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Die vormodernen Denker und Philosophen hatten unterschiedliche Auffassungen von einer guten gesellschaftlichen Ordnung, aber eins war ihnen allen gemeinsam. Sie sind immer so vorgegangen, dass sie sich zuerst einen idealen Menschentypus ausgedacht haben, „eine menschliche Natur, die es nirgendwo gibt, … sondern wie sie sie haben möchten“, wie es ihnen Spinoza immer wieder vorgeworfen hat; darauf aufbauend wollten sie eine gute Ordnung mit Sanktionen und Umerziehung realisieren. Der „ideale Staat“ von Platon - mit seinen brutalen Absichten - steht beispielhaft dafür. Den Denkern und Philosophen am Anfang der Moderne, denen sich auch Smith angeschlossen hat, ist eine prinzipiell andere ordnungstheoretische Vorgehensweise. Nicht von einem wünschenswerten Endzustand gingen sie aus, sondern zuerst einmal wollten sie wissen, wie der Mensch „wirklich ist“. Dieser wurde zur theoretischen Grundlage für alle weiteren Überlegungen, auch für ihre ordnungstheoretischen Zielvorstellungen. Ein solcher ordnungstheoretischer Ansatz konnte sich nur dank des angelsächsischen empirischen Rationalismus entwickeln. So hat Smith als Vertreter dieses neuen Rationalismus durch Beobachtung der Tatsachen des menschlichen Verhaltens festgestellt, dass der wirkliche Mensch ein beschränkt rationales und beschränkt moralisches Wesen ist, der als solcher sich nicht zu einer idealen Person umgestalten lässt. Eine erfolgreiche Wirtschaft ist damit nur auf der Grundlage der ergebnisorientierten bzw. nachfrageseitigen Gerechtigkeit möglich.
Wie genial und weitsichtig diese Idee von Smith war, hat das Scheitern der sozialistischen und kommunistischen Wirtschaften später bestätigt. Diese beruhten auf der Annahme von einem „bewussten“, also einem im Grunde guten Menschen, der fair und gewissenhaft mit allen kooperieren könnte und wollte, aber erst nach der „Aufhebung des Privateigentums“ und dem „Absterben des Staates“. Das ist durch manche Revolution gelungen und zuerst schien es, diese Annahme wäre richtig. Die sozialistischen und kommunistischen Wirtschaften waren am Anfang erstaunlich erfolgreich, solange den Menschen der Horror der kapitalistischen Unterdrückung, Erniedrigung und Ausbeutung im Nacken saß. Aber so wie die Erinnerung daran allmählich verblasste und in der Partei die Revolutionäre von den Opportunisten und Karrieristen verdrängt wurden, haben die Voreingenommenheit, Überschätzung und der Selbstbetrug die Menschen immer mehr zu egoistischen und asozialen Verhaltensweisen angespornt. Zur erhofften Herausbildung eines neuen „sozialistischen Menschen“ - zum „dialektischen Umschlag“ im Bewusstsein - kam es nie, stattdessen haben immer mehr Menschen versucht, ihre eigenen Leistungen für die Gesellschaft soweit es ging nur vorzugaukeln, um für sich so viele Vorzüge und Einkommen wie möglich herauszuholen. Und wo immer sich eine Gelegenheit bot, wurden sie auch zu den Trittbrettfahrern. Dieser sozusagen negative Wettbewerb hat dann die zunächst sehr erfolgreichen Wirtschaften schließlich ruiniert. Die marktwirtschaftliche Ordnung von Smith aber, die mit Regeln funktioniert, ist dagegen für ein soziales Leben von Menschen gedacht, die nicht zu ihrem angeblich ursprünglich guten Wesen zurückkehren, sondern nie anders als beschränkt rationale und beschränkt moralische Wesen bleiben. Mit den Regeln, die er dann für die Marktwirtschaft vorgesehen hat, entstand tatsächlich eine ökonomische Ordnung, die sich in der Praxis als fähig erwiesen hat, den Wohlstand der Nationen durch die steigende „Zunahme in der Ertragskraft der Arbeit“ langfristig immer weiter zu vermehren. Über den Daumen geschätzt verdoppelte sich die Produktivität in der Marktwirtschaft innerhalb der Spanne eines Arbeitslebens (also ca. 4 Jahrzehnte). Das ist keiner anderen Wirtschaftsordnung davor und danach gelungen. Schon damit hat Smith seinen baldigen Ruhm als großer Ökonom und Wissenschaftler ausreichend gerechtfertigt.
Für eine nachhaltige Vollbeschäftigung und Steigerung des Wohlstandes für alle würde die von Smith erdachte Marktwirtschaft von selbst sorgen, wenn man Geldleihe und Zinsen zulässt. Der gierige Mensch würde nämlich immer bereit sein Geld zu sparen und auch noch auszuleihen, wenn ihm das ohne irgendwelche Leistung noch mehr Geld (Zinsen) einbringen würde. Aus den Ersparnissen würden neue Investitionen fortdauernd geschaffen (Stellwert), diese würden spontan die Nachfrage nach Arbeitskräften erhöhen, die Löhne würden anziehen und irgendwann würde die ganze Wirtschaft einen ziemlich stabilen „stationären Zustand“ (Mill) mit Wohlstand für alle erreichen. Hiermit hat sich Smith aber getäuscht. Nicht erfüllt haben sich auch seine Erwartungen, dass mit den von ihm vorgesehenen Regeln allein und deren konsequenter Einhaltung die marktwirtschaftliche Ordnung dauerhaft stabil funktionieren würde. Die Erfahrung hat sehr bald nach seinem Tod eindeutig gezeigt, dass die freie Marktwirtschaft periodisch zusammenbricht. Das ist ein typisches Verhalten schlecht geregelter Prozesse und Systeme, sowohl in der Technik als auch in der lebenden Natur. Auch die freie Marktwirtschaft ist offensichtlich ein solches System. Trotzdem wäre es nicht fair gegenüber Smith, der so viel in der ökonomischen Theorie erreicht hat, ihm dies sehr zu verübeln. Hier war er nur ein Kind seiner Zeit. Erinnern wir uns nur daran, dass es plötzliche Zusammenbrüche in den vorkapitalistischen Wirtschaften ohne Kriege, Dürren oder andere Katastrophen nicht gab. Es wäre also zu viel von Smith zu erwarten, er hätte sich für die Marktwirtschaft eine solche Möglichkeit vorstellen können oder müssen. Einer, der eine voll realisierte Marktwirtschaft gar nicht mehr erlebt hat, konnte noch weniger ahnen, dass so etwas wie Überproduktion bzw. Nachfragemangel in einer Wirtschaft überhaupt möglich wäre. Außerdem lässt sich der Nachfragemangel ohne Mathematik theoretisch schlecht bzw. nicht analytisch streng argumentieren und verstehen, mit der Smith aber nichts zu tun haben wollte. Smith konnte also wirklich nicht in den Sinn kommen, dass die freie Marktwirtschaft nicht stabil funktionieren könnte, deshalb erschien es ihm als selbstverständlich und unbedenklich, dass sie stabil funktionieren müsste.
Etwa drei Jahrzehnte nach der Großen Depression und dem darauf folgenden Weltkrieg schien es aber, als sei der Kapitalismus - wenn auch mit der Hilfe des Staates - doch imstande, Wohlstand für alle zu schaffen. Heute wissen wir, dass diese kurze Periode des Kapitalismus mit menschlichem Antlitz allein dem Kommunismus zu verdanken war, als er sich wie ein Lauffeuer über den Planeten verbreitete. Die Machteliten der schnell schrumpfenden „freien Welt“ waren von Angst traumatisiert. Um die eigene Haut zu retten, haben sie sich eine moralisch ansprechende Maske aufgesetzt und sich mit den Versprechen und Werten des ursprünglichen Liberalismus, vor allem mit dem Wohlstand für alle, einverstanden erklärt. Wie paradox es auch klingen mag, der wahre Gewinner des Kommunismus war die westliche Arbeiterklasse und dies auch noch ohne irgendwelche eigene Verdienste. Diese Bescherung konnte schließlich nur so lange dauern, bis die kommunistische Gefahr vorbei war. Dann setzten die alten Machteliten unverzüglich den Klassenkampf in aller Entschiedenheit, Heftigkeit und Rücksichtslosigkeit fort. Als der Kapitalismus wieder richtig in die Freiheit entlassen wurde, hat sich sehr bald bestätigt, dass die Vorstellung von seiner ruhigen evolutiven Fortentwicklung mit dem Wohlstand für alle völlig illusionär und utopisch ist.
Smith als unbestrittener Vordenker der Marktwirtschaft war mit seiner Vision zwar noch weit von einem vollständigen wissenschaftlichen Paradigma entfernt, seine Lehre hatte aber einen ausreichend klaren gedanklichen und logischen Umfang und Rahmen. Als solche konnte sie bestimmte praktische Probleme der freien Marktwirtschaft, die sie nicht einmal formulieren konnte, auch nicht lösen. Das ist der eigentliche Grund, warum sich Smith das Problem der Stabilität bzw. des Nachfragemangels nicht denken konnte aber auch warum man ihm dieses Versäumnis wirklich nicht richtig übel nehmen soll. Etwas anderes ist es aber, wenn es um Probleme geht, die er mit seiner Denkweise zu seinen Lebzeiten hätte erkennen können, es jedoch versäumt hat. Es gibt ein solches Problem bei Smith bzw. in seiner Vision der Marktwirtschaft, das sogar besonders gravierend ist.
Smith hielt bekanntlich die Arbeitsteilung für die wichtigste treibende Kraft der ökonomischen Entwicklung, doch ihre eigentlich nicht schwer nachvollziehbaren Konsequenzen hat er dennoch nicht berücksichtigt. Wenn sich nämlich die Unternehmen immer mehr spezialisieren und als solche schließlich je nur ein Teilprodukt herstellen, ändert sich die Konstellation des Marktes wesentlich. Hatten früher zum Beispiel die Bauern die im Wesentlichen gleichen Kartoffeln und Hühner produziert, die Konkurrenz konnte zahlenmäßig enorm sein, so verhält es sich bei der modernen Massenproduktion von diversifizierten Einzelteilen ganz anders. Für die Güter, die eine sehr spezifische Anwendung haben, benötigt man eine teure spezialisierte Produktionsausrüstung und Mannschaft, so dass die Zahl der Anbieter von solchen Gütern nur relativ klein sein kann. Das beschränkt den Raum für eine ernsthafte (atomistische) Konkurrenz sehr. Um Risiken zu minimieren, arbeiten die Hersteller solcher Teilprodukte folglich immer enger zusammen, womit immer größere Markteinheiten entstehen. Auf einem solchen Markt konkurrieren nicht mehr viele Anbieter gegeneinander. Und dort, wo die Konkurrenz schwindet, wächst die Marktmacht der Anbieter. Schließlich entwickelt sich der kapitalistische Markt immer mehr zu einem von Konzernen und Monopolen dominierten Markt. Wir haben schon erwähnt, dass Marx der erste war, dem diese zwingende Folge der fortschreitenden Arbeitsteilung klar wurde. Er leitete daraus seine berühmten „Tendenzen“ der historischen Entwicklung der Produktivkräfte ab, die ihn zu so etwas wie einem Propheten der historischen Entwicklung des Kapitalismus gemacht haben. Wir erörtern jetzt nur die wichtigsten zwei. Erwähnenswert sind diese Folgen der fortschreitenden Arbeitsteilung nicht nur deshalb, weil sie wieder hochaktuell sind, sondern weil die selbsternannten Nachfolger von Smith sie bis heute schlicht übersehen - oder nicht sehen wollen und sie leugnen.
1: Die immer größeren Unternehmen nutzen ihre ökonomische Macht aus, um den Staat zu erpressen und zu korrumpieren, damit er zum Diener ihrer partiellen Interessen wird. Das war schon klar ersichtlich, als Marx in der Mitte des 19. Jahrhunderts seine Kritik des Kapitalismus verfasst hat. Im Interesse der Konzerne und Monopole führte der kapitalistische Staat in der Tat schon sehr früh imperialistische Kriege für Märkte und Ressourcen, schützte mit starken Heeren und Flotten seine Investitionen im Ausland, verhängte Sanktionen gegen schwächere Staaten, damit sie „ihre Märkte öffnen“, also sich ökonomisch und sozial ausliefern, deindustrialisierte dann ihre Volkswirtschaften und drängte ihnen die eigene Währung auf, um sie in die Schuldknechtschaft zu treiben. Wir sehen heute wie das globale Kapital das Völkerrecht und internationale Vereinbarungen mit Füßen tritt und die Beseitigung von „unbelehrbaren“, obwohl rechtmäßigen oder sogar demokratisch gewählten Regierungen („regime change“) organisiert. Frei konstruierte Verleumdungen und Schmähungen („fakes“) wurden dabei als Mittel zum Zweck jederzeit Recht und ohne moralische Skrupel wurden auch radikale Gruppierungen und verbrecherische Cliquen unterstützt, finanziert und ausgerüstet. Auf der globalen Ebene war der Kapitalismus von Anfang an ein rücksichtsloser, verbrecherischer und blutrünstiger Imperialismus, wie ihn die Geschichte davor nie kannte. Im Inneren erließ der kapitalistische Staat Vorschriften und Gesetze gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung, stellte mit der Polizei „Ruhe und Ordnung“ her und schlug Streiks und Revolutionen nieder. Seitdem der Kommunismus als Konkurrent weggefallen ist, führt er permanent „Reformen“ zur Entrechtung, Unterdrückung und Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung durch, begleitet von dreistem und zynischem Missbrauch der Gesetzgebung und der Rechtsprechung. Das ist der wahre so genannte „Minimalstaat“, den die kapitalistischen Theoretiker lobpreisen, ein Staat, der immer genau in den Bereichen stark war und ist, in denen er im Interesse des realen und monetären Kapitals stark sein muss und soll. Die „eiserne Faust“ des Staates ist die wahre Gestalt der sogenannten „unsichtbaren Hand“ des Marktes im real existierenden Kapitalismus.
2: Die Arbeitsteilung führt zur Monopolisierung der Wirtschaft, wobei die kleinen Unternehmen den Interessen der Monopole untergeordnet oder einfach von den Monopolen geschluckt werden. Das verkündete Marx als „Tendenz der kapitalistischen Entwicklung“ schon am Ende des ersten Bandes von Das Kapital (1867): „Je ein Kapitalist schlägt viele tot. ... Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung ... Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt.“ Marx hat hier etwas vorhergesagt, was gerade vor unseren Augen abläuft: die Zersetzung und das Verschwinden der Mittelschichten. Mit Erstaunen und Verlegenheit merken auch diesbezüglich manche Ökonomen und kritische Zeitgenossen an, dass Marx eigentlich für das 21. Jahrhundert geschrieben hat. Das ist allerdings nicht ganz richtig. Marx sprach nämlich immer von einem „tendenziellen“ Verschwinden der Mittelschichten, tatsächlich schrumpfen die Mittelschichten periodisch. Hier konnte Marx nicht zu einer richtigen Einschätzung kommen, weil in seiner Analyse der Kapitalakkumulation die periodischen Krisen nicht erklärbar sind. Er war da ein typischer angebotsorientierter Gleichgewichtstheoretiker. Die Agonie der Mittelschichten beginnt eigentlich nach dem periodischen Zusammenbruch der Wirtschaft. Die ausgebrochene Krise und die folgende Stagnation schaden zwar allen sozialen Schichten - auch bei den Reichsten gibt es Verlierer - aber die Mittelschichten verlieren am meisten. Man erinnert sich an die Worte von Karl-Hermann Flach (1929-1973), des ehemaligen Bundesgeschäftsführers und Generalsekretärs der deutschen Liberalen (FDP) über die Folgen der Großen Depression: „Die Mehrheit jener bedauernswerten und völlig unfreien Menschen, die um Sozialfürsorge nachsuchen müssen, sind ja nicht ehemalige Arbeiter und Angestellte, sondern ehemalige Selbständige, die dem altliberalen Ideal vom freien Mann im eigenen Betrieb huldigten.“ Die Mittelschichten sind nämlich immer nur ein „beherrschter Teil der Herrschenden“, um mit Bourdieu zu sprechen, um die sich der Staat nicht kümmert - mehr dazu im Kapitel 8. Geht die ökonomische Krise zu Ende, erholen sich auch die Mittelschichten und beginnen zu expandieren. Das ist folgerichtig und leicht verständlich. Durch innere politische Umwälzungen, Rebellionen und Kriege ändert sich die Gesellschaft während der Krise deutlich. Die Rechte der Konzerne, Kartelle, Banken und Börsen werden beschnitten und die aus ihren Reihen erwachsene Herrschaftsclique wesentlich entmachtet. Die Bürger, die gute Karten in die Hand bekommen haben und auch noch gewisse Talente und die nötigen Ambitionen besitzen, können zur Mittelschicht aufsteigen - wenige sogar darüber hinaus. So schrieb schon der verwunderte Engels in einem Brief an Marx (1858), dass „das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert, so dass diese bürgerlichste aller Nationen es schließlich dahin bringen zu wollen scheint, eine bürgerliche Aristokratie und ein bürgerliches Proletariat neben der Bourgeoisie zu besitzen.“ Diese soziale Mobilität ist der übliche Zustand während des Aufschwungs. Wegen der kommunistischen Bedrohung hielt der Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg ungewöhnlich lange an, was vor allem die Mittelschichten missverstanden haben und gerade sie wurden zu den fanatischsten Anhängern des Kapitalismus. Als die kommunistische Bedrohung dann endgültig verschwand (1989), konnten sie sich für eine Zeit lang noch retten, indem sie mit den neoliberalen „Reformen“ die unteren Schichten drangsaliert und ökonomisch ausgeblutet haben, vor allem durch sozialdemokratische Parteien bzw. von ihnen gebildete Regierungen. Es wurde oft zu Recht bemerkt, die brutalen neoliberalen „Reformen“ hätten nur sozialdemokratische Parteien durchsetzen können, weil sie sich auf eine Vergangenheit mit langen Kämpfen für die Rechte der Arbeiterschichten berufen konnten und damit unverdächtig waren, im Interesse des Kapitals zu handeln. Dieses Vertrauen haben sie schließlich schamlos und dreist missbraucht und ihre Vergangenheit verraten. Aber nach der Krise 2008 ließ sich die Agonie derMittelschichten nicht mehr auf Kosten der Unterschichten verhindern. Es wird immer deutlicher, dass die neoliberalen „Reformen“ nicht nur dazu dienten, die unteren Schichten zu drangsalieren und ökonomisch auszubluten, sondern sie waren zugleich eine Falltür für die Mittelschichten. Erstaunlicherweise sind die Mittelschichten am stärksten gerade in dem Land betroffen, das als vorbildlich für die soziale Durchlässigkeit der liberalen Ordnung galt, nämlich in den USA. Dieses Land tut sich nicht mehr durch die unbegrenzten Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs hervor, so dass man angeblich durch eigene Leistung „vom Tellerwäscher zum Millionär“ werden kann, sondern durch das Leiden und die Erosion seiner „middle class“. Die amerikanische Selbstmordrate ist zehn Mal höher als die europäische und japanische. Ein weiteres Zeichen der tiefen Pathologisierung der sozial zwiegespaltenen Gesellschaft ist die zunehmende Drogensucht, die in immer größerer Zahl zum Tod durch Überdosis führt. Seit dem Jahr 2011 übersteigt die Zahl der Drogentoten die der Todesfälle durch Suizide, Tötungsdelikte oder Verkehrsunfälle. Man spricht schon von der „neuen Pest“ in den USA. Schwer begreifbar ist es nicht, dass der Tod durch Drogenkonsum oder Selbstmord für den Abstieg der Mittelschichten charakteristisch sind. Emporkömmlinge sind bekanntlich Workaholics und Streber. Der enorme Druck, der auf dem Einzelnen durch die ständige Selbstvermarktung und bedingungslose Orientierung auf Erfolg bzw. Reichtum, sowie der unvermeidliche Opportunismus und Konformismus dabei, lassen sich längerfristig nur mit Drogen, insbesondere Opioiden und Schmerzmitteln aufrechterhalten, und erst recht ist nur so ein jederzeit mögliches Scheitern zu verkraften. In keiner sozialen Schicht wimmelt es so sehr von „außengeleiteten Menschen“ (David Riesman) wie in den Mittelschichten.
Wohin die heutige Agonie der Mittelschichten führt, wissen wir noch nicht. Während der Großen Depression erwartete die westliche Mittelschicht die Rettung vom Faschismus, der einen totalitären Liberalismus predigte. In den schon erwähnten Reden von Mussolini wird das mehr als offensichtlich. Es waren auch in Deutschland die Mittelschichten, die Hitler den Weg zur Macht ebneten. Im Gegensatz zur populären Vorstellung - die von den Machteliten der Bevölkerung mit allen Mitteln aufgedrängt wird - war der klassische Faschismus alles andere als eine irrationale Stimmung des gemeinen Volkes, sondern eindeutig und zweifellos ein „Extremismus der Mitte“ (Seymour M. Lipset). Einschlägige Daten aus einer ganzen Reihe von Ländern zeigen eindeutig, dass der damalige Faschismus vor allem den bürgerlichen Parteien die Wähler abgeworben hat. Wohin der „freie Weg für die elementaren Kräfte der Individuen“ (Mussolini) schließlich geführt hat, ist bekannt. Als eine gewisse Rechtfertigung dafür konnte damals den Mittelschichten die kommunistische Gefahr dienen. Heute ist das nicht der Fall, deshalb sollten sich die Mittelschichten es besser überlegen. Es wird keinen Frieden auf der Erde geben - hat übrigens schon Platon festgestellt -, ja vielleicht wird die Menschheit gar nicht überleben können, wenn nicht endlich aufgehört wird, für einen kleinen Teil der Menschheit, nämlich diejenigen, die sich selbst zu den Eliten und den Leistungsträgern zählen, den Himmel auf Erden zu schaffen, aber den anderen die Hölle immer heißer zu machen. Deshalb war es ein fatales Versäumnis und ein entscheidender Fehler der heutigen Mittelschichten - und der sozialdemokratischen Parteien -, dass sie aus der früheren Erfahrung gar nichts gelernt und die zahlreichen späteren Mahnungen nicht ernst genommen haben, wie etwa die des damaligen Generalsekretärs der deutschen Liberalen Flach: „Die Befreiung des Liberalismus aus seiner Klassengebundenheit und damit vom Kapitalismus ist daher die Voraussetzung seiner Zukunft.“ Das wäre nichts anderes als die richtig verstandene Botschaft des Wealth of Nations.
Wegen der dringlichen Aktualität der sich immer mehr beschleunigenden Zersetzung der Mittelschichten und des blinden Drangs gerade dieser Mittelschichten genau das zu tun, was ihnen selbst schadet, soll noch etwas dazu beigefügt werden. Vor dem Hintergrund der beschränkt rationalen und beschränkt moralischen menschlichen Natur ist es gar nicht schwierig zu verstehen, dass die Mittelklässler und die Emporkömmlinge unter ihnen insbesondere immer „gegen die Thatsache verblendet werden, dass die Mängel der arbeitenden Klassen die Mängel von Naturen wie ihre eigenen, aber nur anderen Bedingungen unterworfen sind“. Das sind die uralten und ewigen Klassenvorurteile, vor denen sogar der größte Prophet des Fortschritts durch Rücksichtslosigkeit, HerbertSpencer, klar und nachdrücklich gewarnt hat. Die Vervollkommnung der menschlichen Rasse und der „sociale Fortschritt“, so seine Feststellung, würde nicht durch einen uneingeschränkten Egoismus der Höhergestellten stattfinden. „Ein vernünftiger Egoismus ... ist nur mit einer weniger egoistischen Natur vereinbar“, so Spencer wörtlich, und er ließ sogar verkünden, dass „sich die leitenden Klassen der Zukunft vielleicht bei verminderter Macht vermehrten Glückes erfreuen werden“. Es wäre also für sie nur von Vorteil, wenn Reichtum und Macht in der Gesellschaft gleichmäßiger verteilt wären. Smith wäre hier durchaus mit ihm einverstanden. Wenn also die selbstherrlich gewordenen Mittelklässler unserer Zeit Smith und den großen Denkern der frühen Moderne und der Aufklärung nicht mehr über den Weg trauen, sollten sie zumindest auf Spencer hören. Auch die Menschen von Bildung und Geist, die sogenannten „Intellektuellen“, sollten begreifen, dass sie sich nicht mit der heutigen Machtelite identifizieren sollten. Der angebliche Aufstieg durch Bildung und Ausbildung war immer nur eine neoliberale Masche. Mit dem privat investierten Geld für die eigene Bildung und Ausbildung ist die Chance zum Aufstieg ganz nach oben weniger wahrscheinlich, als wenn man das gleiche Geld ins Lotto „investieren“ würde. Vor allem die gut Ausgebildeten in den Sozialwissenschaften sollten begreifen, was in der neoliberalen kleptokratischen Ordnung ihre Rolle sein könnte und müsste. Wenn die Reichen (fast) keine Steuern zahlen müssen und nach eigener Vorstellung das politische, kulturelle und überhaupt öffentliche Leben finanzieren und gestalten, dann können sie die „Intelligenzija“ nur als ihre geistige Söldnertruppe gebrauchen und dulden. Das würde für die Intellektuellen bedeuten, sich selbst aufzugeben und ihr eigenes Gewissen zu verraten. Sehr hilfreich für die gut Ausgebildeten in den Sozialwissenschaften heute wäre es, aus ihrer historischen Amnesie zu erwachen und sich daran zu erinnern, dass sie nicht schon immer so opportun und karrieregeil waren, wie sie es in den letzten Jahrzehnten geworden sind. „Es gibt wohl keinen englischen Nationalökonomen von Ruf, der sich an einem allgemeinen Angriff gegen das Prinzip des Sozialismus beteiligen würde“, so Keynes in einem Aufsatz, dessen Titel ausgesprochen gut zu unserer Zeit passt: Das Ende des Laissez-Faire. In Deutschland, als es auf dem Wege war, aus seiner feudalen Rückständigkeit die englische Wirtschaft einzuholen und zu überholen, wurde der Sozialismus sogar an den Universitäten gelehrt. Die Bezeichnung, die die Professoren (u.a. Schmoller, Brentano, Wagner, Knapp ...) dafür bekamen, nämlich „Katheder-Sozialisten“ spricht für sich. Welchen deutschen Studenten würde das heute nicht in Erstaunen versetzen und wie viele würden dies ohne weiteres glauben wollen? Man erinnert sich da wieder an die Worte des großen Soziologen Durkheim, wonach in einer moralisch degenerierten Gesellschaft auch die Erziehung degeneriert und die Lehrer menschlich nicht weniger tief fallen als alle anderen.
Smith hatte vor, irgendwann „in einer weiteren Abhandlung … eine Darstellung der allgemeinen Prinzipien des Rechts und der Regierung zu geben … in den verschiedenen Zeitaltern und Entwicklungsabschnitten der Gesellschaft“. Das wäre eine Theorie der politischen und gesellschaftlichen Ordnung gewesen. Er kam aber nie dazu. Er ließ auch alle seine Notizen dazu vor seinem Tod verbrennen, woraus sich ahnen lässt, dass er nicht weit gekommen ist. Das ist aber leicht verständlich. Wir haben gesehen, wie lang der Weg war, um den Unterschied zwischen gesteuerten und geregelten Prozessen zu erkennen und systematisch herauszuarbeiten und zudem welche Entwicklung der modernen Wissenschaften nötig war, damit die Kybernetik, also „die Theorie der Kommunikation und der Steuerungs- und Regelungsvorgänge bei Maschinen und lebenden Organismen“ entstehen konnte. Erst dieser Erkenntnisstand macht es möglich, in der Konzeption der Marktwirtschaft eine geregelte Ordnung richtig zu erkennen und Smith als denjenigen zu würdigen, der herausgefunden hat, wie sich ein ökonomisches Subsystem praktisch regeln lässt. Das bringt uns schnell auf den Gedanken, dass es auch möglich sein müsste, andere Prozesse in der Gesellschaft zu regeln, insbesondere die der politischen Willensbildung bzw. der Demokratie. Ob das zutrifft, lässt sich erst nach einer eingehenden Untersuchung beantworten. In den nächsten beiden Kapiteln werden wir uns aber nur auf Vorschläge für die Regelungen in der Marktwirtschaft beschränken, zuerst für den realen ökonomischen Bereich (Kapitel 7) und dann für den monetären (Kapitel 8).
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