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Das Geheimnis der Veränderung ist,
dass man sich mit all seiner Energie nicht darauf konzentriert, das Alte zu bekämpfen, sondern darauf, das Neue zu erbauen.
 
Sokrates ( *469 - †399 v. Chr. )  


   
  Paul Simek 
Marktwirtschaft
neu
denken
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  Verlag: BoD Shops  

LESEPROBEN:
 
Vorwort   dahin
Teil I  
EIN NEUES PARADIGMA FÜR DIE WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT  
Aufbau und Inhalt von Teil I   dahin
  1: Wie die Theorie der liberalen Ordnung
entwickelt, verraten und verfälscht wurde
dahin
  2: Die Keynessche Nachfragetheorie:
ein überforderter Paradigmenwechsel
dahin
 
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  Man schafft niemals Veränderung, indem man das Bestehende bekämpft. Um etwas zu verändern, baut man neue Modelle, die das Alte überflüssig machen.
  R. Buckminster Fuller
  Die Volkswirtschaftslehre ist eine Wissenschaft von Denken in Modellbegriffen, verbunden mit der Kunst, Modelle zu wählen, die anwendbar auf die gegenwärtige Welt sind.
  John M. Keynes
  Mit einem Wort: Die alten Götter werden alt und andere sind noch nicht geboren ... Aber dieser Zustand der Unsicherheit und der verwirrenden Unruhe kann nicht ewig dauern. Ein Tag wird kommen, an dem unsere Gesellschaften neue Stunden der schöpferischen Erregung kennen werden, in deren Verlauf neue Ideen auftauchen und neue Formen erscheinen werden.
  Emile Durkheim
 

3:

Eine neue analytische Grundlage für
das nachfragetheoretische Paradigma

 

Für die neoliberalen Ökonomen bedeutet wissenschaftlicher Fortschritt schon längst nichts Anderes mehr, als die von ihnen so bezeichneten „übriggebliebenen Lücken“ in ihrem mathematischen System zu schließen und vor allem seine schon längst bekannten Aussagen mit immer mehr und immer noch komplizierteren mathematischen „Beweisen“ zu überfrachten. Mit einer besseren Erklärung der Tatsachen hat das jedoch nichts zu tun. Das ist ein sehr ernsthaftes Problem. Formale Fortschritte allein reichen für die Weiterentwicklung einer Wissenschaft nämlich nicht aus. Bei ihnen stagniert die Theorie auch weiter, noch besser gesagt sie „degeneriert“, wie es der Mathematiker, Physiker und Wissenschaftstheoretiker Imre Lakatos trefflich formuliert hat. Ihre letzte Stufe der Degeneration erreicht eine Theorie, wenn sie nichts Genaueres über die Zukunft sagen kann, aber für alles, was bereits geschehen ist eine „Erklärung“ parat hat. Das erreicht man mit den sogenannten Ad-hoc-Hypothesen.

In den Wissenschaften werden unter Ad-hoc-Hypothesen neue Annahmen verstanden, die dazu dienen, die Gültigkeit einer Theorie zu erweitern. Diese Annahmen können durchaus zur Entdeckung von neuen Grundsätzen führen und sind dann nützlich. Jede Theorie ist nämlich vorerst auf einem sehr hohen Niveau abstrakt, sie ist sozusagen sehr leer und als solche zusätzliche Hypothesen und Grundsätze nötig, um die Realität zu erreichen. So wächst die Theorie im Rahmen eines desselben Paradigmas. Ein breiter Weg zu immer weiterer Fortentwicklung einer Wissenschaft ist das aber nicht. Je mehr von Ad-hoc-Hypothesen, also „Grundsätzen“ eine Theorie angehäuft hat, desto leichter ist es zwar für sie Geschehnisse im Nachhinein(ex post) zu „erklären“, sie eignet sich jedoch immer weniger für Vorhersagen (ex ante). Man weißt dann nämlich nicht mehr, welcher von den verfügbaren zusätzlichen „Grundsätzen“ der jeweiligen Theorie für die konkret gesuchte Vorhersage angewandt werden soll. Anstelle eines Fortschritts mit neuen Ad-hoc-Hypothesen geht es bei solchen „überentwickelten“ Theorien lediglich um intellektuelle Ausreden - also um Spitzfindigkeiten. Man kann Ad-hoc-Hypothesen daher mit den sogenannten Jokern im Kartenspiel vergleichen. Ein Joker ist eine Karte, die jede andere nach Belieben ersetzen kann. Aber es gibt bekanntlich sogar in den Spielen stets nur wenige Joker, weil das Spiel sonst keinen Sinn mehr hätte oder gar nicht mehr spielbar wäre.

Die Theorien, die analytische Werkzeuge so benutzen, Ereignisse und Tatsachen erst im Nachhinein (ex post) „wissenschaftlich genau“ zu erklären, sind den althergebrachten Prophezeiungen verblüffend ähnlich. Wenn ein Ereignis bereits geschehen ist, finden die Ausleger und Erläuterer der Prophezeiung bekanntlich zahlreiche Hinweise, dass gerade dieses Ereignis eindeutig und genau vorhergesagt worden ist. Dummerweise konnten diese Spezialisten das Auftreten des angekündigten Ereignisses nie im Voraus dem Wortlaut der Prophezeiung entnehmen. Ein erwähnenswertes Beispiel dafür sind die prophetischen Gedichte des mittelalterlichen Alchimisten und Mystikers Nostradamus, die noch heute immer wieder für ein wenig Aufregung gut sind. Die neoliberalen Modelle sind zwar keine Gedichte, sie sind in einer mathematisch strengen und fehlerfreien Sprache verfasst, aber ihnen wohnt dieselbe Skurrilität und Mystik inne wie in den althergebrachten Prophezeiungen.

Das prinzipielle Problem der Ad-hoc-Hypothesen ist darin zu sehen, dass sie die betreffende Theorie - oder die ganze Wissenschaft - nicht in ihrer axiomatischen Basis, also in ihrem analytischen Kern komplexer machen. Die Theorie wächst nur an ihren Rändern bzw. Grenzen, die dadurch unscharf werden, so dass solche Theorie an alle möglichen empirische Situationen (ex post) leicht angepasst werden kann. Die Regelfälle werden immer mehr zu Ausnahmen und die Ausnahmen immer mehr zum Regelfall. Buchstäblich „widerhallt das Gemurmel der Tatsachen“ in solcher Theorie, so Umberto Eco, mag sie auch noch so befremdlich und aberwitzig sein. Schließlich lohne sich ein „Spiel von Zeichen“ immer, fügt er ironisch hinzu: „Wenn man Zusammenhänge finden will, findet man immer welche, Zusammenhänge zwischen allem und jedem, die Welt explodiert zu einem wirbelnden Netz von Verwandtschaften, in dem alles auf alles verweist und alles alles erklärt“. Deshalb darf die Zahl von Ad-hoc-Hypothesen nicht immer weiter wachsen, sogar wenn sie die logische Konsistenz der Theorie nicht schwächen. Gerade eine solche aufbewahrte formale Korrektheit bei empirischer Beliebigkeit ist das Kennzeichen der degenerierten Theorie und auch der ganzen Wissenschaften. Schließlich ist dann auch unmöglich, sie zu „falsifizieren“. Die Theorie ist gegen jegliche Kritik resistent. Kritik an einer degenerierten Theorie ist daher nur dann nützlich, wenn sie als Inspirationsquelle für originelle neue Gedanken fungieren kann.

Um einen wissenschaftlichen Fortschritt zu erzielen, muss die erschöpfte Theorie schließlich durch eine andere ersetzt werden, die mehr und besser Tatsachen vorhersagen kann. Diese neue Theorie steht auf neuen allgemeinen Grundlagen, also sie hat eine neue axiomatische Basis, die komplexer ist als die vorige. Noch allgemeiner gefasst, eine Wissenschaft muss ihre Komplexität in ihren Grundlagen erhöhen, um wirklich neue Fortschritte, also wissenschaftliche Durchbrüche zu erzielen. Das ist sozusagen die „rein“ theoretische Aufgabe der Wissenschaft und der erste Schritt jeder wissenschaftlich seriösen Forschung. Ist man dabei erfolgreich, entsteht ein neues Paradigma. Dieser Vorgang wird als Paradigmenwechsel bezeichnet. In der Wirtschaftswissenschaft will man davon bis heute nichts wissen. Deshalb ist es angebracht, etwas mehr über die wichtigsten Gründe zu sagen, warum Wissenschaften immer wieder Paradigmenwechsel oder „wissenschaftliche Revolutionen“ - um mit Thomas Kuhn zu sprechen - brauchen.

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Nach einem vollzogenen Paradigmenwechsel erscheint das alte Paradigma, wegen seiner früheren Erfolge, weniger als falsch, sondern eher als unvollständig. Es ist also angebracht zu sagen, dass die alten Paradigmen „nicht überholt worden sind, weil sie falsch waren, sondern weil sich das Denken entwickelt“. Wegen der partiellen Richtigkeit des alten Paradigmas lässt sich ein Paradigmenwechsel als „eine ,Einwicklung‘ des alten Denkens durch das neue“ verstehen. Bei einem Paradigmenwechsel geht es also weniger ums Widerlegen, sondern vielmehr ums Ersetzen. Nicht alles aus dem ersetzten Paradigma wird einfach weggeräumt. Es kommt bei den Wissenschaften eigentlich nur selten vor, dass alle Leistungen einer überholten Theorie für völlig falsch und unbrauchbar erklärt werden. „Zumindest ein Teil dieser Leistungen erweist sich immer als dauerhaft“ - für eine längere Zeit zumindest. Das wird auch bei uns deutlich zum Vorschein kommen, indem wir im Folgenden das partikel-mechanische Modell der neoliberalen Theorie durch das Kreislaufmodell ersetzen. Das neue kreislauftheoretische Modell wird das alte sozusagen nur „einwickeln“. So wird zum Beispiel in dem neuen Modell „die grenznutzentheoretische Tauschwertlehre nicht Gegenstand unserer Kritik sein. ... Diese Tauschlehre ist heute als wissenschaftliches Instrument Allgemeingut.“ Der abnehmende Grenznutzen und die Nutzenmaximierung sind wichtige Erscheinungen der Realität und auch theoretisch sind sie zweifellos von Bedeutung. Falsch ist es jedoch, ausschließlich sie zu berücksichtigen und zu verabsolutieren, um aus ihnen alleine eine komplette Theorie der Marktwirtschaft aufzubauen. Auch die Gültigkeit des sogenannten Sayschen Gesetzes, im Sinne der Identität zwischen den produktiven Kosten (Angebot) und den erzielten Einkünften (Nachfrage) werden wir nirgendwo in Frage stellen. Wir werfen also der neoliberalen Theorie eigentlich vor, wie schon Marx, dass sie die Realität „vulgarisiert“. Präziser ausgedrückt liegt ihr Problem darin, analytisch eng zu sein, um die Funktionsweise der Marktwirtschaft hinreichend vollständig erfassen und erklären zu können. Der bekannte Soziologe und Philosoph Niklas Luhmann (1927-1998) hat das auf eine griffige Formel gebracht: „Nur Komplexität kann Komplexität reduzieren.“ Im Folgenden zeigen wir, dass das kreislauftheoretische Modell komplexer ist, also dass es mit neuen analytischen Möglichkeiten die Marktwirtschaft viel umfangreicher gedanklich erfasst und schließlich auch andere empirisch bzw. praktisch relevante Schlussfolgerungen liefert.

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Es ist in den Theorien nicht nur erlaubt, sondern auch üblich, zuerst einzelne Fälle zu behandeln und daran anschließend die Analyse auf eine höhere verallgemeinernde Ebene zu heben. Es gibt zwei Möglichkeiten bzw. Methoden dies zu tun. Eine haben wir als pars-pro-toto bezeichnet. Hier wird ein Fall, den man für wichtig und repräsentativ hält, einfach verallgemeinert. Abgesehen von speziellen Anwendungsbereichen ist diese Methode unbrauchbar und deshalb auch falsch. Die andere Möglichkeit ist die deduktive Methode. Sie setzt einen analytischen Rahmen (axiomatische Basis), ein System von logischen Relationen und Muster voraus, das nur wenige relevante Faktoren eines Phänomens berücksichtigt, die anderen werden weggelassen oder konstant gehalten (ceteris paribus). In den weiteren Schritten werden diese restlichen Faktoren, so wie es der analytische Rahmen erlaubt, systematisch hinzugefügt. Auch in der kreislauftheoretischen Analyse des Gleichgewichts, die jetzt folgt, gehen wir so vor. Zuerst erörtern wir den Tausch der Konsumgüter. Im darauf folgenden Schritt erweitern wir den Tausch auch auf die Produktion bzw. die Produktionsgüter. Dabei sollen uns Beispiele helfen. Verba docent, exempla trahunt - Worte lehren, Beispiele reißen mit, sagt das lateinische Sprichwort.

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Wir stellen also fest, dass der entstandene Nachfragemangel, wenn sich alle Sektoren an die üblichen betriebswirtschaftlichen Gepflogenheiten halten und ihren eigenen Interessen nachgehen (homo oeconomicus), in der Realität nicht verschwindet. Es handelt sich hier offensichtlich um ein Problem der freien Marktwirtschaft, das aus der ihr eigenen Funktionsweise hervorgeht und als solches dieser Ordnung immanent ist. Wir können also von einem systemimmanenten Nachfragemangel sprechen. Er kann mit dem im vorigen Kapitel behandelten monetären Nachfragemangel nichts zu tun haben, da in unsere Überlegungen und numerischen Beispiele das Geld gar nicht einbezogen wurde. Diesem Nachfragemangel würde eigentlich die Bezeichnung realer Nachfragemangel gut entsprechen, weil sie den Gewohnheiten und dem Sprachgebrauch in der ökonomischen Theorie nahekommt.

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Man kann schon ahnen, dass eine solche voranschreitende, destabilisierende Kettenreaktion mit den immer wiederkehrenden ökonomischen Zyklen der freien Marktwirtschaft direkt zu tun hat. Wir gehen aber nicht sofort zur Analyse der periodischen Krisen der freien Marktwirtschaft über, sondern tun das erst im nächsten Kapitel. Zur Erklärung der Zyklen reicht es nämlich nicht, wenn die Möglichkeit des Nachfragemangels analytisch formuliert und bewiesen ist. Es muss außerdem herausgefunden werden, wie sich die wichtigsten Faktoren und Bedingungen des Gleichgewichts in ihrem Zusammenwirken erfassen lassen, am besten auch quantitativ. Eine solche Erkenntnis wäre dann eine analytische Grundlage für die Erforschung aller dynamischen Prozesse in der Marktwirtschaft. Es ist bekannt, dass sich für die Formulierung von quantitativ bestimmbaren Erkenntnisse in allgemeiner und universaler Form die mathematische Darstellung besonders gut geeignet. Deswegen werden auch wie sie hier benutzen. Sie wird uns ermöglichen, eine allgemeine und universale Bedingung für das makroökonomische Gleichgewicht zu formulieren. Diese drücken wir als Allgemeine Gleichung des Sparens aus. Die genaue mathematische Vorgehensweise steht im Mathematischen Anhang auf der Website, im Folgenden werden wir sie vereinfacht herleiten. Wir werden uns dabei nur auf die Überlegungen stützen, die aus der begonnenen kreislauftheoretischen Analyse und den Beispielen logisch offensichtlich folgen.

Bevor wir dazu übergehen, ist es angebracht - oder gar dringend erforderlich - die gerade erklärte und bewiesene Möglichkeit des Nachfragemangels in den Hauptzügen zusammenzufassen. Dieses Ergebnis noch einmal kompakt und pointiert zu wiederholen ist nicht nur deshalb wichtig, weil die Problematik des Nachfragemangels eine sehr lange und bewegte Vorgeschichte hat. Die analytisch streng hergeleitete und nachgewiesene Möglichkeit des (realen) Nachfragemangels ist nämlich nicht weniger als ein Affront gegen die heutige neoliberale Mainstream-Lehre, die sich so selbstischer in der Gewissheit wiegt, das Nachfrage- und Ungleichgewichtsproblem der Marktwirtschaft aus der Wirtschaftswissenschaft für immer entsorgt zu haben.

Heben wir zuerst ausdrücklich hervor, dass das sogenannte „Gesetz“ von Say, solange es als eine buchhalterische Identität betrachtet wird, in unseren obigen Ausführungen nicht infrage gestellt wurde. Gemessen in Preiseinheiten sind wir nämlich immer stillschweigend davon ausgegangen, dass die Summe der Kosten mit der Summe der Einkünfte immer identisch ist - sowohl bei jedem Unternehmen (mikroökonomisch) als auch in der Wirtschaft als ein Ganzes betrachtet (makroökonomisch). Diese Identität bleibt auch unabhängig davon erhalten, ob für diese beiden Seiten des Gleichgewichts als Recheneinheit bzw. Preiseinheit der relative Wert („numéraire“) oder der nominale Preis in Geldeinheiten angesetzt wird. Die Richtigkeit des Sayschen Gesetzes in diesem Sinne ist gleichermaßen unbestritten wie banal.

Um den bisherigen lang andauernden historischen Streitigkeiten über das Saysche Gesetz angemessene Beachtung zu schenken, soll ausdrücklich noch etwas angesprochen werden, was ebenfalls nicht gegen das Gesetz spricht. Die Kosten für die Herstellung eines Gutes sind selbstverständlich nicht gleich den Einkünften. Sie werden erst dann zu verfügbaren (liquiden) Einkünften, wenn die hergestellten Güter, auf die sich die Kosten beziehen, verkauft wurden. Ein Gut muss aber nicht unbedingt einen Käufer finden, weil oft kein Bedarf nach diesem Gut besteht. Es ist sogar der übliche Fall, dass ein Teil der Unternehmen die Bedürfnisse der potenziellen Kunden falsch einschätzt und folglich nicht alle von ihm bereits produzierten Güter absetzen kann. Solche „Disproportionalitäten“ - wie man sich damals üblicherweise ausdrückte - sind unvermeidlich und werden von niemandem ernsthaft bestritten. Auch von Say und seinen Nachfolgern nicht. Verharmlosen wollten sie sie allerdings schon immer. Das drastisch klingende Wort „Disproportionalitäten“ wurde zuerst durch das Wort „Friktionen“ ersetzt, was die ganze Problematik gefühlsmäßig entschärfen sollte. Später, mit der Annahme der allzeit rationalen Wirtschaftsakteure gelang es, die Disproportionalitäten immer mehr aus der Diskussion zu verdrängen. Das war auch deshalb möglich, weil es irgendwann offensichtlich wurde, dass sich über „Disproportionalitäten“ unendlich lange quasseln lässt, jedoch keinem je gelungen ist, sie als analytisch brauchbaren Begriff zu fassen. Marx ist da das beste Beispiel aus vielen. Deshalb werden auch wir in den folgenden Analysen die Disproportionalitäten weglassen. Das bedeutet keine Leugnung der Tatsache, dass die Wirtschaft unter Disproportionalitäten leiden kann bzw. manchmal von ihnen sehr stark beeinträchtigt wird. Sie sind aber weder für die Erklärung der periodischen Zusammenbrüche der ganzen Wirtschaft noch des allgemeinen Nachfragemangels geeignet. Die Disproportionalitäten sind also nicht entscheidend dafür, wie und wann die Wirtschaft aus dem Gleichgewicht gerät. Auch für die bedrohliche Nachfragelücke sind sie nicht verantwortlich. Deshalb betrachten wir auch weiterhin stillschweigend alle Unternehmen als rationale Wirtschaftsakteure, die exakt das herstellen und anbieten, was die Verbraucher begehren und kaufen wollen.

Last but not least: Die kreislauftheoretisch erklärte und bewiesene Nachfragelücke hat auch mit dem Geld bzw. mit der Geldhortung nichts zu tun. Wir haben zwar das Geld in unserer Analyse gar nicht berücksichtigt, aber die Geldhortung wurde implizit doch vollständig ausgeschlossen. Wir haben nämlich stillschweigend angenommen, dass alle Wirtschaftsakteure bzw. Einkommensbezieher ihre Einkünfte unverzüglich verbrauchen. Das ist im Prinzip dasselbe wie anzunehmen, das Einkommen bzw. das Geld würde nicht gehortet. Auch im Folgenden werden wir es so lassen, was aber nicht bedeutet, dass das Geld unwichtig wäre, im Gegenteil. Es ist tatsächlich sehr wichtig und deshalb widmen wir ihm das ganze letzte Kapitel. Aber auf die Einkommens- bzw. die Geldhortung werden wir auch dort nicht zurückkommen. Der analytisch hergeleitete reale Nachfragemangel und der klassisch-keynesianische monetäre Nachfragemangel haben also nichts gemeinsam. Die analytischen Grundlagen der realen Nachfragetheorie sind völlig andere als die der monetären Nachfragetheorie - die streng genommen gar keine eigene hat.

Was sich über den realen Nachfragemangel rein verbal, also ohne Hilfe der Mathematik und ohne anschauliche Grafiken verständlich genug sagen lässt ist Folgendes: Der Marktwirtschaft systemimmanente Fall des (realen) Nachfragemangels bedeutet, dass die Wirtschaftsakteure bzw. die Einkommensbezieher, nachdem sie alle ihre Einkünfte ausgegeben haben, nicht alle Konsumgüter kaufen können, die bereits produziert und angeboten wurden, obwohl sie dazu die Absicht hatten. Ihre Einkünfte reichen dazu schlicht nicht aus. Die Hersteller der nicht absetzbaren Konsumgüter kaufen und verbrauchen diese nicht selbst. In der Realität tun sie das ohnehin nicht, aber selbst wenn sie es wollten, könnten sie es nicht. Ihnen stehen zum einen keine (liquiden) Nettoeinkünfte dafür zur Verfügung, zum anderen gehört das Einkommen aus den nicht abgesetzten Konsumgütern nicht nur ihnen, sondern anteilig auch den Banken bzw. den Sparern. Dieser ursprünglich systemimmanente Fall des Nachfragemangels führt dann unvermeidlich zum induzierten Nachfragemangel. Die Hersteller der Konsumgüter verzögern und drosseln ihre Nachfrage nach Rohstoffen, Halberzeugnissen und Maschinen - also nach Produktionsgütern -, weil sie ihre Produktion nicht absetzen und die vorgesehenen Einkünfte nicht erzielen können. So entsteht ein Dominoeffekt, also ein allgemeiner Nachfragemangel oder anderes gesagt eine allgemeine Überproduktion oder auch allgemeine Überschwemmung („general glut“).

Nun setzen wir unsere Analyse fort, um die Faktoren und die Bedingungen dieses Stabilitätsproblems der freien Marktwirtschaft genau zu untersuchen. Wir gelangen auf diesem Wege zu der bereits angekündigten Allgemeinen Gleichung des Sparens. Von dieser werden nicht nur die wichtigsten Faktoren des allgemeinen makroökonomischen Gleichgewichts erfasst, sondern auch der quantitative Zusammenhang zwischen ihnen.

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Diese kurze Erörterung der Gleichgewichtsbedingung im Sinne der allgemeinen Gleichung des Sparens lässt uns schlussfolgern: Die freie Marktwirtschaft im Ungleichgewicht ist unter bestimmten Bedingungen durchaus fähig, spontan zum Gleichgewicht zurückzukehren und dann auch im Gleichgewicht zu bleiben. Das ist immer der Fall, wenn der systemimmanente Nachfragemangel einen positiven Wert hat. Wird der Wert aber negativ, aus welchen Gründen auch immer, bricht die Wirtschaft zusammen. Deshalb ist das Gleichgewichts- oder Stabilitätsproblem der freien Marktwirtschaft ein wichtiger - eigentlich der wichtigste Aspekt der ökonomischen Dynamik dieser Wirtschaftsordnung. Dass ihr dieses Problem systemimmanent ist, manifestiert sich in ihren periodischen Konjunktur- oder Krisenzyklen, die es seit dem Entstehen der freien Marktwirtschaft gibt. Ob und wie sich dieses Phänomen mit der allgemeinen Gleichung des Sparens hinreichend erklären lässt, wird sich im nächsten Kapitel zeigen. Diese aus der kreislauftheoretischen Analyse gewonnene Gleichung wird uns helfen, auch die historische Entwicklung der freien Marktwirtschaft besser zu verstehen und noch andere „Paradoxe“ der Funktionsweise der freien Marktwirtschaft zu lösen. In dieser Wechselbeziehung zwischen der inneren Logik der allgemeinen Gleichung des Sparens und den empirischen Tatsachen werden im Sinne der abnehmenden Abstraktion ökonomische Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten im echten wissenschaftlichen Sinne entdeckt. Anders ausgedrückt: Eine von der Ratio entworfene, abstrakte mathematische Formel ermöglicht es uns theoretische Werkzeuge zu entwerfen („entdecken“), die praxistauglich sind. Mit ihnen lassen sich bestimmte empirische Tatsachen vorhersagen bzw. realisieren. Diese letzte Eigenschaft von solchen „Werkzeugen“ ist schließlich von größter praktischer Bedeutung. Es handelt sich um nichts weniger als die Möglichkeit, eine effektive Wirtschaftspolitik gestalten zu können. Man braucht da kaum noch zu bemerken, dass die theoretischen Werkzeuge, also die Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten, die aus der allgemeinen Gleichung des Sparens abgeleitet werden, ganz andere als die neoliberalen sind. Wann und wie sie sich konkret anwenden lassen, wird später, in den Kapiteln 7 und 8 genauer erörtert. An dieser Stelle reicht der Hinweis darauf, dass die allgemeine Gleichung des Sparens und die aus ihr abgeleiteten allgemeinen Erkenntnisse über die ökonomische Dynamik und Stabilität zu den wichtigsten theoretischen Ergebnissen des Kreislaufmodels gehören und damit auch die wichtigen Bausteine der realen Nachfragetheorie darstellen.

 
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  4: Die Eignung der (realen) Nachfragetheorie
zur Erklärung marktwirtschaftlicher Tatsachen
dahin
Teil II  
REGELUNGEN FÜR EINE FUNKTIONIERENDE MARKTORDNUNG  
Aufbau und Inhalt von Teil II   dahin
  5: Die neue Auffassung über die Affekte
als Geburtsort der geregelten Ordnung
dahin
  6: Wie der Mensch nach Smith wirklich ist
und seine Regeln für die Marktwirtschaft
dahin
  7: Die makroökonomischen Regelungen
für eine funktionierende Marktordnung
dahin
  8: Schuldenfreie Nachfrageschaffung
durch demokratische Geldmarktpolitik
dahin
Mathematischer Anhang (auf der Website)     weiter weiter   weiter weiter
Literatur   dahin
Inhaltsverzeichnis   dahin
Bemerkungen und Kommentare zum Buch   dahin
         
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