Sozialist Saint-Simon den Sozialismus wirklich als ein neues Christentum (Le Nouveau Christianisme) gesehen hat. Aber bei seinen Nachfolgern hat sich der neue Egalitarismus vom Christentum emanzipiert, er wollte Wissenschaft sein: eine angeblich höhere, progressivere Stufe der Moderne. In Wahrheit hatte er mit der Denkweise der Moderne nur wenig zu tun. Die „Wissenschaft“ der Sozialisten und Kommunisten war nicht einmal empirisch, sie konnte dies aber sehr geschickt verschleiern. Es war der Weg zurück in die Vormoderne, was sich leicht verdeutlichen lässt.

Jede egalitaristische Utopie beruht - explizit oder implizit - auf der positiven menschlichen Natur, auf dem Guten im Menschen. Für spekulative Denker ist diese Annahme kein Problem, für empirische schon. Es spricht nicht viel für eine gute menschliche Natur, die Tatsachen scheinen sogar das Gegenteil zu beweisen. Spätestens nach dem Dreißigjährigen Krieg konnte man sich nicht mehr über solche Tatsachen hinwegsetzen. Nachdem dann die größten Denker der Moderne mit ihrem empirischen Ansatz den metaphysischen und theologischen Glauben an das Gute im Menschen zerstört hatten, konnten egalitaristischen Denker der Moderne für das angeblich angeborene Gute im Menschen keinen wissenschaftlichen Status mehr beanspruchen. Nun blieb den Sozialisten und Kommunisten nichts anderes übrig, als die tatsächliche negative menschliche Natur zumindest stillschweigend zu akzeptieren. Sie retteten sich mit der Flucht nach Vorne. Sie haben alles, was  gegen den guten Menschen sprach, den Umständen angelastet. Bei günstigeren Umständen würde der Menschen zu seinem tugendhaften und edlen Wesen zurückkehren. Bei Rousseau sollte dies durch Erziehung und die Aufhebung des Privateigentums erreicht werden, für Marx sollte alleine die zweite Bedingung ausreichen. Der Kunstgriff von Marx ist in einem gewissen Sinne faszinierend. Von den Menschen, wie man sie in den letzten Jahrtausenden kannte, hielt Marx nämlich gar nichts. Da war er ein sehr cooler Realist. Er hat aber sein Handwerk bei Hegel gelernt, dessen dialektische Methode im Handumdrehen sogar mit den hartnäckigsten Tatsachen zurecht kommt. Nach dem so genanten dialektischen Sprung ändere sich das Wesen der Tatsachen schlagartig, so wie mit dem Kuss des Prinzen aus dem ekelhaften Frosch ein wunderschöner Prinz wird. Der historische Mensch war nach Marx von seiner menschlichen Natur entfremdet, und durch entsprechende Umstände würde er zu seiner „wahren“ Natur zurückfinden und gut werden. Deshalb ist der Begriff Entfremdung einer der wichtigsten in der Marxschen Philosophie. Den Skeptikern konnte also Marx von seinem dialektischen Podest lässig zurufen: Desto schlimmer für die Tatsachen.

Wir können also für Sozialismus und Kommunismus problemlos behaupten, dass sie gar nicht modern waren. Es handelt sich nur um einen raffinierten Kunstgriff, die uralte Idee des Guten zu retten. Dieser Kunstgriff war nicht einmal originell, was auch immer wieder bemerkt wurde. Schon in der christlichen Eschatologie ist der Mensch, der als gut geschaffen ist, wegen der Erbsünde den ungünstigen Umständen ausgeliefert, wo er einen Weg in Sünde und Buße gehen muss, bis er wieder zum Paradies zurückkehrt. Aber unabhängig davon, ob die Sozialisten und Kommunisten originell sind oder nicht, sie müssen sich den alten Vorwurf von Spinoza gefallen lassen:

„Sie glauben dergestalt etwas Erhabenes zu tun und den Gipfel der Weißheit zu erreichen, wenn sie nur gelernt haben, eine menschliche Natur, die es nirgendwo gibt, in höchsten Tönen zu loben, und diejenige, wie sie wirklich ist, herunterzureden. Sie stellen sich freilich die Menschen nicht vor, wie sie sind, sondern wie sie haben möchten; und so ist es gekommen, daß sie statt einer Ethik meistens eine Satire geschrieben und niemals eine Politik-Theorie konzipiert haben, die sich auf das wirkliche Leben anwenden ließe; produziert haben sie nur etwas, das als eine Chimäre anzusehen ist oder das man in Utopia oder in jedem goldenen Zeitalter der Dichter, wo dies führwahr am wenigsten erforderlich war, hätte errichten können.“ ... >

Die modernen Sozialisten haben aus der Tatsache, dass die Menschen gleich sind, falsche Schlussfolgerungen gezogen. Ihr großer Irrtum war, dass sie sich nicht gefragt haben, auf welchem moralischen und rationalen Niveau die Menschen gleich sind. Aber gerade diese Frage stand am Anfang der Moderne und führte zu einem völlig neuen Denken.

Hobbes: Die Suche nach einer guten Ordnung mit gleichen, aber unvollkommenen Menschen

In den vorigen Beiträgen wurde schon recht umfangreich erklärt, welch große anthropologische, ethische und erkenntnistheoretische Wende zu Beginn der Moderne stattfand. Sie war bestimmt die größte geistige Revolution - wir können auch sagen der größte Paradigmenwechsel - in der Geschichte der zivilisierten Menschheit. Bei einem Paradigmenwechsel, so Thomas Kuhn, ist es fast so, als wäre man „plötzlich auf einen anderen Planeten versetzt worden, wo vertraute Gegenstände in einem neuen Lichte erschienen und auch unbekannte sich hinzugesellen“. Im neuen gedanklichen Rahmen der Moderne sind auch die „vertrauten Gegenstände“ wie Gleichheit und Verdienst „in einem neuen Lichte erschienen“. Um den Unterschied besser zu verdeutlichen, knüpfen wir an  Aristoteles Beobachtungen an, dass die Menschen die Begriffe Gleichheit und Verdienst sehr unterschiedlich verstehen.

Obwohl Aristoteles der empirischste aller großen vormodernen Philosophen war, ist auch ihm nichts Anderes eingefallen, als die negative menschliche Natur rein ethisch zu erklären. Im Grunde beruhte die ganze vormoderne Ethik auf den Begriffen (Phänomenen) Gut und Böse. Bei den Theologen wurde dem Bösen sogar ein eigenständiges Reich eingerichtet, mit Teufeln und Dämonen, die ihr Unwesen treiben und den von Gott als gut erschaffenen Menschen verführen und verderben. Rein logisch betrachtet ist diese Erklärung in sich schlüssig und wirkt plausibel. Will man das Gute behalten, ohne dass man dem Bösen ein Reich der Teufel und Dämonen zugesteht, gibt es erhebliche Konsistenzprobleme. Platon und manche anderen vormodernen Philosophen dürften dies geahnt haben, so dass sie sich dieses theologische Bein nicht nehmen ließen. Erwähnen wir dazu den Philosophen Gottfried W. Leibniz, der so mutig war, darauf zu verzichten. Mit seiner Lösung machte er der deutschen spekulativen Philosophie alle Ehre. Die Frage heißt: Wenn die Vernunft das Gute bewirkt oder schafft, und mit dem Bösen nichts gemein hätte, wie entsteht das Böse? Die Antwort von Leibniz ist verblüffend. Wenn sich aus der Abwesenheit von Vernunft nicht ein Auftauchen des Bösen ableiten lässt, dann existiert das Böse gar nicht. Das Böse kann nur eine Einbildung der Menschen sein. In seiner satirischen Novelle Candide ou l'optimisme, in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Candide oder die beste aller Welten, hat der französische Philosoph Voltaire den damals berühmten deutschen Philosophen dem Spott preisgegeben. Die modernen Denker dagegen haben das Pseudoproblem „Gut versus Böse“ mit ihrem empirisch-skeptischen Rationalismus vermieden. Wiederholen wir jetzt dazu nur das Wichtigste.

Unsere Sinneseindrücke werden bei den modernen empirischen Philosophen an sich als objektiv betrachtet. Sie werden aber (höchstens) als eine Information über die Oberfläche, sozusagen über den „Schleier“ der Realität begriffen, unter dem sich etwas befindet, was wir nie erreichen können: weder mit der Vernunft, noch mit dem Glauben und auch auf keine andere Weise. Große Vorkämpfer für diese neue erkenntnistheoretische Auffassung war Thomas Hobbes (1588-1679). Diese Skepsis gegenüber den Möglichkeiten der menschlichen Vernunft machte er zur Grundlage seiner ganzen Anthropologie und Ethik. Es stimmt zwar, dass unter seinen Vorgängern die Skepsis gegenüber den moralischen und rationalen Fähigkeiten des Menschen weit verbreitet war (Lipsius, Montaigne, Grotius), aber er hat diese Skepsis zu einem umfassenden und schlüssigen Bild über Mensch und Gesellschaft ausgearbeitet. Es gibt nicht viele, mit denen sich Hobbes das Verdienst dafür teilen müsste. Uns geht es jetzt nur um die Anwendung dieses empirisch-skeptischen Rationalismus auf Mensch und Gesellschaft. Das noch einmal zu wiederholen ist angebracht, weil sich von dieser Erklärung ausgehend viel einfacher die Auffassung von Privateigentum bei Smith verstehen lässt.

Heben wir noch einmal ausdrücklich hervor, dass es für Hobbes nicht den geringsten Zweifel daran geben konnte, dass die Menschen gleich sind. Er behauptet sogar, dass sich „bei den Geistesfähigkeiten eine noch größere Gleichheit findet“ als anderswo, aber gerade diese Gleichheit wird jedoch wie keine andere angezweifelt und bestritten. So wie schon Aristoteles herausfand, stellt auch Hobbes fest, dass

„... beinahe jeder sich viel weiser als alle übrigen dünkt, die wenigen ausgenommen, welche diese Gleichheit entweder wegen des allgemeinen Rufes oder wegen der Übereinstimmung ihrer Meinungen mit den ihrigen hochschätzen. Wenn auch der Mensch geneigt ist, einem anderen in der Beredsamkeit oder Gelehrsamkeit den Vorzug vor sich selbst zuzugestehen, so wird er doch nicht einräumen wollen, daß jemand klüger sei als er.“ ... >

In seinem ersten Werk Elements of Law hat er diesen Gedanken schon ganz klar formuliert, mit einem Hauch von Ironie:

„Gewöhnlich aber meinen die, welche nach der richtigen Vernunft rufen, um irgendeine Differenz zu entscheiden, ihre eigene Vernunft. Dies aber ist gewiß, daß es die richtige Vernunft an sich nicht gibt.“ ... >

Seine Erklärung, die er später im Leviathan vorlegt, lässt sich in einem Satz zusammenfassen:

„Jeder sieht seinen eigenen Verstand gleichsam aus der der Nähe, den eines anderen aber aus der Ferne an.“ ... >

Wenn es dem Menschen unmöglich ist die Welt wie sie „wirklich“ ist zu erkennen, dann ist es ihm ebenfalls unmöglich die Begabungen und Fähigkeiten der anderen zu erkennen. Wir wissen nicht, was alles der andere weiß, und der andere weiß nicht, was wir alles wissen. Knapp ausgedrückt: Wir können nicht wissen, was wir alles nicht wissen. Die so weit verbreitete „Zufriedenheit eines jeden mit seinem Verstande“, wie es Hobbes feststellte, beruht auf keinen festen, objektiven Grundlagen. Aus sich selbst heraus kann die Vernunft nichts hervorbringen, die Sinneseindrücke, die der Vernunft als einziges Material zur Verfügung stehen sind zufällig, beschränkt und letztendlich durch unsere Sinne vorformatiert. Folglich ist es uns unmöglich zu wissen, ob wir den anderen gleich sind oder nicht. Und genauso können wir nicht wissen, was der andere leistet und wie er sich um etwas verdient gemacht hat. Schließlich kann die Quelle oder Ursache des moralischen Handels nicht in der Vernunft selbst liegen. Sie kann nur in moralischen Gefühlen liegen, ist die Antwort der Empiristen, und diese sind durch alles, was den realen Menschen ausmacht, bedingt. Die moralischen Gefühle der Menschen sind aber sehr schwach. Hobbes stellt fest, dass sie nicht mit den Trieben der Tiere verglichen werden können, die normalerweise stark genug sind, das soziale Leben zu ermöglichen. Das ist sozusagen die menschliche Tragödie: Die guten Triebe bzw. moralischen Gefühle haben sich zurückgebildet und zu einem wirklich vernünftigen Wesen hat sich der Mensch noch nicht entwickelt. Wie kann mit solchen Wesen eine gute Gesellschaft realisiert werden?

Wie bereits in den vorigen Beiträgen erörtert, bestand die Lösung der Denker vom Anfang der Moderne darin, Macht durch Macht zu begrenzen, was auf das Prinzip der Regelung bzw. einer geregelten Ordnung hinausläuft. In der Wirtschaft soll man dies durch Konkurrenz bzw. Nachfragepreise realisieren, wie es Smith großartig erklärt hat. Dazu kommt noch, unter anderem, dass in einer industriell entwickelten Wirtschaft, die wegen der Arbeitsteilung völlig intransparent ist, das Kapital auch noch privat sein muss. Im nächsten Beitrag erläutern wir seine Auffassung genauer. Ein bisschen zugespitzt ausgedrückt, lässt sich in seiner Theorie der Aneignung des Privateigentums als Strafe für unsere menschliche Unvollkommenheit bezeichnen. Der rein ökonomisch interessierte Leser kann gleich zu diesem nächsten Beitrag übergehen. Im Weiteren wollen wir noch vom Standpunkt des moralisch und rational beschränkten Menschen aus auf die Argumente von Rousseau eingehen, um ihre Schwächen offenzulegen.

Rousseau war schon deshalb ein typischer frühmoderner Denker, weil die Natur im Zentrum seines Interesses stand. Als sich das moderne Denken aus der Bevormundung der Theologie befreite, war die Natur im Prinzip der Ersatz für Gott und Himmelreich. Das ist sehr auffällig. An allen wichtigen Stellen der Argumentationsketten am Anfang der Moderne standen die Worte Natur und natürlich. Der Ersatz des Gottes durch die Natur hat bestimmt wesentlich dazu beigetragen, dass der Rationalismus empirisch wurde. Die Natur erreicht man nämlich mit den Sinnen, also empirisch, so dass der Rationalismus, der viel älter als die Moderne ist, zum empirischen Rationalismus wurde. Fügen wir dem noch hinzu, dass erst später, als der Kapitalismus kam und alles mögliche Gedankengut nach eigenem Bedarf umformte und uminterpretierte, die Begriffe Natur und natürlich durch Freiheit und freiheitlich verdrängt wurden. Das war ein Verrat am neuen Geist der Moderne. Aus dem empirischen Denkansatz wurde eine nichtempirische Ideologie der neuen herrschenden Klasse gemacht. 

Der Naturzustand blieb aber bei Rousseau der einzige empirische Bezug zur Realität. Wie bereits festgestellt, ist für die primitiven Gesellschaften Gleichheit und Solidarität eine empirische Tatsache. Bei näherer Betrachtung sehen diese Tatsachen jedoch nicht mehr so gut aus. Rousseau war nicht die ganze Wahrheit über die Naturvölker bekannt - er selbst hat nie empirische Tatsachen über sie erhoben -, oder aber er wollte gar nicht alles über sie wissen. Die Naturvölker sind im Regelfall sehr rassistisch und kennen kein Mitleid, wenn es um Artgenossen außerhalb der eigenen Sippe geht. Es spricht für sich, dass in den meisten Sprachen der Naturvölker die Eigenbezeichnung der Stammesmitglieder gleichbedeutend ist mit unserem Wort für Mensch. Außerdem wird bzw. wurde von solchen Völkern oft auch Blutrache oder Kopfjagd praktiziert. Die Moral der Naturvölker ist sozusagen nur eine Binnenmoral, nicht eine Moral für die ganze Menschheit. Hierzu passt gut der bekannte Satz des Urvaters der Psychoanalyse, Siegmund Freud: „Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben.“ Schon diese wenigen Tatsachen zeigen, dass der Naturzustand kein Beweis dafür ist, dass die Menschen eigentlich selbstlose und hilfsbereite Wesen sind, die zu einem Leben in ewigem Frieden miteinander fähig sind. Es gibt eine bessere Erklärung für die Gleichheit und Solidarität im Naturzustand, und zwar die, die sich auf besondere Umstände bezieht. Zu ihnen gehört als unbestrittene Tatsache, dass es in solchen Gesellschaften keine wesentliche Arbeitsteilung gibt - abgesehen von der, die alters- und geschlechtsbedingt ist. Jeder übt jede Tätigkeit aus, so dass jeder gut damit vertraut ist, was der andere tut. Jeder kann den anderen immer ersetzen, so dass Gleichheit und Verdienstgleichheit eine direkt erlebte Tatsache ist. Die Waffen sind sehr einfach und für jeden zugänglich, so dass einer den anderen nicht einfach mit Gewalt zu etwas zwingen kann. Die niedrige Produktivität solcher Gesellschaften macht eine Spaltung der Gruppe in eine kleine Zahl der Herrschenden und eine große Zahl der Beherrschten unmöglich. Beherrschte müssen nämlich nicht nur genug für ihre eigene biologische Reproduktion erwirtschaften, sondern auch für die Herrscher. Das kann die primitive Wirtschaft nicht leisten. Folglich haben die primitiven Stämme keine Gefangenen gemacht: Man hat sie getötet oder sogar verspeist.

Wir können also schlussfolgern, dass das vermeintliche Gute im Menschen, der sich im Naturzustand befindet, das Ergebnis der besonderen Umstände ist, vor allem der nicht entwickelten Arbeitsteilung und der niedrigen Produktivität. Unter diesen Umständen ist ein solidarisches und großzügiges Verhalten innerhalb der Gruppe das Beste für die Gemeinschaft und auch für jedes Mitglied. Um das zu begreifen und anzuerkennen reichen schon sehr niedrige moralische und rationale Veranlagungen beim Individuum aus. Sobald sich diese Umstände auf bestimmte Weise ändern, reicht dieses Minimum an Moral und Vernunft nicht mehr: Es beginnt der Krieg alle gegen alle, der in der Klassengesellschaft endet. Es beginnen sozusagen Hobbessche Zustände. Wenn man von beschränkt moralischen und rationalen Menschen ausgeht, ist es einfach zu erklären, wie vor 5 Jahrtausenden die Klassengesellschaften entstanden sind. Ein bedeutender amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler des vorigen Jahrhunderts, Mancur Olson (1932-1998), der seine Forschungen interdisziplinär anlegte und auch die Entwicklung von Soziologie und Politikwissenschaft mitbestimmte, hat vom unvollkommenen Menschen ausgehend eine beeindruckende Darstellung der historischen Spaltung der Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte ausgearbeitet. Eigentlich hätte Hobbes seine Staatstheorie auf diese Weise zu Ende durchdenken müssen, wenn er sich bei der Ausarbeitung seines Leviathan  auf seinen Empirismus verlassen hätte, anstatt einen angeblichen „Gesellschaftsvertrag“ zu erfinden.

Olsons „Richtigstellung“ der Hobbeschen Theorie der Staatsentstehung

Seit wir etwas über die Geschichte wissen, wissen wir auch, dass die verschiedenen Stämme und Völker einander immer wieder bekämpft und ausgeraubt haben. In einem kleinen Maße ist das nichts anderes als das, was Diebe, Gangster und Banditen tun. Die kriminellen Menschen denken rational, so Olson, und als solche machen sie sich Gedanken darüber, wie sie ihre „Leistung“ optimieren. Ihnen würde schnell einfallen, dass sie andere Banden aus ihrem Gebiet vertreiben müssen, um ihre Verbrechen zu monopolisieren. Aber sie werden auch zu anderen Einsichten kommen. Wenn eine Bande plündert, vernichtet und tötet, um dann weiterzuziehen, hat sie sich damit für eine längere Zeit die Möglichkeit genommen, wieder plündern zu können. In so einem Fall hat der Parasit seinen Wirt vernichtet und sich die Grundlagen der eigenen Existenz genommen. Das wird auch in der Natur immer wieder beobachtet - so harmonisch und bewundernswert ist die Natur gar nicht, wie es oft behauptet wird. Es wäre für den Parasiten besser den Wirt leben zu lassen, ihn zu unterjochen, ihm jedoch nicht alles zu nehmen, sondern nur das, was er für seine biologische Existenz benötigt, um dann so für lange Zeit so fortzufahren. Übrigens finden wir in der Natur auch hierfür viele Beispiele. Olson spricht bezogen auf die menschliche Gesellschaft vom Vorteil des stationären Banditentums im Vergleich zum durchziehenden und umherstreifenden. Einfach ausgedrückt kann man einfach sagen, der stationäre Bandit kann sozusagen ein privates Besteuerungssystem einführen.

„Der Vorteil dieses Monopols auf Verbrechen ist nicht in erster Linie, dass er sich nehmen kann, was andere sonst gestohlen hätten; wichtiger ist, dass das Monopol ihm ein umfassendes Interesse an dem Gebiet gibt, ähnlich dem Interesse der Mafiafamilie. Er hat sogar ein größeres Interesse als die Mafiafamilie, da der Anführer der Banditen, der sich eines anarchischen Gebietes bemächtigt hat, keinem Wettbewerb durch Steuereintreiber einer Regierung ausgesetzt ist: Er ist der einzige, der in dem fraglichen Gebiet in der Lage ist zu besteuern oder zu stehlen.“ ... >

Es lohnt sich Olson ausführlicher zu zitieren, wie er mit dem stationären Banditentum den Ursprung der Autokratie erklärt.

„Wenn der Anführer der Banditen stark genug ist, sich die Herrschaft über ein Territorium zu sichern und dort den Diebstahl zu monopolisieren, hat er ein umfassendes Interesse an seinem Gebiet. Dieses umfassende Interesse veranlaßt ihn, die Diebstahlsrate zu begrenzen und zu regeln und einen Teil der von ihm kontrollierten Ressourcen für öffentliche Güter zu verwenden, die seinen Opfern genau so zugute kommen wie ihm selbst. Da die Opfer des stationären Banditen für ihn eine Quelle von Steuereinnahmen sind, verbietet er die Ermordung und Verstümmelung seiner Untertanen. Weil Diebstahl durch seine Untertanen und das dadurch hervorgerufen Verhalten der Diebstahlsabwehr das Gesamteinkommen vermindert, erlaubt der Bandit niemandem zu stehlen, außer sich selbst. Er fördert seine Interessen, indem er einen Teil der von ihm kontrollierten Ressourcen für die Abschreckung von Verbrechen durch seine Untertanen und für andere öffentliche Güter einsetzt. Ein Banditenführer mit ausreichender Stärke, ein Territorium zu kontrollieren und gegen andere zu behaupten, hat einen Anreiz sich niederzulassen, eine Krone zu tragen und ein Autokrat zu werden, der öffentliche Güter bereitstellt.
In großen Gruppen von Menschen sind Regierungen in der Regel durch das Eigeninteresse derer entstanden, die die größte Fähigkeit hatten, Gewalt zu organisieren. Diese gewalttätigen Unternehmer haben sich selbst natürlich nicht Banditen genannt, sondern sie gaben im Gegenteil sich und ihren Nachkommen erhabene Titel. Sie haben sogar manchmal den Anspruch erhoben, von Gottes Gnaden zu regieren. Da Geschichte durch die Sieger geschrieben wird, werden die Ursprünge der herrschenden Dynastien natürlich üblicherweise mit grandiosen Motiven statt mit Eigeninteresse erklärt. Autokraten aller Art beanspruchen in der Regel, dass ihre Untertanen wünschen, von ihnen regiert zu werden, und stützen dadurch die durchweg falsche Annahme, dass ihre Regierung das Ergebnis einer freien Wahl war.“ ... >

Eine Bande, die ein Gebiet und seine Bevölkerung beherrscht, hat Grund genug für die Produktivitätssteigerung zu sorgen und den Untertanen einen gewissen Wohlstand zu erlauben.

„Aus der Geschichte wissen wir, dass umfassende Interessen eigennütziger Autokraten mit ökonomischem Wachstum und sogar mit zivilisatorischem Fortschritt verbunden sein können.
Die umfassenden Interessen des stationären Banditen ... geben ihm einen Anreiz, öffentliche Güter bereitzustellen, die seinem Gebiet und denjenigen zugute kommen, die er mit seiner Steuer bestiehlt.
Paradoxerweise stellt er diese öffentlichen Güter mit Hilfe von Geld zur Verfügung, über das er volle Kontrolle hat und das er ganz für sich selbst ausgeben könnte.“ ... >

Der technische Fortschritt, mit dem sich bessere Waffen herstellen lassen und der gewisse Wohlstand, um die Loyalität der Untertanen zu gewinnen, sind wichtige Instrumente der Herrscher von Staaten, die sich untereinander bedrohen. So war es in der Zeit des Kalten Krieges, als der westliche Kapitalismus sich eine menschliche Maske aufsetzt. Seitdem der kommunistische Feind weg ist, bemühen sich die westlichen Machteliten nach Kräften, die brutalsten und ungerechtesten Zustände wie aus dem 19. Jahrhundert wiederherzustellen.

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